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Rezension Eine „andere Art“ der Aufarbeitung des NS und des jüdischen Lebens in der DDR?

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Ausschnitt aus dem Titelbild der "Diplomatie der Aufarbeitung" von Jonathan Kaplan. (Quelle: Hentrich & Hentrich Verlag)

Ein kritischer Umgang mit der Geschichte der DDR ist in der vereinigten Bundesrepublik weiterhin wichtig. Bis heute überdauern Elemente der antifaschistischen Ideologie der DDR, bis heute wird bei manchen Autor:innen ihre antifaschistische Praxis bewundert.[1] Anders als häufig angenommen, widersprachen Theorie und Praxis des Antifaschismus der DDR aber einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Zivilisationsbruch, der radikalen Delegitimierung und Diskreditierung des Nationalsozialismus sowie einer Würdigung seiner jüdischen und aller anderen Opfer.

Leider begeben sich nur wenige in dieses Forschungsfeld. Seit den Tagen der beiden Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages meiden die meisten DDR-Forscher:innen die Themen (1) Antisemitismus und Rassismus in der DDR, das (2) Leben von Nicht-Deutschen, Vertragsarbeitern, Juden und anderen Minderheiten in der DDR, die (3) Geschichte des Führungspersonals und der Fußtruppen des Nationalsozialismus in der DDR, die (4) Auseinandersetzung mit der Frage, welche Schlussfolgerungen Staat und Bürger der DDR aus dem Nationalsozialismus und insbesondere aus der Shoah zogen sowie (5) ob und wie die alten Nazis ihre Haltungen auch in der DDR an die nachfolgenden Kinder- und Enkelgenerationen weiter gaben. Kurz, die DDR wird leider nur ganz selten, zum Beispiel in den Büchern von Jeffrey Herf, als eine der drei Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus analysiert.[2]

Ein neues Buch, das sich auf den ersten Blick solche Scheuklappen nicht aufzusetzen scheint, hat Jonathan Kaplan verfasst. Kaplan ist ein 1983 geborener Historiker und Politikwissenschaftler, war 2015 – 2018 im Förderprogramm des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks, 2018 – 2019 Junior Fellow am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Studien (WWI). Er hat sich mit seiner Studie über den Umgang des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) mit dem Nationalsozialismus das Ziel gesetzt, den Umgang der DDR mit dem Nationalsozialismus insgesamt sichtbar zu machen.

Nazis in der Außenpolitik der DDR

Kaplans Untersuchung zum Forschungsstand der Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Licht der DDR-Außenpolitik[3] erörtert, dass eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus, den die SED als Faschismus analysierte, aus dem Selbstverständnis der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gar nicht nötig war. Mit der Entmachtung der industriellen und agrarischen Eliten der faschistischen Gesellschaft war in ihren Augen der Faschismus zerstört und galt damit insgesamt als überwunden. Die Integration kleiner und größerer Nazis, deutscher Soldaten und ihrer Familien sowie anderer, an Krieg und Verbrechen beteiligter Gruppen in die neue sozialistische Gesellschaft, stand für DDR-Staatslenker deshalb auch nicht im Widerspruch zur antifaschistischen Orientierung.

Im Außenministerium der DDR galt zum Beispiel der Einsatz ehemaliger Soldaten der Wehrmacht – Christoph Seitz, Günter Doberenz, Heinz Oelzner, Herbert Kröger – nicht als Bruch mit dem Antifaschismus. Das galt selbst dann, wenn sie in diplomatischen Vertretungen von Ländern eingesetzt wurden, die von der Wehrmacht überfallen worden waren.

Der erste Außenminister der DDR, Georg Dertinger, der für das Nazi-Reichspropagandaministerium gearbeitet hatte, wurde 1953 nicht wegen seiner Tätigkeit für die Nazis verhaftet und später zu 15 Jahren Haft verurteilt. Angeblich hatte sich der stellvertretende Vorsitzende der DDR-CDU mit Mitverschwörern die Wiedereinführung des Kapitalismus in der DDR zum Ziel gesetzt. Dertingers Gegner versuchten bei seiner Inhaftierung 1953 und seiner Verurteilung alle Hinweise darauf zu vermeiden, dass es sich bei ihm um einen Mitarbeiter des Nazi-Reichspropagandaministeriums gehandelt hatte.

