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Interview „Heute wäre eine Kundgebung gegen Antisemitismus in Kreuzberg nicht denkbar“

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Seit Oktober 2023 finden regelmäßig propalästinensische Demos in Berlin statt. (Quelle: picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert)

Seit über 20 Jahren macht Aycan Demirel rassismus- und antisemitismuskritische Jugend- und Bildungsarbeit. 2003 hat er zusammen mit Freund*innen die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.) gegründet. Dabei war damals auch Rosa Fava, die sich mit Demiral über die Gemeinsamkeiten von 9/11 und 7/10, islamistischen Antisemitismus und antikurdischen Rassismus unterhalten hat.

Rosa Fava: Vor zwanzig Jahren haben wir, zusammen mit drei anderen Freund*innen, die KIgA gegründet: Ab April 2004 bekamen wir, auch durch den Einsatz von Anetta Kahane, damals Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, die erste öffentliche Förderung. Ich bin aus Hamburg dazugekommen, ihr Berliner*innen hattet schon länger Pläne, Aufklärung und Bildung über Antisemitismus auf eine solide Basis zu stellen. Was hat euch damals motiviert?
Aycan Demirel: Wir waren durch politische Diskurse unter Linken für Antisemitismus sensibilisiert. Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung, des Nationalismus und der rechten Gewalt wurde auch Antisemitismus wieder zum Thema. Wir waren damals alle an der Universität und haben uns mit den entsprechenden Themen befasst: Kritische Theorie, Nationalsozialismus und die Rolle von Antisemitismus bei der Deutung des Nahostkonflikts. Nach dem 11. September kam es auch in unserem unmittelbaren sozialen Kontext zu einem Anstieg von Antisemitismus oder zu einer gewissen Akzeptanz: Judenfeindschaft bei den Terroristen von al-Qaida war offensichtlich, wurde aber teilweise geleugnet.

Ich war damals in Kreuzberg in der Jugendarbeit aktiv und konnte dort bei einigen Jugendlichen Stolz und Genugtuung beobachten, dass endlich ein Araber den USA die Stirn geboten hat. Das islamistische Narrativ, und dabei die Sicht auf die USA als „großen Teufel“ und Israel als „kleiner Teufel“, fand Zuspruch unter Jugendlichen vor Ort.

Haben die Jugendlichen selbst vom „großen Teufel“ gesprochen?
Ja, eine antiwestliche Haltung und Hass auf die USA waren sehr präsent. Es kam immer wieder zu judenfeindlichen Äußerungen und es gab islamistische Gruppierungen im unmittelbaren Nahfeld, etwa Hizb ut-Tahrir, die nicht weit von der Synagoge am Fraenkelufer auf dem türkischen Markt am Kanal Flugblätter verteilten. Pamphlete voller antisemitischer Hetze gegen Juden und den Staat Israel. Einzelne jüdische Personen, die die Synagoge besuchten, wurden von jungen Männern verbal angegangen, einmal wurde sogar versucht, mit einem Molotow-Cocktail einen Brand zu entfachen.

Gab es einen besonderen Anlass, euch mit mehreren gemeinsam zu engagieren?
Auslöser für unser Engagement wurden die Terroranschläge im November 2003 in der Türkei, als in Istanbul Autobomben gleichzeitig vor zwei Synagogen explodierten und viele Menschen starben. Das galt als der 11. September der Türkei. Wir, das heißt ein kleiner Freund*innenkreis mit dem Namen „Migrantische Initiative gegen Antisemitismus“, wollten unseren Protest ausdrücken, eine politische Öffentlichkeit erreichen und gleichzeitig Solidarität mit Juden*Jüdinnen zeigen. Wir veranstalteten dazu eine Kundgebung am Heinrichplatz in Kreuzberg, heute der Rio-Reiser-Platz. Es kamen 300 bis 400 Personen und viele bewegende Redebeiträge wurden gehalten. Es versammelten sich viele Menschen mit Israelfahnen oder mit jüdischen Symbolen, und das im radikal linken Kreuzberg, wo es immer Distanz und Ablehnung gab gegenüber der jüdischen Religion und Israel. Vor allem die Reaktionen aus der jüdischen Community überwältigten uns, wir erhielten Nachrichten aus Los Angeles, New York, Israel, natürlich Istanbul. Heute, nach dem antisemitischen Pogrom vom 7. Oktober, wäre eine solche Kundgebung in Kreuzberg nicht denkbar. Das ist frustrierend.

