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4V Was Antisemitismus ist, ist gar nicht so schwer zu sagen 

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Graffiti in Berlin Neukölln (Quelle: picture alliance / SULUPRESS.DE | Vladimir Menck/SULUPRESS.DE)

Es gibt viel Streit um Antisemitismus. Genauer gesagt, gibt es Streit um eine ganz bestimmte Spielart des Antisemitismus, den der sich auf Israel bezieht, auf den einzigen jüdischen Staat weltweit. Der Streit führt zu einem Missverständnis. Denn es hat sich ein Unbehagen mit Antisemitismus etabliert. Das Thema gilt als wahnsinnig kompliziert, als vermint; ein Thema also, dass einerseits vermieden wird und wo andererseits gilt, dass die Frage, was Antisemitismus ist, nicht leicht zu beantworten sei. Das ist aber Unsinn. Denn es gibt klare Kriterien. Antisemitismus kann definiert werden, das Phänomen ist bei weitem nicht so unbestimmt wie in den Debatten oft getan wird. Dieser Text rekonstruiert die am weitesten verbreiteten Tools und unterbreitet einen Bestimmungsvorschlag. Antisemitismus, das sind 4V: Verantwortlich machen, Verteufeln, Verschwörungsdenken und Vernichtungswille.

Doch zunächst zurück zum Streit: Der dreht sich meistens um israelbezogenen Antisemitismus. Dabei wird so getan, als handele es sich hierbei um eine „neue Spielart”. Schon das ist eine Verzerrung. Die Delegitimierung eines jüdischen Staats wird seit 150 Jahren betrieben und damit lange bevor Israel gegründet wurde. Und: israelbezogener Antisemitismus ist nicht viel anders als andere Varianten. Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel zum Beispiel spricht davon, dass sich Judenfeindschaft  wie ein Chamäleon verhalte. Die Erscheinungsform mag sich anpassen, je nachdem vor welchem (sozial-politischen) Hintergrund das Phänomen auftritt. Im Kern bleibt es aber erstaunlich gleich. Selbstverständlich artikulieren Judenhasser*innen ihr Weltbild in Zeiten der Pest anders als in der von Corona und in Zeiten des Zweiten Weltkriegs anders als kurz nach 9/11. Grundmuster lassen sich aber über die Zeiten erkennen. Denn Antisemitismus will die Welt erklären und verklärt sie dabei. Er ist also immer historisch-konkret auf jeweilige Situationen angepasst, erfindet neue Codes und Metaphern, um dasselbe zu sagen: „Der Jude” ist das Übel in der Welt, ein übermächtiger Feind, der im Hintergrund die Strippen zieht.

Die Geschichte der Judenfeindschaft erstreckt sich über Jahrtausende, das Chamäleon ist kein junges. Nicht nur die Vorurteile, die Stereotype und Projektionen, auch die Gewalt ist uralt – und all das wird wieder aktualisiert. Antisemitismus führte auch schon zu Mord und Vertreibung, als es den Begriff noch nicht gab, schon zu Zeiten, in denen die Forschung das Phänomen noch Antijudaismus nennt. Das erste antijudaistische Massaker, das nachgewiesen werden kann, findet im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung statt. Der Historiker David Nirenberg beschreibt in seinem Buch „Antijudaismus” ein Pogrom in Alexandria im Jahr 66 n. u. Z. bei dem 50.000 Juden ermordet wurden. Damals wie heute gilt: Judenhass drängt zur Gewalt und führt zu Mord. Das ist eine Konstante. In den letzten Tagen und Wochen kam es in Deutschland zu mehreren teils schweren Angriffen auf Jüdinnen*Juden, für die sichere Räume immer weniger werden. Die Lage spitzt sich dramatisch zu.

