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Tag der Pressefreiheit Angriffe auf Medien steigen rasant – wegen „Querdenken“

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Ein Journalist auf einer Demonstration gegen die "Bundesnotbremse" im April 2021: Im Tiergarten kippte die Stimmung, Demonstrierende griffen die Polizei an und kesselte sie ein. Die Polizei musste Pfefferspray einsetzen und sich teilweise zurückziehen.
Ein Journalist auf einer Demonstration gegen die "Bundesnotbremse" im April 2021: Im Tiergarten kippte die Stimmung, Demonstrierende griffen die Polizei an und kesselte sie ein. Die Polizei musste Pfefferspray einsetzen und sich teilweise zurückziehen. (Quelle: Nicholas Potter)

Die Zahlen malen ein düsteres Bild für die Pressefreiheit in Deutschland: 281 Behinderungen der Pressearbeit zählt die Gewerkschaft „ver.di“ im Jahr 2020, davon 56 tätliche Angriffe auf Journalist*innen. Auf ähnliche Zahlen kommen „Reporter ohne Grenzen“ und das „European Centre for Press and Media Freedom“ in Leipzig, die 65 bzw. 69 tätliche Angriffe registrierten. Ein alarmierender Trend: Denn die Zahl der Übergriffe hat sich innerhalb des vergangenen Jahres fast verfünffacht. Der Anstieg ist auf die „Querdenken“-Bewegung zurückzuführen: Über 70 Prozent der  Angriffe ereigneten sich im Rahmen der Proteste gegen Coronamaßnahmen. Wer dort berichtet, muss häufig mit Gewalt rechnen: Auch ein Reporter von Belltower.News wurde auf einer „Querdenken“-Demonstration in Stuttgart attackiert.

„Eine der Hauptgefahren für die Pressefreiheit in Deutschland sind aktuell die Corona-Proteste“, sagt Jörg Reichel, Landesgeschäftsführer der „Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union“ (dju), die in „ver.di“ organisiert ist, im Gespräch mit Belltower.News. „Es ist eine Bedrohung für die Journalist*innen, die zu diesen Protesten arbeiten.“ Journalist*innen berichten, dass sie auf „Querdenken“-Demonstrationen bedrängt, verfolgt, angespuckt, beleidigt und zum Teil auch sexualisiert beleidigt worden sind. Sie werden geschlagen, geschubst oder ihnen wird ins Gesicht gefasst. Ihre Kameras werden weggeschlagen. Demo-Teilnehmer*innen missachten Hygieneregeln, indem sie die hautnahe Konfrontation ohne Masken suchen. Zahlen von „ver.di“ für das erste Quartal 2021 zeigen: Der Trend setzt sich fort, es ist auch dieses Jahr mit einer vergleichbaren hohen Zahl an Angriffen auf Presse zu rechnen.

Auch Hendrik Zörner, Pressesprecher des „Deutschen Journalisten-Verband“ (DJV), sieht momentan die Hauptgefahr für die Pressefreiheit in Deutschland in den Gewalttaten gegen Journalist*innen von der „Querdenken“-Bewegung. „Die Hemmschwelle, körperliche Gewalt anzuwenden, wenn einem die Berichterstattung nicht passt, ist bedenklich tief gesunken“, sagt er Belltower.News. „Das haben wir in den letzten Jahrzehnten in Deutschland noch nicht erlebt.“ Zörner geht von einer höheren Dunkelziffer an nicht registrierten Angriffen auf Presse aus.

Der Anstieg der Gewalt gegen Journalist*innen hat eine große Auswirkung auf die Pressefreiheit in Deutschland. „Ein so anhaltendes medienfeindliches Klima in mehreren Städten Deutschlands haben wir seit Beginn unserer Auswertung im Jahr 2013 nicht beobachtet“, sagt Lisa Kretschmer von „Reporter ohne Grenzen“ im Gespräch mit Belltower.News. Als Folge ist Deutschland in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ zwei Plätze heruntergerutscht, von Platz 11 auf 13. „Die Lage der Pressefreiheit kann deshalb ab diesem Jahr nur noch als ‚zufriedenstellend‘ und nicht mehr als ‚gut‘ bezeichnet werden“, so Kretschmer.

Schuld an der Verschlechterung der Pressefreiheit in Deutschland ist allerdings nicht nur die „Querdenken“-Bewegung. Jörg Reichel findet auch kritische Worte für die Sicherheitsbehörden: „Die Polizeien gehören ja mit zu der Gruppe, die Presse behindert und auch zum Teil tätliche Angriffe auf Journalist*innen auf Demonstrationen ausübt“, so Reichel. So wollen Beamt*innen den bundeseinheitlichen Presseausweis, der von der Innenministerkonferenz anerkannt worden ist, nicht kennen. Oder Journalist*innen werden ohne Warnung einfach weggeschubst oder landen in Polizeimaßnahmen.