Kaplan zeigt an vielen verschiedenen Beispielen der auswärtigen Politik der DDR, dass sich der Antifaschismus mit der Integration von Nazis in die neue Gesellschaft gut vertrug. Leider analysiert er die ideologischen Beweggründe dieses Integrationsprozesses nicht. Er untersucht auch nicht, warum die DDR von „Faschismus“ sprach und nicht von Nationalsozialismus. Dass sich erst die im März 1990 neu gewählten Abgeordneten der DDR-Volkskammer zur Verantwortung und Haftung für Shoa, den Völkermord an Sinti und Roma und die anderen deutschen Verbrechen bekannten, beschreibt und analysiert Kaplan in seinem Buch nirgendwo.[4]

Kommunisten jüdischer Herkunft prägen Außenpolitik der DDR maßgeblich?

Bei der Untersuchung zum Umgang der auswärtigen Politik der DDR mit Kommunisten aus jüdischen Familien[5] erläutert Kaplan, ganz zur Überraschung der Leser:innen, dass er sich mit der Frage, ob Innen- und Außenpolitik der DDR auch antisemitisch motiviert waren, „nicht auseinandersetzen“[6] werde.

Damit schließt Kaplan nicht nur eine Fragestellung aus seiner Untersuchung aus. Er beschäftigt sich mit zwei historischen Phasen der DDR-Außen- und -Innenpolitik nicht, die inzwischen gut recherchiert sind.[7] Kaplan untersucht die Übernahme der antisemitischen Kampagnen in der Sowjetunion und anderen sowjetischen Sattelitenstaaten in die DDR nicht, in der Juden und Westemigranten als Feinde des Sozialismus attackiert wurden, die angeblich von westlichen Geheimdiensten beauftragt wurden, den Sozialismus zu zerstören. Er untersucht außerdem die mit dem 6-Tage-Krieg 1967 beginnende militärische Unterstützung der DDR für die arabischen Staaten und palästinensischen Organisationen nicht, die Kriege zur Vernichtung Israels führten.

Kaplan will stattdessen die Biografien von DDR-Politikern untersuchen, die in der Außenpolitik tätig waren und aus jüdischen Elternhäusern stammten. So glaubt er, lässt sich der Charakter der DDR-Außenpolitik besser fassen.

Bei der Untersuchung verschiedener solcher Lebensläufe, zum Beispiel Friedrich Wolf, Hermann Axen und Albert Norden, kommt Kaplan zu dem Ergebnis, dass „ihre jüdische Geschichte trotz Ablehnung ihres ´Judentums` ihre persönliche und politische Entwicklung“ bestimmt habe. Mehrere von ihnen, hätten sich „sogar an der antiisraelischen Propaganda der DDR“ beteiligt, die „in ausländischen jüdischen Kreisen, wie bspw. Israel als antisemitisch betrachtet wurde.“[8]

Kaplan zeigt an vielen verschiedenen Beispielen, dass der Antifaschismus der DDR sich mit der Integration ganz bestimmter Menschen aus jüdischen Elternhäusern in die neue Gesellschaft vertrug. Leider analysiert er auch hier die ideologischen Gründe für diesen Integrationsprozess nicht. Dass die DDR andere Menschen aus jüdischen Elternhäusern nicht integrierte oder verfolgte, zum Beispiel solche, die Israel unterstützten, taucht in seinem Buch nicht auf. Dass zu Beginn der 50er Jahre die DDR große Teile der in der DDR lebenden Juden vertrieb, fehlt in seiner Darstellung vollständig.

Da Kaplan sich weigert, die wesentlichen Ereignisse antisemitischer Politiken der DDR und ihre ideologischen Hintergründe zu analysieren, auf ihre Existenz wenn überhaupt, dann vor allem in der Darstellung bei Kommunisten aus jüdischen Familien in der Führung der DDR hinweist, könnten die Leser:innen den Eindruck gewinnen, antisemitische Elemente der DDR-Politik seien vor allem von Kommunisten aus jüdischen Elternhäusern formuliert worden.

