Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Warum wir den Islamischen Staat und Islamophobie abschaffen sollten

Von|
Der Begriff "Islamophobie" kommt in den besten Umgebungen vor: Aber Rassismus ist keine Angststörung. (Quelle: Screenshot Spiegel Online)

In Deutschland grassiert die Angst vor dem Islam. Und das nicht erst seit den Pegida-Aufmärschen und dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo. Nach aktuellen Studien fühlen sich 57 Prozent der Deutschen vom Islam bedroht. Umfragen von 2005 zeigen darüber hinaus, dass über 60 Prozent meinen, vom Radikal-Islamismus besessene Terroristen fänden bei anderen Muslimen starken Rückhalt und würden von ihnen als Helden verehrt.

Wie Politik und Medien sprechen

Während dieses Lauffeuer viele Bürger ratlos den Kopf schütteln lässt, liegt seine schnelle Verbreitung aus kognitionslinguistischer Perspektive fast schon unerhört deutlich auf der Hand. Pegida und radikal-islamistische Terroristen haben nämlich aus sprachlicher Sicht mächtige Verbündete in Deutschland: die Politik und die Medien. Gleich welcher Couleur, sie leisten ihnen Beistand, wenn es um die Verbreitung von Angst vor dem Islam und die Verharmlosung anti-muslimischen Gedankenguts geht. Ungewollt, sicherlich. Aber dennoch höchst effektiv.

Unsere öffentliche Debatte ist von riskanten Sprachbildern geprägt. Radikal-islamistischer Terrorismus wird von uns über Begriffe wie „Islamischer Staat“, „Gotteskrieger“ und „Gottesstaat“ sprachlich zum Protoyp des Islam erhoben, während eine anti-muslimische Geisteshaltung zugleich über die Bezeichnung „Islamophobie“ als Angststörung bagatellisiert wird.

Wie wir uns über die öffentliche „Islam“-Debatte unser Denken einreden

Das ist ganz und gar nicht „nur“ ein sprachliches Problem, es ist ein kognitives Problem. Denn Worte aktivieren und propagieren Frames in unseren Köpfen. Dieses Konzept der Kognitionswissenschaften lässt sich mit „Deutungsrahmen“ übersetzen. Wann immer wir ein Wort hören oder lesen, aktiviert unser Gehirn automatisch einen Frame, der es innerhalb unseres abgespeicherten Weltwissens einordnet, um ihm eine Bedeutung zu geben. Frames umfassen immer sowohl semantische Rollen als auch Schlussfolgerungen über deren Natur und Beziehung zueinander. Das Wort „Kind“ beispielsweise aktiviert einen Frame, der auch die semantischen Rollen Mutter und Vater birgt, und diese in der Beziehung zum Kind als Elternschaft definiert. Schnell wird deutlich: Wann immer wir ein Wort nutzen, aktivieren wir eine Fülle von Ideen und Schlussfolgerungen, die weit über das eigentliche Wort hinausgehen.

Sprache aktiviert aber nicht nur Frames, sie stärkt diese auch in unserem Gehirn. Der Prozess heißt Hebbian Learning: Je öfter Ideen als zusammenhängend kommuniziert werden, umso stärker wird ihre synaptische Verbindung.

Wir lernen Verknüpfugen – ohne die dazugehörige Wertung

Dabei ist es für unser Gehirn völlig egal, ob wir eine Idee kritisieren, negieren oder uns anderweitig rhetorisch von ihr distanzieren. Sobald wir sie benennen, wird der entsprechende Frame aktiviert und gefestigt. Unser Gehirn kann nämlich nicht isoliert „nicht“ denken. Wenn ich schreibe: „Denken Sie nicht an den Kopf einer schwarzen Taube“ denken Sie natürlich sofort an den Kopf einer schwarzen Taube. Und vielleicht auch an Michel Houellebecqs jüngst erschienenen Roman, sollten Sie das Buchcover bereits mehrfach gesehen haben.