Trotz alledem: der Streit um Antisemitismus. Wo beginnt Judenfeindschaft, wo endet sie? Wo ist der Unterschied zwischen „legitimer Israelkritik” und Antisemitismus, fragen viele. In der jüngeren Vergangenheit wurden Kriterien und Tools entwickelt, um diese Fragen zu beantworten, der 3-D-Test und die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus sind die beiden berühmtesten und weitverbreitetsten. Der Streit über Antisemitismus dreht sich aber immer auch gegen diese Tools selbst.

Deshalb braucht es vielleicht auch mal andere, neue Pfade und einen Vorschlag: 4V. Antisemitismus, das ist das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen*Juden, ist die Verteufelung, das Verschwörungsdenken und der Vernichtungswillen. Bevor das expliziert wird, einige Bemerkungen zu den etablierten und hilfreichen Tools.

3-D-Test und IHRA Arbeitsdefinition

Vor zwanzig Jahren schlug Natan Scharanski, erst sowjetischer Dissident und dann israelischer Politiker, auf einer Konferenz in Berlin vor, einen 3-D-Test einzuführen, um Aussagen daraufhin zu überprüfen, ob sie antisemitisch sind: Delegitimierung, Dämonisierung und Doppelstandards. Der Test ist grob und dennoch hilfreich. Denn er beschreibt vielfach richtig, was Judenfeindschaft tut. Sie delegitimiert jüdisches Leben, sie dämonisiert „die Juden” und sie legt andere Standards an. In der Debatte wird der Test vor allem für israelbezogenen Antisemitismus benutzt – und auch hier hat er seine Berechtigung. Vergessen wird aber eine grundlegende Überlegung. Der 3D-Test, das schreibt Scharanski explizit, wollte das ganze Chamäleon beschreiben, nicht nur eine seiner Erscheinungsformen:

„Ich schlage den folgenden Test vor, um legitime Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden. Der 3-D-Test, wie ich ihn nenne, ist kein neuer Test. Er wendet nur dieselben Kriterien auf den neuen Antisemitismus an, die auch seit Jahrhunderten die verschiedenen Dimensionen des klassischen Antisemitismus identifiziert haben.“

Dass die drei Kriterien grob und formal sind, ist kein Argument gegen den Test. Kritisiert wird auch, dass es sich nur bei Dämonisierung um etwas handelt, was spezifisch für Antisemitismus ist. Delegitimierung und doppelte Standards finden sich bisweilen auch in anderen Phänomen. Dennoch treffen sie auch auf Antisemitismus zu. Diese Kriterien sind deshalb später auch in die IHRA-Arbeitsdefinition aufgenommen und spezifiziert worden. Die International Holocaust Remembrance Alliance ist ein Zusammenschluss von Staaten zum Ziel der Aufklärung, Erforschung und Erinnerung des Holocaust. Sie veröffentlichte 2016 eine heute weit verbreitete Definition von Antisemitismus. Bekanntlich sind die größten Israelkritiker*innen aber auch IHRA-Kritiker*innen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Definition sagt sehr deutlich, wann die sogenannte Israelkritik antisemitisch ist. Also auch, wann die Kritik dieser Israelkritiker*innen antisemitisch ist. Entgegen vieler Behauptungen enthält die Definition aber übrigens auch folgenden Satz: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.”

Chronik antisemitischer Vorfälle

Definitionen sind Antworten auf die Frage “Was ist …?”. Sie sollen helfen, das Phänomen zu bestimmen, aber auch abzugrenzen. Ein Beispiel: Antisemitismus ist nicht einfach eine Unterform von Rassismus, auch wenn beide Phänomene oft gemeinsam auftreten und miteinander verwandt sind. Antisemitismus ist eine Unterlegenheitsfantasie, geht von einem übermächtigen Feind aus, während Rassismus eine Überlegenheitsfantasie ist und von der eigenen Überhöhung ausgeht. Definitionen können helfen, hier Klarheit zu schaffen. Eine andere Herangehensweise kann es sein, sich konkrete Vorfälle anzuschauen. Die Amadeu Antonio Stiftung führt eine Chronik antisemitischer Vorfälle. Nah am Zeitgeschehen werden hier Vorfälle gesammelt: deutschlandweit und in ihrer Verschiedenheit. Auf der Website heißt es: „Ziel ist es, die Alltäglichkeit vielfältiger Formen des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland sichtbar zu machen – seien es nun tätliche Übergriffe, Beleidigungen, Vandalismus oder Shoa-Relativierung bzw. deren Leugnung.” Wo der 3-D-Test mit formalen Kriterien argumentiert und die IHRA-Definition mit abstrahierten Paradebeispielen, macht die Chronik konkrete Fälle sichtbar.