Das „Braunbuch“ und die Aufarbeitung deutscher Verbrechen

Kaplans Untersuchung antifaschistischer politischer Kampagnen in der DDR-Außenpolitik konzentriert sich auf das 1965 von Albert Norden – einem Sohn aus jüdischem Elternhaus, der sich jedoch bereits in jungen Jahren von seinen jüdischen Wurzeln abwandte – herausgegebene „Braunbuch“ und seine Verwendung von Politikern und Diplomaten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die DDR „mit der Selbstdarstellung als ´Nazi-Jägerin` (…), politische und moralische Achtung auf internationaler Ebene zu gewinnen“ versuchte.[9]

Eine herausgehobene Beachtung findet in diesem Teil der Untersuchung der Kontakt von Mitarbeitern des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR mit Rabbiner Samuel Burr Yampol aus Chicago. Breit dokumentiert Kaplan die anfänglich erfolgreichen Versuche von DDR-Funktionären den Rabbiner für die Verbreitung eines positiven Bildes von der DDR – eines Staates, der den Nationalsozialismus bekämpfte – in den USA zu gewinnen.

Die Versuche scheiterten jedoch mit dem 6-Tage-Krieg 1967. Samuel Burr Yampol begann die DDR deutlich dafür zu kritisieren, dass sie keine Haftung für die Naziverbrechen übernommen hatte, keine Entschädigung für die deutschen Verbrechen an Israel bezahlte, mit den Feinden Israels zusammenarbeitete, sie sogar militärisch unterstützte und Akten aus DDR-Archiven über Nazis in der Bundesrepublik nicht an die Bundesrepublik aushändigte, um der dortigen Justiz Material für ihre Verfahren gegen Nazis an die Hand zu geben.

Weil Kaplan aber auch das „Braunbuch“ nicht in den Kontext der antifaschistischen Ideologie und Praxis der DDR stellt, gelingt es ihm nicht, dessen innere Spannung zu analysieren, die der Rabbiner Samuel Burr Yampul aus Chicago ganz mühelos erkannte.

Fehlende Nationalsozialismus- und Antifaschismus-Analyse

Die Idee des Buches von Jonathan Kaplan, Kontinuität und Diskontinuität der nationalsozialistischen Gesellschaft in der DDR in den Blick zu nehmen und das Auswärtige Amt der DDR als exemplarischen Fall des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in der DDR insgesamt zu betrachten, klingt überzeugend. Es gibt nur wenige andere Autoren, die einer solchen Forschungsstrategie folgen.

Die Behauptung aber, es handele sich beim DDR-Antifaschismus um eine „andere Art von ´NS-Vergangenheitsbewältigung`“, so formuliert es der Klappentext auf der Rückseite des Buches, ist falsch. Der Sozialhistoriker Kaplan unternimmt keine detaillierte Analyse der antifaschistischen Ideologie der DDR. Es geht in dieser auf der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie basierenden Ideologie nicht um eine kritische Analyse und Aufarbeitung des deutschen Zivilisationsbruchs. [10]

Ihre Vertreter erkennen im Faschismus – bis heute – lediglich Verbrechen der Machtgruppen des Kapitalismus. Als Opfer des deutschen Faschismus gelten vor allem Arbeiter, Bauern und andere Teile der Zivilbevölkerung in den von den deutschen Nazis besetzten Ländern und im Deutschen Reich selbst. Die Shoah und der Antisemitismus, die wesentliche Ideologie des deutschen Nationalsozialismus und sein Kernverbrechen wie seine Opfergruppen, tauchen in den marxistisch-leninistischen Faschismus-Analysen selten oder gar nicht auf. Antisemitismus, der fälschlich als besondere Form des Rassismus dargestellt wird, gilt, sofern er überhaupt benannt wird, lediglich als Instrument der herrschenden Klassen zur Desorientierung und Verführung unterworfener und ausgebeuteter Proletarier, er existiert angeblich nur in kapitalistischen Ländern.[11] Aus der Sicht der DDR-Außenpolitik damals – und nicht weniger radikaler und weniger radikaler Linker bis heute -, existiert er vor allem in den USA, Israel und der BRD. Der Zionismus, der Staat Israel und Juden, die an ihrer jüdischen Tradition und ihrer Mitgliedschaft in den Gemeinden festhalten, oder den Staat Israel verteidigen, galten damals und bei manchen Linken bis heute als „nationalistisch“, „rassistisch“ oder gar „faschistisch“.

Die große Masse der Anhänger, Mittäter und Mitläufer des Nationalsozialismus, der Soldaten wie der Angestellten und Beamten der Institutionen wurden in der DDR als Verführte und Opfer eines deutschen Faschismus betrachtet und von den DDR-Staatslenkern nach 1945 in viele gesellschaftliche Bereiche integriert, so auch ins Außenministerium.[12]

Das Außenministerium bildete in diesem Fall jedoch kein exemplarisches Beispiel für den Umgang der DDR mit dem Nationalsozialismus. Während im Außenministerium nur wenige Nazis unterkamen, bildeten in vielen anderen gesellschaftlichen Sphären, Antifaschisten, Juden und andere überlebende Opfer des Nationalsozialismus eine sehr kleine Minderheit.[13]

Eine „andere Art“ von jüdischem Leben in der DDR?