Wir müssen Dinge, die es zu verneinen gilt, zuallererst einmal begreifen. Dem kognitiven Apparat ist es gleich, wie wir über „Islamophobie“ sprechen, ob wir sagen, der „Islamische Staat“ benenne sich zu unrecht als solcher, uns in Diskussionen über „Gotteskrieger“ von dem Konzept mittels „sogenannte“ oder „selbsternannte“ distanzieren oder Begriffe direkt in Anführungszeichen setzen. Solche Maßnahmen sorgen zwar für politische Korrektheit im Diskurs. Doch kognitionslinguistisch gesehen landen sie irgendwo zwischen vergebener Liebesmüh und grober sprachlicher Fahrlässigkeit.

Diese Sprachbilder sind riskant, weil wir heute wissen, dass Frames der Dreh- und Angelpunkt politischer Meinungsbildung und politischen Handelns sind, und zwar ohne dass wir dies merkten, denn nur geschätzte zwei Prozent unseres Denkens sind uns überhaupt bewusst.

Wenn es um Frames geht, die den Zielen anti-muslimischer Strömungen wie Pegida und vom Radikal-Islamismus besessener Terroristen dienen, so haben beide Gruppen in Deutschland einflussreiche Freunde: von links nach rechts und durch alle Medien spielt unsere Debatte ihnen sprachlich und kognitiv direkt in die Hände.

Von Angsthasen und der Neudeutung einer Weltreligion

Zum Beispiel mit dem Begriff „Islamophobie“, der spätestens zum Jahr 2015 in unserem öffentlichem Bewusstsein vollends seinen Platz gefunden hat. Das Wort wurde in den Neunzigern in England in Anlehnung an die „Xenophobie“, die Fremdenfeindlichkeit, geprägt und ist heute ein gern gesehener Gast in deutschen Debatten. Welcher Frame wird aktiviert, wenn wir den Islam metaphorisch in das Phobie-Konzept einbetten?

Der Phobie-Frame impliziert zunächst einmal im Kern panische Angst. Wir nutzen das Konzept häufig im nicht-medizinischen Sinne. Viele von uns leiden fernab jeder Diagnose an Spinnenphobie, Klaustrophobie oder Sozialphobie, was automatisch zu der kollektiven Wahrnehmung führt, eine Phobie nachvollziehen zu können. Spinnen sind schon irgendwie Angst einflößend, enge Räume und soziale Anlässe auch. Und der Islam? Durch den Phobie-Frame wird eine anti-muslimische Haltung bagatellisiert und zugleich partiell als „der Natur des Auslösers“ geschuldet legitimiert.

Hätten Islamophobe Angst, müssten sie sich zurückziehen

Die Frame-Semantik führt zu erstaunlichen Resultaten: Phobie-Patienten leiden an einer Angststörung, sie sind die Opfer der Situation, sie reagieren mit Rückzugsverhalten. Indem man den Islam metaphorisch als Angsttrigger in diesen Frame einbettet, werden anti-muslimische Agitatoren zum Opfer eines Leidens, die sich verängstigt zurückziehen, während Muslime unbehelligt bleiben. Der Frame einer Phobie impliziert Angst, nicht Feindseligkeit oder Hass, und profiliert Muslime als geeignete Angstauslöser. Und nicht zuletzt spricht er den metaphorischen Phobie-Patienten die volle Verantwortung für ihr Handeln ab, denn wer an einer Phobie leidet, reagiert panisch und ist dabei nicht immer voll zurechnungsfähig.

Deutsche Debatten nutzen den Phobie-Frame nur für zwei Typen sozialer Aggression, Islamophobie und Homophobie. Man muss sich wohl glücklich schätzen, dass er nicht auch andernorts linguistisch en vogue wurde. Frauenphobie statt Frauenfeindlichkeit? Judenphobie statt Judenfeindlichkeit? Arbeiterphobische statt arbeiterfeindliche Gesetze?

Der Begriff „Islamophobie“ ist mehr als nur prekär, ich halte ihn für gefährlich. Anti-muslimisches Denken ist eine Geisteshaltung, keine Angststörung. Und Agitation gegen Muslime geschieht nicht im Affekt.

