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Kindergeld-Debatte Und wieder werden Sinti und Roma kollektiv zu Tätern gemacht

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In der aktuellen Debatte werden Sinti*ze und Rom*nija in eine Kollektiv-Verantwortung genommen. (Quelle: KA)

 

 

Derzeit wird hierzulande über das Auslands-Kindergeld gestritten. Einige Politiker*innen wittern nämlich Sozialbetrug. Losgetreten wurde diese bundesweite Debatte durch den Duisburger Oberbürgermeisters Sören Link (SPD), der auf dem Deutschen Städtetag den Missbrauch der Sozialsysteme scharf kritisierte. Er prangerte kriminelle Netzwerke und Schlepper*innen an, Sinti*ze und Rom*nija in die Städte zu bringen, um hier Kindergeld und Harz IV zu beziehen, obwohl die Kinder weiterhin im Ausland leben. Weitere Bürgermeister*innen, meist aus Nordrhein-Westfalen, sprangen ihm bei.

Und tatsächlich bekommen immer mehr Familien für ihre im Ausland lebenden Kinder monatlich Geld. „Im Juni 2018 wurde für 268.336 Kinder, die außerhalb von Deutschland in der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben, Kindergeld gezahlt“, gab ein Sprecher von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) Anfang des Monats an. Ende 2017 lag die Zahl bei 243.234 Empfänger*innen, 2016 bei 232.189. Vor allem die Zahl der Empfänger*innen aus Osteuropa habe zugenommen. In diesen Zahlen sind jedoch auch rund 31.000 deutsche Staatsbürger*innen aufgeführt, denen das Kindergeld auf ausländische Konten überwiesen wird.

Doch schnell war von „Betrügern“ und „Armutsflüchtlingen“ die Rede, die, so das Narrativ, überwiegend Sinti*ze und Rom*nija seien. Es folgte die Forderung mehrerer Politiker*innen nach Kürzungen des Kindergelds für nicht-deutsche EU-Bürger*innen. Schaut man sich jedoch an, wie derzeit händeringend nach billigen Pflegekräften, Arbeiter*innen in der Bauwirtschaft oder Erntehelfer*innen gesucht wird, scheint das Wohlstandsgefälle hier kein Problem darzustellen – geht es hingegen um Sozialleistungen, tobt das bundesdeutsche Gemüt und wittert sogleich Betrug. Zudem kommt die Zunahme der Kindergeld-Empfänger*innen für den Nachwuchs im EU-Ausland nicht unerwartet. Dank des wirtschaftlichen Booms den wir seit geraumer Zeit in Deutschland erleben, ist schließlich auch die Nachfrage nach günstiger Arbeitskraft aus dem EU-Ausland gestiegen. Doch darum ging es den Bürgermeister*innen eigentlich gar nicht. Ihnen geht es um Betrug. Das eine hat mit dem anderen zwar nichts zu tun, werden in dieser Debatte jedoch nicht immer auseinander gehalten.

 

Hier werden diskriminierende Stereotype bedient

Sören Link sprach von organisierten, kriminellen Banden, die „im großen Stil EU-Ausländer mit fingierten Geburts- und Schulbescheinigungen“ versorgen, um in Deutschland Kindergeld abschöpfen zu können. Es ging ihm um den massenhaften Sozialbetrug durch Osteuropäer*innen. Soweit so gut und natürlich ein berechtigtes Anliegen der Bürgermeister*innen, die tatsächlich in ihren Städten mit diesem Problem konfrontiert sind. Allerdings verengt Link, sowie die anhaltende Debatte, die Kriminalisierung auf eine bestimmte, eigentlich besonders schutzbedürftige Minderheit. Und dabei  bedienen viele das uralte antiziganistische Narrativ, der angeblich stehlenden Sinti*ze und Rom*nija.

Von den Sinti*ze und Rom*nija behauptet Link, fühlten sich die Nachbarn „nachhaltig gestört.“ Kriminelle Schlepper*innen würden gezielt Sinti*ze und Rom*nija nach Duisburg bringen – obwohl Sinti*ze seit über 600 Jahren im deutschen Sprachraum nicht aber in Bulgarien und Rumänien leben. Häufig würden Sinti*ze und Rom*nija in Deutschland dann in heruntergekommenen Wohnungen, sogenannten Problemimmobilien, zu horrenden Preisen untergebracht, damit sie einen Wohnsitz zum Bezug des Kindergelds hätten. „Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen“, behauptet Link.