Aber wie kam es, dass ihr eine Bildungsinitiative gegründet habt?
In unserer Arbeit mit Jugendlichen merkten wir, dass die Themen, die uns für Antisemitismus sensibilisierten – Nationalsozialismus, der gewaltförmige Rechtsextremismus der 1990er Jahre und Antirassismus – bei den Jugendlichen nicht funktionierten. Auch wenn die Gefahren des deutschen Rechtsextremismus sie selbst betrafen, bewirkte das keine Sensibilisierung für Antisemitismus oder Solidarität mit Juden*Jüdinnen. Die tiefsitzenden antisemitischen Bilder, die die Jugendlichen mit sich trugen, wurden gar nicht berührt. Mit den bestehenden Mitteln und Methoden kamen wir nicht weiter. So machten wir uns Gedanken, wie man anders arbeiten, eine neue Pädagogik entwickeln könnte, und schwenkten von politischen Aktivitäten auf Bildungsarbeit um.

Was waren die Ansatzpunkte der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus?
Es gab damals viele Herausforderungen, die Rede war von einem „neuen Antisemitismus“, zum einen wegen des starken Israelbezugs, wegen der hier neu wahrgenommenen islamistischen Ideologie und zum anderen wegen der bis dahin kaum beachteten Träger*innengruppe der Migrant*innen oder Muslim*innen. Unsere erste Methode befasste sich mit der Staatsgründung Israels. Es ging darum, die historischen Entwicklungen in der Region zu verstehen, um so antisemitischen Verschwörungserzählungen rund um die Errichtung Israels etwas entgegenzusetzen. Das war noch ein sehr kognitiver Ansatz, verbunden mit der Hoffnung, dass eine Auseinandersetzung mit den politischen, geopolitischen, sozialen, religiösen Hintergründen dem Hass den Boden entziehen könne. Es sollte deutlich werden, dass es sachliche Gründe gibt, warum es Israel, aber kein Palästina gibt. Mit einer evangelischen Pfarrerin führten wir im Konfirmationsunterricht eine Einheit zum Überleben von Juden*Jüdinnen im Untergrund durch. Wir wählten dazu die Biografie des Berliner Juden türkischer Herkunft Isaak Behar aus, um so starre Identitätskonstruktionen zu irritieren. Bald entwickelten wir eine Ausstellung über jüdisches Leben in Kreuzberg, um Verbindungen zwischen NS-Zeit und heute aufzuzeigen.

Wir haben auch Monitoring betrieben!
Das war damals sehr innovativ, dass wir antisemitische Akteure und Aktivitäten in Kreuzberg und Berlin beobachtet haben. Es gab türkische Tageszeitungen, die täglich Judenhass mit Karikaturen à la Stürmer verbreiteten. Die lagen in Kiosken offen aus und wurden gelesen. Vom türkisch-islamistischen Spektrum, aber auch in breiteren islamisch-konservativen oder traditionellen Communitys. Es gab Buchmessen in Millî Görüş-Moscheen in Kreuzberg mit einschlägiger antisemitischer Literatur, die „Protokolle der Weisen von Zion“ oder „Der internationale Jude“ von Henry Ford. Das hat lange niemanden interessiert, bis es von einer konservativen Politikerin skandalisiert wurde. Wir haben mit einem jungen Praktikanten die türkische islamistische Zeitung Vakit beobachtet und einzelne Artikel übersetzt. Die Zeitung wurde hierzulande schließlich von Otto Schily verboten.