4V

Antisemitismus, dafür argumentiert dieser Text und denkt dabei die drei gerade genannten Tools zusammen, zeigt sich in 4V: dem kollektiven Verantwortlichmachen von Jüdinnen*Juden, der Verteufelung, dem Verschwörungsdenken und Vernichtungswillen. Diese 4V gelten für alle Varianten des Antisemitismus, für das ganze Chamäleon. Sie finden sich auch im israelbezogenen Antisemitismus und sind ein anderer Vorschlag um die Frage, was Antisemitismus ist, zu beantworten. Sie widersprechen weder dem 3D-Test noch der IHRA, sondern sind der Versuch, in deren Sinne substanzielle Kriterien einzuführen. Aber der Reihe nach.

  • Antisemitismus macht Jüdinnen*Juden kollektiv verantwortlich für das, was „die Juden” angeblich alles tun. Die einzelnen Personen gelten Antisemit*innen als Vertreter*innen ihrer Gruppe. Das war schon immer so. Als 1287 die Leiche eines Jungen in Bacharach am Rhein gefunden wurde, wurden Gerüchte über einen jüdischen Ritualmord gestreut. Es kam zu einer Pogromwelle, die weit über den Ort hinausstrahlte. Neue Forschungen gehen davon aus, dass das Kind Opfer eines Sexualdelikts wurde. Dem Gerücht über die Juden sind solche Fakten egal. Das kollektive Verantwortlichmachen gibt es bis heute. Am 7. Oktober zeigte sich in Israel, dass auch die Gewalt nie aufgehört hat. 1.200 Menschen wurden in Israel ermordet, weil sie der Terrororganisation Hamas als Vertreter „des Zionismus” gelten. Hier in Deutschland wurden in der selben Logik Synagogen und Jüdinnen*Juden angegriffen, im Oktober warfen Unbekannte Steine auf das jüdische Krankenhaus in Berlin. Wenige Tage zuvor wurde ein Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum verübt. In Gelsenkirchen wurde schon 2021 vor der Synagoge gegen Israel demonstriert. Denn auch jüdische Gemeinden und Einrichtungen hierzulande werden für Israel verantwortlich gemacht.

 

  • Seit langem werden Jüdinnen*Juden verteufelt, also als böse und gefährlich dargestellt. Es ist vielleicht das Ur-Gerücht über „die Juden”, dass sie im Bunde mit dem Teufel Jesus Christus ans Kreuz haben nageln lassen. Der Kern der Verschwörungserzählungen und damit des Judenhasses ist die Vorstellung von jüdischer Übermacht, von „teuflischer Allmacht”, um es mit dem Titel von Tilman Tarrachs lesenswertem Buch zum Thema zu sagen. „Die Juden” erscheinen Antisemit*innen als das Böse schlechthin. Die Nationalsozialisten sprachen schon im Ausgang des Ersten Weltkriegs davon, dass „die Juden” „das Übel in der Welt” seien und es an der Zeit sei, die jüdische „Zinsknechtschaft” zu brechen. Aktualisierungen dieser Dämonisierung oder Verteufelung finden sich im Reden über Israel zu Hauf. Israel wird als einziger Aggressor dargestellt, als das absolut Böse, ohne das die Welt eine gute sei. Nicht zufällig wird deshalb auch immer wieder Israel mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt, etwa in der Behauptung, in Gaza würde gerade ein „Ghetto liquidiert”, eine Anspielung auf das Warschauer Ghetto, das die Nazis errichteten. Diese Art der Gleichsetzung der Israelis mit den Nationalsozialisten ist Täter-Opfer-Umkehr par excellence und eben immer auch eine Art der Verteufelung. In diesem Generalangriff sind die Details, die Schattierungen und Grautöne egal. Es gibt nur noch Schwarz und Weiß, Gut gegen Böse, Unterdrücker gegen Unterdrückte. Den antiisraelischen Demonstrant*innen war es vollkommen egal, dass sie mit der israelischen Richterin und Professorin Daphne Barak-Erez an der Humboldt-Universität im Februar eine Netanjahu-Gegnerin niederbrüllten.

