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„Die Keupstraße ist eine Straße dieses Staates. Und aus diesem Grund hat der Staat sich um uns zu kümmern!“

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Foto mit freundlicher Genehmigung der Initiative „Keupstraße ist überall“, die betroffene Menschen aus der Keupstraße unterstützt und sich für eine umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes einsetzt.

Alexander Hoffmann vertritt zwei Betroffene des Nagelbombenanschlags im NSU-Prozess. Sein Mandant hat am sechsten Tag der Nebenklage-Plädoyers in einer persönlichen Erklärung über die psychischen Folgen des Anschlags und der rassistischen Ermittlungsarbeit durch die Behörden gesprochen. Rechtsanwalt Hoffmann hat mit uns über die Rolle der Nebenklage im NSU-Prozess, die Inhalte der Plädoyers sowie die Perspektive seiner Mandant_innen auf den Prozess gesprochen.

Belltower.News: Herr Hoffmann, Sie vertreten Betroffene des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße als Nebenkläger im NSU-Prozess. Welche Rolle hat die Nebenklage in einem Prozess?Alexander Hoffmann: Die Nebenklage ist nach unserer Strafprozessordnung die einzige Möglichkeit des Geschädigten einer Straftat oder der Angehörigen sich aktiv an einem Prozess zu beteiligen. Dazu gehört zum Beispiel das Beweisantragsrecht oder das Recht auf ein Plädoyer zum Abschluss eines Prozesses. Historisch betrachtet hat die Nebenklage als Institution der Strafprozessordnung in den 70er Jahren an Bedeutung gewonnen. Insbesondere bei Strafprozessen wegen Sexualdelikten waren betroffene Frauen mit starken Sexismus – ich würde sogar sagen von institutionellem Sexismus – durch die Ermittlungsbehörden und Richter konfrontiert, was zu fürchterlichen Situationen im Gerichtssaal geführt hat. Engagierte Feministinnen haben dann gemeinsam mit Anwältinnen und Anwälten die Nebenklage organisiert. Wichtige Debatten der Frauenbewegung wurden in die Prozesse hineingetragen, was wiederum zu einer Politisierung der Prozesse geführt und die gesellschaftlichen Diskurse beeinflusst hat.

Mit welchem Ziel?Die dadurch entstandenen Gesetzesänderungen haben die Rechte von Opfern nachhaltig gestärkt. Bis dahin stand im Strafprozess praktisch ausschließlich die Frage der Feststellung der Schuld des Angeklagten im Mittelpunkt. Durch das erste Opferschutzgesetz von 1986 war es Opfern beispielsweise möglich, sich anwaltlich vertreten zu lassen und Akteneinsicht zu beantragen. So wurde Opfern erstmalig eigene Rechte im Strafverfahren zugestanden. Diese Entwicklungen waren eine direkte Reaktion auf das Engagement und die Erfolge der Frauenbewegung. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir bei den Prozessen zu rassistischen und neonazistischen Gewalttaten in den 90er Jahren. Hier waren es Flüchtlinge und Einwanderer, die gemeinsam mit Anwältinnen und Anwälten verhindern wollten, dass ihre Mandantinnen und Mandanten durch den institutionellen Rassismus der Ermittlungsbehörden und Gerichte ein zweites Mal zum Opfer werden.