Wenn du mit Blick auf Bildungsarbeit die heutige Situation mit den Nuller Jahren vergleichst, was hat sich verändert?
Antisemitismus als Thema und Arbeitsfeld der politischen Bildung hat sich etabliert. Antisemitismusprävention bestand lange vor allem aus Erinnerung an die Shoah, das Heranführen junger Menschen an das Verbrechen sollte sie für Antisemitismus sensibilisieren. Aber das hat nicht funktioniert, eine spezifische Arbeit zu Antisemitismus ist notwendig. Auch wenn Nationalsozialismus und Holocaust natürlich weiter eine wichtige Rolle spielen, und je nach Zielgruppe auch zur Sensibilisierung beitragen können, werden antisemitische Stereotypen und Ressentiments dadurch aber nicht berührt. Man muss sich mit aktuellem Antisemitismus befassen und damit, wie er ganz konkret auftritt. Verschwörungserzählungen und Feindschaft gegen den Staat Israel sind dabei die wichtigsten Medien, über die Judenfeindschaft kommuniziert wird. Es gibt aber weiterhin wenig Erfahrungen mit und Kenntnisse über spezifisch islamistische Formen von Antisemitismus, ihre Wirkungsweisen und entsprechend ist quasi gar nicht erforscht, wie er pädagogisch bearbeitet werden kann.

2001 hat der islamistische Anschlag al-Qaidas auf das World Trade Center und das Pentagon zu einer großen Erschütterung geführt. Erschreckend war dabei auch, wie viele Menschen offen oder verdeckt Sympathien für den Angriff auf die USA als Symbol für „den Westen“ aufbrachten. Anstatt über islamistische Ideologien und Akteure zu sprechen, ging es schnell um den angeblich legitimen Widerstand ‚der Unterdrückten und Kolonisierten‘. Lässt sich das mit der heutigen Situation vergleichen?
Im Grunde genommen ja. Damals, in der Erklärung von al-Qaida war die Palästina-Frage ein zentrales Motiv, mehrere der Attentäter waren palästinensischer Herkunft. Judenfeindschaft spielte für die Anschläge eine große Rolle, und es sind dieselben Bilder, mit denen heute argumentiert und agitiert wird. Religiös motivierter Judenhass wird geschürt, islamische Quellen für aktuelle politische Konflikte instrumentalisiert. Die Hamas ist eine durch und durch islamistische Organisation, die die Gesellschaft einem fundamentalistischen Islam vollständig unterordnen will. Es ist dieselbe Ideologie, auch wenn die nationalislamistische Hamas ohne die internationalen Bezugnahmen von al-Quaida agiert: Eine unterdrückte muslimische Welt sollte sich gegen die USA als Grund allen Übels erheben, heute existieren ähnliche Argumentationen gegen Israel. Intellektuelle, Philosoph*innen, Politiker*innen argumentieren, die Palästinenser*innen seien ein unterdrücktes Volk, das nichts zu verlieren habe und mit allem Mitteln Widerstand gegen die Kolonialmacht leisten müsse.

Am Antisemitismus als Legitimationsideologie hat sich in über 20 Jahren nicht groß geändert. Ich würde sogar sagen, er ist heute viel umfassender und breiter und stärker verankert, wird bewusster, offener artikuliert und erscheint vielen als „ehrbarer Antisemitismus“, wie Jean Améry es nannte: Es erscheint legitim und richtig, Israel zu hassen und zerstören zu wollen. Sogar Greta Thunberg als Ikone der Umweltbewegung mit großer Reichweite legitimiert die Zerstörung des Zionismus. Eine solche Breite und Offenheit gab es damals nicht.

Vor vier Jahren hast du ibim e.V., das Intersektionale Bildungswerk in der Migrationsgesellschaft, mit ins Leben gerufen. Was stellt ibim ins Zentrum seiner Arbeit?
ibim kann die Erfahrungen der letzten gut fünfzehn Jahre mitnehmen und in den Kontext intersektionaler Zugänge überführen. Jede Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat ihre Spezifika, aber gerade das Zusammenwirken von Feindlichkeiten und der Blick auf die Verflechtungen der verschiedenen Ausgrenzungsphänomene hilft Pädagog*innen. Uns geht es vor allem darum, dass wir Rassismus nicht allein auf der Ebene „weiß“ versus „of Color“, Mehrheitsgesellgesellschaft versus Minderheiten thematisieren wollen. Das übersieht viele Ungleichheitsverhältnisse, zum Beispiel die Diskriminierungserfahrungen von Menschen alevitischer Herkunft, kurdischer Herkunft usw., die türkischem Nationalismus und Rassismus ausgesetzt sind. Diese Ausgrenzungsmechanismen werden nicht gesehen, auch wenn Menschen und Communitys hier seit Jahrzehnten damit leben. Beispielsweise gibt es bei etwa 700 Berliner Schulen nur in fünf Schulen das Wahlpflichtfach Kurdisch. Theoretisch könnte es in fast allen Schulen Kurdischunterricht geben, wenn je zwölf Eltern sagen würden, sie wollen herkunftssprachlichen Unterricht für ihre Kinder. Gesetzlich ist das möglich, aber viele Kurd*innen wollen nicht, dass ihre Kinder durch so ein Angebot auffallen. Bei einer Fallbesprechung zu einem antikurdischen Vorfall an einer Schule sind unseren kurdischen Kolleg*innen dieselben Gefühle wieder hochgekommen, die sie damals in der Schule machen mussten. Sie haben ihr eigenes Trauma wiedererlebt, dieselben Erfahrungen, die sie vor über 20 Jahren gemacht haben. Dies zeigt, wie normalisiert diese Diskriminierungsform ist, die aber weitgehend ignoriert wird.