 

Sinti- und Roma-Feindlichkeit sind gesellschaftlich tief verankert

Mit seiner Aussage, Sinti*ze und Rom*nija seien für ein „Rattenproblem“ verantwortlich, verbindet Link eine gesamte Minderheit mit dem Vorwurf, für eine Art Plage verantwortlich zu sein. Das weckt böse Erinnerungen an den Umgang der Deutschen mit Jüdinnen und Juden – vom Mittelalter angefangen, bis hin zum schrecklichen Höhepunkt im Holocaust. „Menschen über Abfall und Ratten zu charakterisieren, gehört zu den wirksamsten rhetorischen Mitteln, um sie zum Ziel von Herabsetzung und von körperlicher und psychischer Gewalt zu machen“, kritisierten etwa die Mitarbeiter*innen des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung die herabsetzende und antiziganistische Sprache des Bürgermeisters. Link, aber auch viele Medien, machen Sinti*ze und Rom*nija zur alleinigen Ursache eines Problems. „Dies steht in der Tradition der Herstellung von Sündenböcken und birgt, gerade jetzt, die Gefahr von Gewalt gegen Sinti und Roma in Deutschland“, bedauert Romani Rose, Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.  Link schürt mit seinen herabwürdigenden Äußerungen eine tiefsitzende Ablehnung gegen Sinti*ze und Rom*nija. So hatten 2016 in der Mitte Studie 57 Prozent der Befragten angegeben, sie würden ein Problem damit haben, wenn sich Sinti*ze und Rom*nija in ihrer Nachbarschaft aufhalten würden, 50 Prozent gaben an, man solle sie aus den Innenstädten verbannen und 58 Prozent glaubten, Sinti*ze und Rom*nija neigten zur Kriminalität.

 

Sinti*ze und Rom*nija werden viel zu häufig in eine Kollektiv-Verantwortung genommen

Auch angesichts dessen zeigt sich der Sinto Romeo Franz, der für die Grünen im Europaparlament sitzt, gegenüber Belltower.News erschüttert über die Aussagen Links und bezeichnet sie als diskriminierend, rassistisch und antiziganistisch. „Sören Link erweckt mit seinen unqualifizierten Aussagen den Eindruck, Sinti*ze und Rom*nija würden per se Sozialbetrug begehen.“ Natürlich gibt es in jeder Ethnie Menschen die kriminell sind. Doch das sind jeweils individuelle Entscheidungen, die ein Mensch trifft. Kriminalität kann man nicht an einer Ethnie ausmachen. In der aktuellen Debatte werden Sinti*ze und Rom*nija jedoch in eine Kollektiv-Verantwortung genommen. „Link missbrauche hier eine kleine Minderheit zur Stimmungsmache, das ist reiner Rassismus und Rechtspopulismus“, so Romeo Franz. „Ich vermute, dass Sören Links Weltbild sehr antiziganistisch ist und er gar kein echtes Interesse daran hat, hier eine Lösung zu finden. Sein Interesse ist diese Menschen zu marginalisieren, zu kriminalisieren und sie einfach loszuwerden.“

Franz kommt gerade von einem Besuch aus Rumänien zurück und zeigt sich immer noch erschüttert über die Lebenswirklichkeit vieler Rom*nija dort. Er berichtet von Kindern und Erwachsenen, die unter absolut katastrophalen Umständen leben. Selbst ein Leben auf der Straße  in Deutschland, wäre für sie eine deutliche Verbesserung der Lebensumstände, so der Europapolitiker.

 

Opfer-Täter-Umkehr

Und so gibt es in Deutschland tatsächlich viele Familien aus Rumänien und Bulgarien, die Opfer krimineller Banden sind, deren Hintermänner häufig deutsche Staatsbürger*innen sind. Beispiele aus Bremerhaven oder Plauen zeigen, dass die systematische Ausbeutung dieser Familien – von Wuchermieten über Scheinarbeitsverträge, sexueller Ausbeutung und ausbeuterischer Leiharbeit weiter unter den gesetzlichen Mindestlöhnen – in vielen Städten ein Problem darstellt.

In dieser Debatte, die auch von vielen Medien in unschöner Weise befeuert wird, werden aus Opfern Täter*innen gemacht. Wenn kriminelle Banden arme Menschen aus Osteuropa nach Deutschland bringen, sie hier weiter ausnutzen und sie in Schrott-Wohnungen mit horrenden Mieten unterbringen, dann sind eben jene Ausgebeutete die Opfer und nicht die Täter*innen. Statt Sinti*ze und Rom*nija an den Pranger zu stellen, müssten die Hausbesitzer*innen, die ihre Schrottimmobilien zu Wucherpreisen an Menschen aus anderen Ländern vermieten, und die Mieten direkt von den Behörden gezahlt bekommen, zur Verantwortung gezogen werden. Es ist die Aufgabe der Städte und deren Bürgermeister*innen, solchen Vermietungen  konsequent entgegenzutreten und für alle Bürger*innen für angemessenen Wohnraum zu sorgen, statt mit rassistischen Aussagen Stimmung gegen Minderheiten zu schüren. 

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