Was bedeutet das für die Nebenklage im NSU-Prozess?Die Nebenklage ist besonders wichtig, um auf Fehler im System, also Fehler in der Strafverfolgung und Justiz aufmerksam zu machen. Wenn Ermittlungsarbeit und Prozessarbeit beispielsweise durch institutionellen Rassismus oder das Ignorieren von Netzwerkstrukturen nicht ausreichend gemacht wird, dann kann die Nebenklage ein gutes Gegengewicht bilden. In diesem Prozess hat die Nebenklage eine starke Position, weil sie genau auf diese Fehler hingewiesen hat und dazu zahlreiche Anträge gestellt hat, deren Erkenntnisse teilweise von der Bundesanwaltschaft aufgegriffen wurden. Durch unsere Arbeit ist inzwischen deutlich geworden, dass die These eines Trios mit einigen wenigen Helfern als isolierte Gruppe widerlegt ist. Und das weiß die Öffentlichkeit auch. Grundsätzlich lassen sich Gerichtsprozesse und Urteile nicht ohne die gesellschaftliche Situation beurteilen. Diese starke Nebenklage wäre ohne die Arbeit aus den 70er und 90er Jahren und ohne die jetzige Öffentlichkeitsarbeit der Betroffenen und antifaschistischen Organisationen nicht möglich gewesen. Das heißt die Nebenklage hat nicht nur innerhalb eines Prozesses eine starke Funktion, sie wirkt auch in gesellschaftliche Diskurse hinein und wird von diesen wiederum auch mitgestaltet.

Die Plädoyers der vergangenen Wochen haben die rassistische Ermittlungsarbeit und die Folgen für die jeweiligen Mandant_innen sowie die fehlende Aufklärung über das Unterstützer_innenumfeld des NSU thematisiert. Welche Schwerpunkte legen Sie in Ihrem Plädoyer?In meinem Plädoyer werde ich zwei wesentliche Schwerpunkte setzen. Zum einen werde ich auf einige Besonderheiten des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße eingehen. Meine Mandantin war die erste zugelassene Nebenklägerin, die nicht unmittelbar vor Ort durch die Bombe verletzt worden ist, sondern durch den Schock und die rassistischen Ermittlungen nach der Bombe Schaden davongetragen hat. Zum Zeitpunkt der Explosion befand sie sich in einem Zimmer ihrer Wohnung, das nach hinten raus ging. Hier geht es um versuchten Mord, denn versuchter Mord geht nicht vom Erfolg des Täters aus, sondern davon, was der Täter für möglich hält und was er sich wünscht. Die Täter wollten möglichst viele Menschen im Wirkungsbereich dieser Bombe verletzen oder töten, meine Mandantin befand sich in diesem Wirkungsbereich. Darauf hat die Bundesanwaltschaft und das Gericht mit Ablehnung reagiert. Erst nach einem langen Streit wurden sie und auch weitere Betroffene der Keupstraße als Nebenklägerinnen und Nebenkläger zugelassen. Heute spricht die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer nicht mehr von 22 Geschädigten aus der Keupstraße, wie in der Anklageschrift, sondern spricht sich dafür aus, dass wegen 33-fachen versuchten Mordes verurteilt werden soll.

Das Umfeld des NSU wird aber wahrscheinlich auch einen Platz haben?Im zweiten Teil nehme ich Bezug auf die Ideologie des NSU und das Umfeld. Dazu schaue ich mir exemplarisch die Ideologie der Kameradschaft Jena als Teil des Thüringer Heimatschutzes, der Blood & Honour Sektion Chemnitz, der Weißen Bruderschaft Erzgebirge, die der Angeklagte André Eminger gemeinsam mit seinem Bruder 2000 gegründet hat und der NPD an.

Es gibt vermutlich Gemeinsamkeiten?Diese Gruppierungen und die NPD eint die völkisch-rassistische Überzeugung, dass alle vermeintlich Nichtdeutschen eine Bedrohung darstellen und dafür sorgen, dass das so genannte deutsche Volk aussterben werde. Daraus ergibt sich für sie eine Art Notwehrsituation, in der sie all diejenigen, die nicht zum deutschen Volkskörper dazu gehören und die sie als „fremd“ markieren, bekämpfen wollen. Auch heute finden wir diese völkisch-rassistische Erzählung in Kreisen der AfD und rechtsextremen Gruppierungen wieder. Diese ideologischen Zusammenhänge müssen wir verstehen, auch für die Zukunft.

Wie hat sich der NSU in dieser „Notwehrsituation“ verhalten?Die Strategie des bewaffneten Kampfes zeichnet sich durch eine unglaubliche Aggressivität und eine hohe Bereitschaft Gewalt auszuüben aus. Dazu zählt auch die Strategie, Gewalttaten als Botschaftstaten, also ohne Bekennerschreiben, zu begehen. So wird die gesamte migrantische Community in Angst versetzt und durch die darauf folgenden Fehler in den polizeilichen Ermittlungen die Gesellschaft gespalten.