 

  • Verschwörungsdenken prägt den Judenhass also schon sehr lange. Bis heute sind antisemitische Verschwörungserzählungen in Umlauf. Die Corona-Pandemie hat ihnen neuen Aufwind gegeben. Durch Social-Media-Kanäle finden sie ein Millionenpublikum. In der Zwischenzeit ging es um den russischen Angriff auf die Ukraine, die Debatte über eine allgemeine Corona-Impfpflicht oder die Energieversorgungskrise. All das wurde antisemitisch gedeutet, etwa als Ablenkungsmanöver. Im Antisemitismus werden „die Juden” als Manipulatoren vorgestellt, die im Hintergrund die Strippen ziehen, um Böses zu tun. Das wird manchmal von Rechtsextremen offen ausgesprochen, aber vielfachgeraunt und in Anspielungen verkleidet. Aktuell geht es in diesen Erzählungen oft um Israel. Wie könnte es anders sein. Social-Media-Plattformen wie TiKTok sind voll von antiisraelischen Verschwörungserzählungen zum 7. Oktober.

 

  • Gegen einen solchen, übermächtigen, teuflischen Feind, so die Logik des Antisemitismus, hilft nur Vernichtung. Der Mord, der Massenmord ergibt sich also aus der Logik des Antisemitismus. Die Nationalsozialisten wollten das von ihnen identifizierte Übel aus der Welt schaffen. Der israelische Shoah-Forscher Saul Friedländer spricht deshalb auch vom „Erlösungsantisemitismus”. Die Shoah war präzedenzlos – hier folge ich der Historikerin Sybille Steinbacher – , weil die Vernichtung zum obersten Ziel wurde, weil Jüdinnen*Juden aus ganz Europa deportiert wurden, um sie zu ermorden, und weil die deutsche Bevölkerung so umfassend eingebunden war. Aber nicht nur die Geschichte des Nationalsozialismus zeigt, wie sehr Antisemitismus zum Massenmord drängt, auch der 7. Oktober und seine weltweiten Folgen tun das – oder der Anschlag in Halle 2019. Sicher wollen sich nicht alle, die auf Demonstrationen antisemitische Parolen rufen, aktiv an Vernichtung beteiligen. Die Logik des Antisemitismus strebt dennoch dorthin. Vernichtungsfantasien sind auch in den Parolen, die die Auslöschung Israels fordern, aufgehoben. Der jüdische Staat soll von der Landkarte getilgt werden. Schlimmer noch: Das Jüdische soll aus der Welt verschwinden. Die genozidale Gewalt des 7. Oktober wird deswegen als Befreiungsschlag und Akt des Widerstands glorifiziert.

Was Antisemitismus ist, ist nicht schwer zu sagen. Dem Streit darüber muss mit Versachlichung begegnet werden – und mit klaren Kriterien, die plausibel zeigen, was als Antisemitismus gilt – und was nicht. Dieser Artikel geht andere Pfade als die gewohnten, nicht um Bewährtes durch Neues zu ersetzen, aber um Antisemitismuskritik einmal auf andere Art zu denken.

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