Reichel fordert daher bessere Schutzkonzepte für Journalist*innen auf Demonstrationen. Er bemängelt, dass es bisher noch keine bundesweite Strategie der Polizei im Umgang mit Medienvertreter*innen gibt. In Berlin und Sachsen gibt es bereits erste Schritte, wie abgesperrte Pressebereiche. Doch in vielen ländlichen Regionen haben die „Querdenken“-Protestler*innen freie Bahn – und können ungehindert die Presse angreifen. Ähnlich sieht es Zörner: „Da besteht seitens der Polizei leider oft noch viel Nachholbedarf.“ Kretschmer von „Reporter ohne Grenzen“ will daher mehr Dialog mit der Politik zum Schutz der Pressefreiheit, fordert aber auch konkrete Maßnahmen – wie die verbesserte Schulung und Ausbildung von Polizeipersonal, um eine unabhängige Berichterstattung zu schützen.

Doch ein weiteres Problem ist der Boom der rechtsradikalen und verschwörungsideologischen „Medienaktivist*innen“ auf Demonstrationen: Personen, die zum Beispiel der „Querdenken“-Bewegung nahestehen, die Proteste im Livestream filmen, sich aber gleichzeitig aktivistisch einmischen und an der Demonstration teilnehmen. Auch solche YouTuber sind häufig im Pressebereich anzutreffen. Sogar der NPDler Sebastian Schmidtke gibt sich auf Demonstrationen als Journalist aus – und kommt oft damit durch.

„Das ist eine sehr komplizierte presserechtliche Situation“, erklärt Jörg Reichel. „In der Praxis ist die Polizei auf Demos oft nicht qualifiziert genug, um einen sogenannten ‚Kaufausweis‘ oder vorgetäuschte journalistische Tätigkeit von echten Journalist*innen zu unterscheiden“. Doch es gibt einen großen Unterschied, einen wichtigen: „Ein echter Journalist ist jemand, der nicht aktivistisch auf einer Demo auftritt und der sich an den Pressekodex hält“, so Reichel weiter. „Diese ganzen Livestreamer halten sich ausnahmslos nicht an den Pressekodex, und auch nicht an das Kunsturhebergesetz, insbesondere mit dem Recht am eigenen Bild. Damit sind sie keine Journalisten.“ Diesbezüglich sei „ver.di“ mit der Polizei bereits in Dialog.

Einen bundeseinheitlichen Presseausweis bekommen nur diejenigen, die nachweisen können, dass sie hauptberuflich journalistisch tätig sind. Das überprüfen die Berufsverbänden, die solche Ausweise ausstellen dürfen: die dju/„ver.di“, der DJV, der „Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger“ und der „Verband Deutscher Zeitschriftenverleger“. „In der Regel bekommen wir keine Anträge für Presseausweise von Autor*innen, die ihre Tätigkeit mit Redaktionsaufträgen von rechtsradikalen Medien nachzuweisen versuchen“, berichtet Reichel. Es habe aber Fälle gegeben, wo Journalist*innen, die bereits einen Presseausweis hatten, in die rechtsradikale oder verschwörungsideologische Publizistik gewechselt seien. Denen seien die Ausweise dann entzogen worden, so Reichel. „Mit der Begründung, dass es keine Nachweise mehr gab, dass sie hauptberuflich als Journalist*innen tätig sind“.

Inzwischen wird „Querdenken“ bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet. Ein Schritt, den Zörner begrüßt: „Sie spielen eine entscheidende Rolle, was die Gefahr für die Pressefreiheit angeht. Deshalb ist es richtig“. Doch Reichel ist skeptisch, vor allem wenn es nur darum gehen soll, V-Leute in der Szene einzusetzen. „Man muss sich nur anschauen, was beim NSU-Komplex passiert ist“. Im vergangenen Jahr hat Reichel über 200 Demonstrationen von Pandemieleugner*innen beobachtet. „Dass wir wissen, wer die Corona-Protestler*innen sind und wie sie mit rechtsradikalen Parteien und Strukturen verschränkt sind, das haben wir den mutigen Journalist*innen zu verdanken, die vor Ort und im Netz recherchieren“, so Reichel. „Daher ist es immens wichtig, dass Politik und Polizei diese Journalist*innen schützt, damit dieser rechten Bewegung Grenzen gesetzt werden.“ Denn in einer Demokratie kann man eine freie Presse schlicht nicht ersetzen. Auch nicht durch eine Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden.

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