Wie kommt der Antisemitismus dort hinein?
Auch bei Antisemitismus geht es darum, ihn angesichts starker, beispielsweise antirassistischer Narrative, überhaupt erst sichtbar zu machen. Insbesondere jüdisch-israelische Perspektiven haben es nicht einfach, Gehör und Raum zu finden. Nach dem 7. Oktober haben wir gesehen, dass es eine Verweigerung gibt, israelische Perspektiven in die Bildungsarbeit einzubeziehen. Das wird aber umgedreht, indem behauptet wird, in Deutschland würde man israelische bzw. rechte israelische Perspektiven überall eins zu eins übernehmen. Teilweise geht die Verdrehung so weit, dass behauptet wird, muslimische oder arabische Identitäten würden in Schule und Gesellschaft unterdrückt und antimuslimischer Rassismus sei das eigentliche, virulentere Problem. Rassismus an Schulen ist leider eine etablierte Diskriminierung und teilweise wurden fatale Fehler gemacht, wenn etwa palästinensische Symbole wie die Kuffiya oder Fahnen pauschal verboten wurden. Das ist aber keine neue Entwicklung. Anders beim Antisemitismus, es ist brutaler Fakt, dass weltweit jüdisches Leben in Gefahr ist wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

Hat der 07. Oktober eure Arbeit verändert?
Es ist sehr verzwickt: Es gibt eine dominante Sichtweise, der zufolge die Deutschen angesichts der so genannten deutschen Staatsräson grundsätzlich israelsolidarisch seien, und gleichzeitig zeigen seit fast zwanzig Jahren Studien, wie stark der israelbezogene Antisemitismus in der Gesellschaft verankert ist. Wir erleben eine starke Entwicklung nach rechts und Antisemitismus ist integraler Bestandteil der extremen Rechten. Gleichzeitig finden gerade in Bezug auf Israel rechte Ideologeme wie das der „Lügenpresse“ auch in linken und bürgerlichen Kreisen hohe Zustimmung: Es wird behauptet, die Medien seien quasi gleichgeschaltet, würden nur israelische Propaganda wiedergeben und man dürfe nichts gegen Israel sagen. Viele suchen demgegenüber auf Social Media, und insbesondere auf arabischen, türkischen oder russischen Medien nach der Wahrheit. Dieser Diskurs macht vor den Toren der Bildungseinrichtungen nicht halt. Vermehrt hören wir diese oder ähnliche Positionen von Bildungsreferent*innen. Auch bei uns gibt es Widerstände, zum Thema Antisemitismus und Nahostkonflikt zu arbeiten.