Kaplan weigert sich außerdem, wie oben zitiert, der Frage nachzugehen, ob die DDR-Staatslenker antisemitisch motivierte Politik nach außen und innen betrieben. Ganze Bereiche der DDR-Außen- und Innenpolitik, ganze Bereiche der DDR-Gesellschaft klammert Kaplan zu diesem Zweck aus seiner Untersuchung aus.

Die Ergebnisse seiner stattdessen angestellten Untersuchungen zu den Biographien jüdischer Kommunisten in führenden Positionen der DDR, fasst Kaplan an verschiedenen Stellen seiner Publikation zusammen: „Die Haltung der DDR gegenüber ihren jüdischen Bürgern fand ihren Ausdruck in den Lebensläufen und in den beruflichen Entwicklungen dieser Personen – in den Anfangsjahren (vorrangig in den Fünfzigerjahren und während der stalinistischen bzw. antisemitischen ´Säuberungen`) durch die unter anderem selbstkritische Abgrenzung dieser Personen von ihrer eigenen jüdischen Identität. Die politische Spannung zwischen der DDR und Israel, bzw. zwischen dem Westen und dem Ostblock, kommt in der politisch-diplomatischen Arbeit dieser Persönlichkeiten zum Tragen.“[14] Oder: „Neben den offiziellen Kulturgemeinden schaffte die DDR eine andere Art von jüdischem Leben und zwar als Teil der politischen Führung.“[15]

Wohin Kaplans Weigerung führt, sich mit Antisemitismus in der DDR auseinanderzusetzen, erkennt die Leser:in an seiner Untersuchung der außenpolitischen Initiativen der DDR. Kaplan betont zwar, dass die Auffassung der DDR-Funktionäre, jüdische Persönlichkeiten seien eine der einflussreichsten Gruppen in den USA und müssten deshalb für ein positives DDR-Bild gewonnen werden, selbst „als antisemitisches Vorgehen zu bewerten“[16] sei. Die „DDR-Politik zu beurteilen und zu entscheiden, ob dieser Staat antisemitisch war oder nicht“[17], beabsichtige er jedoch nicht.

Im unmittelbaren Anschluss an diese Bemerkungen weist Kaplan darauf hin, dass die Notwendigkeit, jüdische Personen in den USA für die DDR zu gewinnen, von den SED-Funktionären, „unter denen auch viele Juden saßen“[18], artikuliert worden sei. Und er fügt hinzu, dass die Vorstellung, dass das „amerikanische Judentum“[19] eine der einflussreichsten politischen Gruppen in den USA sei, nicht nur in der DDR gegolten habe, sondern „bis heute“[20] gälte. Der große politische Einfluss der „jüdischen Gemeinde in den USA ermöglichte die Verwendung von antisemitischen Vorurteilen in der DDR-Propaganda, wenn Sie z. B. über das ´amerikanische Kapital` sprach.“[21]

Will Kaplan den Lesern also sagen, dass antisemitische DDR-Außenpolitik in doppelter Weise von Juden selbst verursacht wurde? Einmal von den mächtigen Juden in Amerika, die wesentlichen Einfluss auf die Politik der USA hatten und haben und deshalb selbst dafür verantwortlich sind, dass das antisemitische Weltanschauungsmuster übergroßer jüdischer Macht hervorgerufen wird? Außerdem von Kommunisten jüdischer Herkunft in der DDR, die die Strategie der Beeinflussung der einflussreichsten Lobbygruppe in den USA entwarfen und selbst sehr großen Einfluss auf die DDR-Politik hatten? So formuliert es Kaplan nicht wortwörtlich. Aber die Formulierungen dieser Passage seines Buches lassen sich kaum anders deuten.

