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Nach Chemnitz Sachsen verlassen?

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Teilnehmer*innen der rechtsextremen Kundgebung am 27.08.2018 in Chemnitz.

 

Das Interview führte Luka Lara Steffen.

 

Belltower.News: Wie würden Sie die Arbeit der Opferberatungsstelle beschreiben?

Andrea Hübler: Wir begleiten, unterstützen und beraten Betroffene von rechter, rassistischer  und antisemitischer Gewalt. Das kann durch psychosoziale Unterstützung sein, aber auch durch Unterstützung in der juristische Aufarbeitung von Fällen.

 

Haben Sie einen Anstieg rassistischer Gewalt nach Chemnitz beobachtet?

Ja, das Gewaltpotenzial ist vorhanden und wird durch Ereignisse wie in Chemnitz abrufbar. Auf die Ideologie folgen Taten. Seit dem 26. August 2018 haben wir insgesamt 24 Körperverletzungen und 11 Fälle von Nötigung und Bedrohung in Chemnitz registriert, die sich gegen Migrant*innen, Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen richteten. Eine Zunahme rassistischer Gewalt gibt es auch in anderen Regionen von Sachsen. Sächsische Schweiz, Nord-Sachsen, eigentlich in allen Landkreisen. Aber natürlich hat Chemnitz auch Auswirkungen auf Gleichgesinnte bundesweit.

 

People of Colour in Chemnitz berichten von Verunsicherung und Angst, sich im Stadtgebiet aufzuhalten. Was bedeutete das für den Alltag und gilt das auch für andere Städte?

Angst führt zu ganz konkreten Einschränkungen im Alltag. Wann geht man am besten Einkaufen? Geht man alleine zur Bahn? Ruft man Freund*innen an? Wann verlässt man das Haus? Das Sicherheitsgefühl fehlt einfach. Und genau in diese Richtung soll rechte Gewalt ja auch wirken. Diese Machtdemonstration in Chemnitz wird flächendeckend wahrgenommen und führt zu einer starken Verunsicherung. Bei vielen Betroffenen entsteht letztendlich der Wunsch, Sachsen zu verlassen. Das war im Zuge der Ereignisse in Heidenau und Freital ähnlich. 2015 sind viele von Rassismus Betroffene aus Sachsen weggezogen.

 

Wie kann ein effektiver Schutz vor rassistischer Gewalt aussehen und was können Freund*innen und Kolleg*innen von Betroffenen tun?

Langfristig geht es um eine offene Gesellschaft ohne Rassismus, Antsemitismus oder andere Vorstellungen der Ungleichwertigekt. Aktuell muss sich jede  Stadtgesellschaft  gegen Rassismus  stellen und rassistische Gewalt verurteilen und thematisieren. Was konkret gefährdeten Personen hilft, ist natürlich von Fall zu Fall verschieden. Darum ist das Wichtigste, einfach nachzufragen, wie man selbst unterstützen kann und zu überlegen wie man gemeinsam die Situation verbessern kann.

 

Was hat es für Auswirkungen, wenn ein Verfassungsschutz-Präsident behauptet, ein Video sei gefälscht und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, es hätte keine Hetzjagden gegeben?

Wenn Kretschmer negiert, dass es einen Mob gab, dann ist das die Bestätigung für Rassisten, Neonazis und vermeintlich besorgte Bürger, dass ihr Handeln keine Konsequenzen hat. Täter*innen werden bestärkt. Es kommt zu vermehrten Angriffen. Dass am letzten Freitag eine selbsternannte Bürgerwehr durch Chemnitz zog, Ausweise kontrollierte und schließlich einen jungen Iraner angegriffen und verletzt hat, ist letztendlich symptomatisch für einen solchen Umgang mit rechter Gewalt. Gleichzeitig bedeutet das für Betroffene, dass ihre Erfahrungen nicht relevant sind.

 

Sehen Sie Fehler im Vorgehen der Polizei?

Die Gefahr wurde eindeutig unterschätzt. Das kann man aber nicht den Polizist*innen anstecken, sondern dem Innenministerium. Das muss sich besser vorbereiten. In Heidenau tobte 2015 ein rassistischer Mob. Daraus hätte man lernen müssen. Es wurde einfach nicht auf die Mobilisation in Hooligan-Kreisen reagiert. Die ging am 26.08.2018 um die Mittagszeit los und es war völlig klar, dass es hier nicht um 100 besorgter Bürger*innen jenseits der 60 geht, sondern um Nazi-Hooligans. Und obwohl Hundertschaften in Dresden und Leipzig vorhanden waren, sind die erst viel zu spät involviert worden. Das ist unverantwortlich. Unverantwortlich gegenüber Migrant*innen, die durch die Stadt gejagt wurden, und Menschen, die sich Rassismus in den Weg stellen. Unverantwortlich aber auch gegenüber den Polizist*innen im Dienst, die in Unterzahl gewaltbereiten Nazi-Hooligans gegenüber standen.

 

Vor 26 Jahren eskalierte rechte Gewalt in Rostock-Lichtenhagen. In diesem Klima der Straflosigkeit herrschte Akzeptanz für Rassismus und neonazistische Aktivitäten. Gibt es da Parallelen zu heute?

Parallelen sicherlich, aber es ist natürlich nicht das geiche. Zunächst einmal würde ich Ministerpräsident Kretschmer nicht unterstellen, dass er die Ereignisse an sich negiert. Er hat ja durchaus betont, dass Rechtsextremismus die größte Gefahr für unsere Gesellschaft sei. Hier sind wir also auch bei Konservativen  durchaus weiter als 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Das gleiche gilt für die Polizei, die nach der Wende anders aufgestellt war. Und rechtsfreie Räume gibt es in dieser Form heute einfach nicht mehr. Hinzu kommt, dass Gegenwehr wahrnehmbar ist. Das war in den 1990er Jahren nicht in dem Maße der Fall . Ein Konzert rettet nicht die Welt, aber 65.000 Leute sind ein klares Zeichen. Was gleich geblieben ist, ist allerdings die Motivationslage, also in der Gesellschaft nachwievor verbreiteter Rassismus und das Potenzial rechter Gewalt.  Außerdem fehlt es leider noch immer an der parteiübergreifenden Bereitschaft sich ernsthaft, dauerhaft und tiefgründig mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Vorstellungen der Ungleichwertigkeit sowie mit neonazistischen Strukturen und Aktivitäten auseinanderzusetzen. Stattdessen verharren wir in der verzerrenden Beschreibung des Problems als „Extremismus“, was einer treffenden Analyse und darauf aufbauenden Strategieentwicklung für eine demokratische und offene Gesellschaft leider immer noch im Wege steht.

 

Welche Rolle spielen Pegida, die AfD und “Pro Chemnitz”, Rassismus zu schüren und Leute auf die Straße zu holen?

Eine sehr große Rolle. Das sind die Schlüssel-Organisationen. Pegida hat 2014 und 2015 die Anti-Asyl Proteste, die es vereinzelt gab, geeint. Sie haben die Stimmung zentralisiert und jetzt schon über drei Jahre am Köcheln und permanent in der Öffentlichkeit erhalten. “Pro Chemnitz” gibt es ja schon länger und für die gilt das gleiche. Die AfD bringt das alles auf parlamentarische Ebene, auch auf Bundesebene und ist ein wichtiger Akteur, wenn es darum geht,  rechte Hetze zu legitmieren, die politische Agenda mit ihren Themen zu bestimmen, aber auch um rassistische Sprache zu normalisieren. In Chemnitz hat sie nun auf der Straße den Schulterschluss mit Pegida vollzogen.

 

 

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