Was kann Bildungsarbeit angesichts dieser Situation leisten?
ir müssen uns strenger und entschiedener mit Israelhass befassen und dürfen antisemitische Israelkritik nicht dulden. Dazu gehören israelfeindliche Haltungen in unseren eigenen Kontexten. Wer Israelhass verbreitet, ist kein legitimer Partner für Projekte und Programme. Gerade in den letzten etwa zehn Jahren wurden Akteure unterstützt, deren Haltung in diesen Fragen mehr als fragwürdig ist, vor allem islamische Verbände oder allgemein im Bereich der Rassismuskritik. Mit der Begründung, dass die Menschen gegen die Übermacht des mehrheitsgesellschaftlichen Rassismus gestärkt werden müssen, wurde eine gewisse Nähe beispielsweise zum türkischen Nationalismus und zu religiös-konservativen, im Kern teilweise islamistischen Islamverbänden als das kleinere Übel akzeptiert. Viele der Akteure schweigen zwar zu brisanten Themen, es wird aber zunehmend deutlich, dass dahinter oft Zustimmung zu antizionistischen Haltungen steckt. Die bereits angesprochene Millî Görüş-Bewegung ist der Träger von Antisemitismus in der türkischen Gesellschaft und in hiesigen türkeistämmigen Communitys. Millî Görüş ist aber fast überall ein akzeptierter Partner in Integrationsdebatten deutscher Eliten. Dem muss man mit Klarheit entgegentreten und eigene Strukturen schaffen, in denen Israelfeindlichkeit keinen Platz hat bzw. aktiv bekämpft wird. Akteur*innen in der antisemitismuskritischen Bildung müssen sich damit auseinandersetzen und ihre Arbeitsweisen überdenken. Stattdessen erleben wir, wie beispielsweise die Amadeu Antonio Stiftung und andere Träger, die deutlich israelsolidarisch sind, diffamiert und als rassistisch delegitimiert werden. Mit Imamen aus dem Netzwerk der Muslimbrüder, DITIB oder Millî Görüş haben einige weniger Probleme.

Wird Islamismus zu wenig thematisiert?
Der Umgang mit Islamismus ist interessant. Alle distanzieren sich von einem dschihadistischen Islamismus wie beim „Islamischen Staat“, aber dieselben antisemitischen Narrative bei Hamas und den Muslimbrüdern werden ignoriert. Dabei stützen sich alle auf dieselben Quellen, teilen dasselbe Weltbild und die Zielsetzungen. Im israelfeindlichen Spektrum wird die Hamas jetzt aber gefeiert, ihr werden legitime Motive und Ziele zugesprochen. Eine Auseinandersetzung mit der islamistischen Hamas würde dem antisemitischen Israelbild entgegenstehen, denn dann müsste die Hamas klar verurteilt und ihr entgegengetreten werden. Das Schweigen zu den brutal vergewaltigten Frauen spricht Bände. In Istanbul gingen am Internationalen Frauentag Zehntausende auf die Straße, im Mittelpunkt stand die Solidarität mit palästinensischen Frauen. Ich habe kein einziges Schild gesehen, das Solidarität mit den israelischen Opfern der Hamas ausdrückte. Überall wiegt der Hass gegen Israel schwerer als grundlegende feministische Anliegen.

Müssen wir eine neue Form von Solidarität mit Palästinenser*innen und neue Narrative anbieten, wenn überall vermeintliche Palästinasolidarität nur Ventil für Israelfeindschaft und Judenhass ist?
Wir müssen Wege suchen, eine antisemitismus- und rassismuskritische Palästinasolidarität zu stärken oder mit aufzubauen. Wie können die Selbstbestimmung der Palästinenser*innen und der Stopp von Menschenrechtsverletzungen vor allem in den besetzten Gebieten zum Thema werden, ohne eine Ausflucht in Israelfeindlichkeit zu suchen? Am ehesten sind es die arabischen Israelis bzw. Palästinenser*innen in Israel, die Vorbild sein können, die gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit jüdischen Israelis. Hiesige Akteur*innen fallen dahinter eher zurück, mit vielen ist eine Zusammenarbeit nicht möglich, Antizionismus kann keine Grundlage sein. In Deutschland sind es einzelne palästinensische Akteur*innen, die sich öffentlich deutlich von Israelhass distanzieren und keine einseitigen Narrative verbreiten. Auf sie müssen wir zugehen, mit ihnen arbeiten.

Aycan Demirel ist Vorstandsvorsitzender des Intersektionalen Bildungswerks in der Migrationsgesellschaft, IBIM e.V. Er hat in Berlin Publizistik, Politik und Geschichte studiert und 2003 die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.) mitbegründet, die er bis Ende 2019 geleitet hat. Demirel war von 2009 bis 2016 Mitglied bei dem ersten und zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages und ist seit 2019 Mitglied des Expert*innenkreises Antisemitismus des Berliner Senats.

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