Fehlende Diktatur-Kritik

Warum der Sozialhistoriker Kaplan neben einer fehlenden Analyse der antifaschistischen Ideologie der DDR diese Gesellschaft nicht als Diktatur entschlüsseln kann, die eine breite, öffentliche, unzensierte Debatte über den Nationalsozialismus, Verantwortung und Haftung der Deutschen, Entschädigungsansprüche und Identität ihrer Opfer gar nicht erst zuließ – und eine solche Verantwortung und Haftung erst wenige Monate vor ihrer Auflösung unternahm -, sondern eine antifaschistische Ideologie verordnete, der sich alle Bürger, auch die Juden unter ihnen, unterwerfen mussten, ist dem Rezensenten unerklärlich.

Kaplan selbst rechtfertigt es: „Trotz des inneren und äußeren Drucks und der klaren undemokratischen Zustände in der DDR verkörperte die offizielle ostdeutsche Selbstbestimmung als antifaschistisches Land einen Ersatz für die Prozesse, die in der Bundesrepublik stattfanden. Folglich kann die antifaschistische Prägung der DDR als Teil der DDR-Version der Vergangenheitsbewältigung gelten.“[22]

Aufgeklärte historische Analysen gehen davon aus, dass ohne Mindestbedingungen einer Demokratie, ohne Gewaltenteilung, Pressefreiheit und ohne unabhängige Justiz, freie, ihr Leben selbst bestimmende und verantwortende Individuen nicht existieren können. Eine adäquate justizielle Auseinandersetzung mit dem deutschen Zivilisationsbruch und eine intellektuell-moralische Auseinandersetzung, die diesen Namen auch verdient hat, waren und sind ohne solche Voraussetzungen unmöglich.

Kaplan wischt dies mit dem Hinweis vom Tisch, dass auch in der Demokratie der alten Bundesrepublik, trotz Gewaltenteilung, Pressefreiheit und unabhängige Justiz, Nazis in die neue Gesellschaft nach 1945 integriert wurden. Dort sogar seien es noch viel mehr gewesen, als in der DDR. Die beiden deutschen Staaten hätten „Kompromisse zwischen ihren propagandistischen und politischen Zwecken und dem unmittelbaren Bedarf an neuen professionellen Arbeitskräften für die politische Verwaltung eingehen“[23] müssen. Kaplan verneint eine prinzipielle Überlegenheit demokratischer Verhältnisse gegenüber Diktaturen mit dem Hinweis auf die zweifellos nur in Spuren vorhandene demokratische Lebenskultur in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre.

Fazit

Wer, wie der Rezensent, ein Buch sucht, in dem der Umgang des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR mit dem Nationalsozialismus als exemplarisches Beispiel dafür analysiert wird, wie die DDR insgesamt mit dem Nationalsozialismus umging, dem ist diese Publikation nicht zu empfehlen.

Kaplan versteht die Transformation vom deutschen Nationalsozialismus in eine diktatorisch-sozialistische Gesellschaft nicht. Er weigert sich zu analysieren, dass die DDR überhaupt eine Diktatur war und schon deshalb von einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung und Delegitimierung des Nationalsozialismus keine Rede sein konnte. Er sieht zwar, dass die DDR die große Masse der bis 1945 Hitler folgenden Bevölkerung in allen Bereichen der Gesellschaft integrierte. Er relativiert diesen Vorgang jedoch damit, dass er in der Bundesrepublik viel größere Ausmaße und problematischere Konsequenzen gehabt habe.

Kaplan weigert sich zu analysieren, dass die diktatorische DDR zu Beginn der 50er Jahre große Teile der jüdischen Bevölkerung vertrieb und seit dem Ende der 1960er Jahre arabische Länder und palästinensische Organisationen in ihrem Krieg zur Vernichtung Israels unterstützte. Er kann deshalb auch nicht erkennen, dass die legitimierte Vertreibung vieler Juden aus der DDR zu Beginn der 50er Jahre sowie die offen demonstrierte und legitimierte militärische Unterstützung der Feinde Israels seit 1967 wichtige Elemente bei der Integration von Nazis in die DDR-Gesellschaft bildeten. [24]

Kaplan folgt der antifaschistischen Selbst-Mystifizierung der in ihrer Mehrheit nicht aus jüdischen Elternhäusern stammenden DDR-Staatslenker und deutet die Ideologie des Antifaschismus, die er an keiner Stelle seiner Untersuchung ausführlich analysiert, als „andere Art von ´NS-Vergangenheitsbewältigung`“. Er weigert sich, der Frage nachzugehen, ob diese Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die von vielen deutschen Nicht-Juden propagierte Faschismustheorie, selbst antisemitische Diskurse und Politiken hervorbrachte und setzt dagegen die Behauptung, die DDR habe, neben „den offiziellen Kulturgemeinden (…) eine andere Art von jüdischem Leben“ geschaffen, und „zwar als Teil der politischen Führung.“[25] Wenn Kaplan überhaupt auf antisemitische Auffassungen zu sprechen kommt, dann im Kontext von Kommunisten aus jüdischen Elternhäusern in der Führung der DDR. Das ist grob irreführend.

