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„Trauermarsch“ mit 1000 Neonazis in Bad Nenndorf

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Ähnlich wie Polizisten gekleidet gelang es vier Nazigegnern auf der nur einen knappen Kilometer langen Aufmarsch-Strecke eine Beton-?Pyramide? von einem Fahrzeug zu laden und sich daran festzuketten. Währenddessen sammelten sich vor dem Bahnhof des 10-000-Einwohner-Orts im Kreis Schaumburg Hunderte Rechte. Da die Polizei die Pyramiden-Blockade nicht schnell genug entfernen konnte, wurde der Neonazi-Aufzug an den Gegendemonstranten vorbeigeleitet. Eine weitere gute Gegenaktion: Mitglieder des Sportvereins VfL Bad Nenndorf, die eigentlich auf einer Terrasse an der Neonazi-Demonstrationsroute zum Frühstück verabredet waren, entschlossen sich spontan, sich gegen die Neonazis auf die Straße setzen und Friedenslieder zu singen.

Erst am Vorabend war eine vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angemeldete Demo vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht erlaubt worden. Der Landkreis hatte am Mittwoch sowohl die DGB-Versammlung als auch den Neonazi-?Trauermarsch? aufgrund eines angeblichen ?polizeilichen Notstands? verboten, ein Gericht hob das Verbot des rechten Marsches auf, die Gegendemo blieb jedoch untersagt. Erst in letzter Minute ließ das Oberverwaltungsgericht am Freitagabend eine stationäre DGB-Kundgebung zu. Trotzdem kamen laut Polizei etwa 900 Demonstranten zu der Versammlung. Insgesamt wurden 17 Menschen festgenommen und sechs Personen verletzt.

Der geschichtsrevisionistische ?Trauermarsch? der Neonazis konnte nicht nur wegen der Blockade nicht reibungslos ablaufen. Außerdem hatten die Rechtsextremen zu wenig Ordner ohne Vorstrafen. Erst mit über drei Stunden Verspätung liefen die Neonazis los zum Wincklerbad, einem ehemaligen britischen Militärgefängnis.

Als Organisations-Trio traten Versammlungsleiter Matthias Schulz aus Verden, der Düsseldorfer Neonazi Sven Skoda und Marcus Winter aus Minden auf. Winter ist der Initiator des ?Trauermarschs?, konnte an den letzten beiden jedoch nicht teilnehmen, da er eine Haftstrafe ? unter anderem wegen Volksverhetzung ? verbüßen musste.

Sogar einen Hubwagen hatten sich die Nazis geliehen, um vor dem Wincklerbad ein zehn Meter langes Transparent mit der Forderung ?Besatzer raus? zu hissen. Reden hielten Patrick Fischer aus Chemnitz, ein Kamerad aus Sachsen-Anhalt und Winter. Moderiert wurde von Skoda. Zwei Redner ließ die Polizei nicht ans Mikrofon: Die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel aus Vlotho (Kreis Herford) und das Verdener NPD-Kreistagsmitglied Rigolf Hennig.

Seitdem die regionale Neonazi-Szene 2006 das Thema Wincklerbad entdeckt hat, gibt es jährlich die inzwischen bundesweit bedeutenden ?Trauermärsche?. In dem britischen Internierungslager Wincklerbad wurden 1945 bis 1947 anfangs NS-Funktionäre und später mutmaßliche Sowjet-Spione vom Geheimdienst verhört und gefoltert. Drei Menschen starben an der Folter, es kam zu Prozessen gegen die Verantwortlichen. Die Regierung schloss nach Aufdeckung der Geschehnisse durch das britische Parlament das Gefängnis. Anhand dieses Einzelfalles wollen die Neonazis die ?Befreierlüge? entlarven und die Alliierten als die wahren Verbrecher darstellen. 2006 zogen zum ersten ?Trauermarsch? knapp 100 Rechte durch Bad Nenndorf, zwei Jahre später waren es über 400, 2009 dann rund 800 Teilnehmer. Der Aufmarsch zum ?Folterlager? ist bundesweit eines der wichtigsten Neonazi-Events.

Vor allem ?Kameradschaften? kamen in den Kurort. Unter den Teilnehmern war Roy Armstrong-Godenau, ein aus den USA stammender Antisemit. Auch wieder dabei: Zahlreiche ehemalige Aktivisten der verbotenen ?Heimattreuen Deutschen Jugend? (HDJ) und eine Trommlergruppe. Neonazi-Funktionäre wie Thomas ?Steiner? Wulff und Christian Worch blieben dem Aufmarsch hingegen fern. Bis 2030 sind die Märsche jährlich angemeldet.

Die Stimmung unter den größtenteils weiß gekleideten Rechtsradikalen war aggressiv. Während der Kundgebung am Wincklerbad schlug ein ?Trauernder? plötzlich auf einen Pressevertreter ein. Einen weiteren Fotografen sollen Neonazis nach der Demonstration attackiert haben.

Wieder am Bahnhof sangen die ?Trauermarsch?-Teilnehmer das HJ-Lied ?Ein junges Volk steht auf?, das in Nenndorf per Auflage verboten worden war. Die Polizei drohte zwar in einer Durchsage Konsequenzen an, doch nahm nicht die Personalien der Singenden auf ? weil zu wenig Einsatzkräfte vor Ort waren, wie es auf der Pressekonferenz am Abend hieß.

Mit der Bahn reiste der Großteil der Neonazis abends aus Bad Benndorf ab. Marcus Winter meldete in Minden noch eine Demonstration an, die um 20 Uhr am Bahnhof starten sollte. So wollte er die Polizei dazu zwingen, die noch eingekesselten Rechtsradikalen am Umsteigebahnhof in Haste bei Bad Nenndorf in Zügen abfahren zu lassen ? mit Erfolg. In Minden sammelten sich etwa 50 Neonazis am Bahnhof, marschierten jedoch nicht. Rund 50 Neonazis versuchten in der Nacht in Wunstorf (Region Hannover) ein Jugendzentrum anzugreifen. Jugendliche verbarrikadierten sich, die Polizei verhinderte Schlimmeres.

Mit freundlicher Genehmigung des Autoren und von indi-rex.com – da gibt es auch noch mehr Fotos vom Aufmarsch (im Laufe des Tages).

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