Welche Bedeutung hat das Plädoyer für Ihre Mandant_innen?Die eigene persönliche Erklärung im Plädoyer hat zwei wesentliche Bedeutungen für meinen Mandanten: Zum einen ist er endlich in der Lage das, was ihm widerfahren ist, und was er sich lange nicht mehr getraut hat auszusprechen, ungestört äußern zu können: Wir wussten von Anfang an, dass es Neonazis gewesen sind. Niemand hat uns unterstützt, niemand hat sich auf unsere Seite gestellt, da haben wir erst entdeckt was für ein Rassismus in Deutschland herrscht. Sowohl in der Polizeivernehmung als auch bei der Zeugenaussage vor Gericht wurde ihm das nicht zugestanden, ihm wurde gesagt, dass er darüber nicht zu sprechen habe bzw. wurde er mehrfach unterbrochen und angegangen. Das zweite Wesentliche ist, dass dieser Auftritt ihm ermöglicht, aus der Opferrolle herauszukommen. Er konnte selbst das Wort ergreifen und das Gericht und die Angeklagten ansprechen. Ich glaube dieser Schritt trägt auch dazu bei die Schäden und Traumatisierungen, die er über all diese Jahre erlitten hat, ein stückweit zu überwinden. Es ist eine Form der Selbstermächtigung.

Auch die Betroffenen und Angehörigen aus der Keupstraße wurden lange von den Behörden verdächtigt. War das im Prozess Thema?Nein es wurde nicht genügend thematisiert. Uns ist bewusst, dass dieser Prozess dazu dient, die Schuld und das Strafmaß der Angeklagten festzulegen. Dennoch hätte es in diesem  Prozess genügend Raum gegeben, die rassistische Ermittlungsarbeit der Behörden darzustellen, das haben wir auch auf unterschiedliche Art und Weise versucht. Aber das Gericht wollte dem nicht nachgehen.  Es wurden ja nicht einmal alle Geschädigten durch das Gericht befragt. Und selbst die Befragungen im Prozess waren sehr eng und kurz gefasst. Ein tatsächliches Interesse daran, wie es den Geschädigten geht und was diese Verbrechen und diese Ermittlungen mit ihnen gemacht haben, bestand beim Gericht und der Bundesanwaltschaft nicht.

Wie bewerten ihre Mandant_innen den Prozess vor diesem Hintergrund?Meine Mandantin und mein Mandant haben klar gemacht, dass für sie eine möglichst umfassende und tiefgehende Aufklärung das Wichtigste ist. Auf dieser Basis war ihnen von Anfang an wichtig, hinreichend Beweisanträge zu stellen und für diese Aufklärung zu kämpfen. Vor dem Hintergrund, dass die rassistischen Ermittlungen für das Gericht keine Rolle spielen und es immer noch eine Zuspitzung auf ein Kerntrio des NSU mit wenigen Helfern gibt, sind sie mit den Ergebnissen dieses Prozesses nicht zufrieden. Ich denke das ist auch in der persönlichen Erklärung meines Mandanten A.S. am sechsten Tag der Nebenlage-Plädoyers deutlich geworden.