Die Idee Kaplans, die Politik des Außenministeriums der DDR als exemplarisches Beispiel für den Umgang der ganzen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus zu untersuchen, ist großartig, ihre Durchführung jedoch scheitert. Der wesentliche Grund für das Scheitern liegt darin, dass Kaplan den Antifaschismus der DDR für bare Münze nimmt, ihn nur ungenügend ideologiekritisch durchdringt. An mancher Stelle des Buches erkennt die Leser:in sogar problematische Übernahmen antisemitischer Stereotype der Ideologie des DDR-Antifaschismus.

Jonathan Kaplan, Diplomatie der Aufarbeitung. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und die nationalsozialistische Vergangenheit, Leipzig, Hentrich & Hentrich 2022, ISBN 978-3-95565-468-9, 313 S., 29.90 Euro

 

Die Tagung „…und der Zukunft zugewandt? – Über jüdische Geschichte[n] in der DDR“ des Moses Mendelsohn Zentrum: https://www.mmz-potsdam.de

 


Fußnoten:

[1] Siehe zum Beispiel: Susan Neiman, Erinnerung aus dem Kalten Krieg, in: Susan Neiman, Von den Deutschen Lernen, Berlin 2020, S. 120 – 190.

[2] Siehe: Martin Jander, Jeffrey Herf über „Holocaust Inversion“ in der deutschen Außen- und Innenpolitik, in „belltower news“ vom 16. Dezember 2019.

[3] Siehe: „Die DDR-Vergangenheitsbewältigung im Licht der Außenpolitik: Historiographischer Forschungsstand“, in: Kaplan, Diplomatie, S. 31 – 88 und „Der diplomatische Kader der DDR und die Vergangenheitsbewältigung der DDR“, in: Kaplan, Diplomatie, S. 89 – 158.

[4] Siehe: Antrag aller Fraktionen der Volkskammer der DDR zu einer gemeinsamen Erklärung der Volkskammer vom 12. April 1990 (vgl. Bundestag.de).

[5] Siehe: „Die jüdischen Diplomaten der DDR und die Politik Israels gegenüber Deutschland“, in: Kaplan, Diplomatie, S. 159 – 216.

[6] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 164.

[7] Siehe insbesondere: Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung, Berlin 1998; Jeffrey Herf, Unerklärte Kriege gegen Israel, Göttingen 2019; Thomas Haury, Antisemitismus von links, Hamburg 2002; Karin Hartewig, Köln 2000.

[8] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 216.
[9] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 285.

[10] Kaplan referiert lediglich den Gründungsmythos der DDR (Kaplan, Diplomatie, S. 39 – 41). Eine ausführliche Auseinandersetzung damit, was die DDR unter Faschismus verstand und demzufolge unter Antifaschismus, so wie das zum Beispiel Jeffrey Herf darstellte (Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung, Berlin 1998) analysiert, fehlt bei Kaplan.

[11] Siehe dazu: Anetta Kahane, Von der ideologischen Schuldabwehr zur völkischen Propaganda, in: Enrico Heitzer, Martin Jander, Anetta Kahane, Patrice Poutrus (Hrsg.), Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR, Schwalbach 2018, S. 264 – 275.

[12] Siehe dazu: Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005.

[13] Siehe zum Beispiel: Judith Kessler, Fast „unsichtbar“ – Juden in der SBZ/DDR 1945–89, in: hagalil vom 17. November 2014.

[14] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 288-289.
[15] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 216.
[16] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 228-229.
[17] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 229.
[18] Zitiert nach: Ebenda.
[19] Zitiert nach: Ebenda.
[20] Zitiert nach: Ebenda.
[21] Zitiert nach: Ebenda, Text der Fußnote 851.
[22] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 39.
[23] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 46.

[24] Vgl. hierzu: Jeffrey Herf, Hegelianische Momente, in: Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan, Frankfurt 2003, S. 198 – 209.

[25] Zitiert nach: Kaplan, Diplomatie, S. 216.

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