Was erhoffen sich Ihre Mandant_innen von einem Urteil?Wir haben in den vergangenen 4 ½ Jahren gemerkt: mehr ist nicht zu holen. Von dem Urteil erhoffen sie sich jetzt, dass dieses Kapitel, dieser Prozess zu Ende gebracht wird. Ein so formales und langwieriges Verfahren ist für Betroffene unglaublich ermüdend und belastend. Sie fühlen sich immer noch im Stich gelassen – denn nach dem hoffnungsvollen Versprechen der Kanzlerin über umfassende Aufklärung, gab es dann einen Schlag ins Gesicht nach dem anderen. Und auch in den einzelnen Untersuchungsausschüssen der Landtage wurde die Aufklärung immer wieder verhindert. Die Nebenkläger in diesem Prozess sind um Aufklärung betrogen worden. Mein Mandant hat das ja in seiner persönlichen Erklärung als Teil des Plädoyers am Dienstag vor Gericht gesagt und es war sehr eindringlich: „die Keupstraße ist eine Straße in Köln, sie ist ein Ort, der zu Köln gehört, eine Straße dieses Staates. Und aus diesem Grund hat der Staat sich um uns zu kümmern!“ Der Staat hat sich nicht um die Betroffenen gekümmert und das führt dazu, das Vertrauen in die Institutionen, in Gerechtigkeit erschüttert wird. Und das ist der eigentliche Verrat, der hier stattgefunden hat. Dennoch hoffen sie, dass der NSU-Komplex nicht einfach von der Öffentlichkeit vergessen und zu den Akten gelegt wird, sondern dass es noch weitere Auseinandersetzungen und Diskussionen dazu geben wird.

Die Nebenklage hat während des Prozesses immer wieder auf mögliche Unterstützer_innen und Netzwerke um den NSU hingewiesen und dementsprechend Beweisanträge gestellt. Auch einige Frauen, wie beispielsweise Susan Eminger oder Antje Probst waren Gegenstand der Verhandlungen. Wird es weitere Prozesse und Ermittlungsverfahren zum NSU-Komplex geben?Ich gehe davon aus, dass weitere Ermittlungen zum NSU-Komplex und beispielsweise auch zu Susan Eminger eingestellt werden. Das ist natürlich Wahnsinn, denn wir wissen, dass Susan Eminger sich regelmäßig mit Beate Zschäpe getroffen hat, sie auf unterschiedliche Art und Weise unterstützt hat. So wie die Ermittlungen jedoch bisher angelegt sind, können diese Taten nicht mehr strafrechtlich belangt werden, weil bestimmten Spuren nicht nachgegangen worden ist. Eine ordentliche Beweisführung in diesen Fällen wurde nahezu unmöglich gemacht. Das Verhalten der Bundesanwaltschaft hierzu zeigt, dass sie daran nicht interessiert sind.

Wie kann eine weitere politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex aussehen?Das Wissen, was wir aus diesem Prozess über die Strukturen, die Inhalte und die Art und Weise wie diese Neonazis gearbeitet haben, gewonnen haben, müssen wir auf unsere Arbeit heute anwenden und umsetzen. Wenn wir uns beispielsweise den Prozess um die „Gruppe Freital“ anschauen, sehen wir, dass die politische Strategie des NSU und deren Netzwerk weiterentwickelt wurde. Das sind keine besorgten Bürger, das sind organisierte Neonazis mit entsprechenden Strukturen, die zum einen Demonstrationen in Freital erst möglich gemacht und zum anderen bewaffnete Aktionen durchgeführt haben. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat sich geweigert, die einzelnen Taten zu einem Verfahren zusammenzuführen, obwohl sogar die zuständigen Ermittlungsbehörden darauf hingewiesen haben, dass die Taten der „Gruppe Freital“ und der „Freien Kameradschaft Dresden“ eine Serie darstellen und dass es sich um eine Vereinigung handelt. Die Bundesanwaltschaft agiert im aktuellen Prozess zur „Gruppe Freital“ anders, sie machen diese Aspekte sehr stark, da sie befürchten, dass sich die Vorwürfe gegen sie aus dem NSU-Prozess wiederholen. In Bezug auf die Institutionen bin ich bisher somit nicht sehr optimistisch. Auf der anderen Seite hat insbesondere die Öffentlichkeitsarbeit von Betroffenen und antifaschistischen Gruppierungen zum NSU-Prozess die gesellschaftliche Diskussion stark beeinflusst und an vielen Punkten eine Sensibilisierung für diese Themen ermöglicht.

Die Autorin dankt ausdrücklich für die unterstützende Arbeit der Blogs nsu-watch.infonsu-nebenklage.de und dka-kanzlei.

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