Warum der Begriff des „Islamischen Staates“ gefährlich ist

Ein zweites Problem unserer aktuellen Debatte ist der „Islamische Staat“, der sich als zentrale Bezeichnung für die radikal-islamistische Terrormiliz im Irak und in Syrien durchgesetzt hat. Zwar nutzt man oft noch Anführungszeichen oder spricht von der „Terrormiliz ‚Islamischer Staat’“; doch wo die Abkürzung IS vorherrscht, hat sich vorrangig der männliche Artikel durchgesetzt – also „der“ Islamische Staat, nicht „die“ Terrormiliz. Es ist unerheblich, mittels welcher rhetorischen Mittel eine Abstandshaltung zu der Idee eingenommen wird, denn unser Gehirn aktiviert sie ja in jedem Fall in ihrem vollen Glanze.

Indem wir vom „Islamischen Staat“ sprechen, werben wir für einen Frame von der Miliz als islamisch. Das hat Konsequenzen: Das Islam-Konzept ist, wie alle anderen Weltreligionen auch, eine semantisch recht lose gefasste Kategorie, ein sogenanntes Contested Concept, das vieles unter sich vereint – verschiedene große und kleine Untergruppen, aus dem Koran abgeleitete rechtliche Regelungen, soziale Normen, Bräuche und Politik. Contested Concepts sind besonders offen für ideologisches Reframing, also „Umdeuten“, denn sie müssen ständig von uns mit framesemantischen Strukturen ausstaffiert werden, um einen greifbaren Sinn zu haben. Über den Begriff „Islamischer Staat“ staffieren wir das Konzept derzeit mit Frames radikal-islamistischen Terrors aus. Unsere Gehirne „erlernen“ just in diesem Moment über den Mechanismus des Hebbian Learning eine neue Bedeutung des Islam-Konzepts, wir aktualisieren sprachlich unseren Islam-Prototyp, indem wir den terroristischen Radikal-Islamismus immer und immer wieder mit dem Wort „Islamisch“ verbinden.

Der IS ist gar kein Staat – zum Glück

Darüber hinaus aktiviert der Begriff einen Frame, der die Miliz als Staat begreifbar macht. Mit diesem Sprachgebrauch billigen wir ihr zu, was sie anstrebt und sprachlich bereits in die Welt gesetzt hat – während die Miliz in Syrien und dem Irak einen Staat erst noch mit Gewalt zu erzwingen versucht, etablieren wir diesen Staat in vorauseilendem Gehorsam schon einmal in unseren Köpfen.

Die Begriffe „Gotteskrieger“ und „Gottesstaat“ tragen die neue Deutung des Islam-Konzepts mit. Die aktivierten Frames machen radikal-islamistische Terroristen als „Krieger Gottes“, die den „Staat von Gott“ anstreben, begreifbar und damit zu den wahren Vertretern des Islam. Sie arbeiten – so unser Sprachgebrauch – direkt in Gottes Auftrag.

Auch „Ungläubige“ ist kein hilfreicher Begriff

Und wir bestätigen sie darin, wenn wir den Begriff „Ungläubige“ übernehmen. Der Begriff „Ungläubige“ wird für Nicht-Muslime ebenso wie für nicht-radikale Muslime genutzt. Während er der Tatsache entspricht, dass Nicht-Muslime insofern ungläubig sind, als sie nicht dem Islam anhängen, macht der Frame auch nicht-radikalisierte Muslime als Ungläubige begreifbar. Er trägt seinen Teil zur Definition des neuen Islam-Prototyps bei, indem er nicht-radikale Muslime gedanklich gleich völlig aus dem Konzept „Islam“ hinaus katapultiert.

Die gedankliche Renovierung des Islam-Konzepts wird kognitiv zusätzlich über ein Phänomen befeuert, das wir in der Kognitionswissenschaft als Salient Exemplar Effect kennen. Wenn wir wiederholt mit emotional eindrucksvollen Bildern oder Sprachbildern konfrontiert werden, wirkt sich dies auf unsere Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten aus – und zwar so, dass wir Dinge als viel typischer und verbreiteter einschätzen, als sie sind.

Warum grausame Szenen besonders stark wirken

Unser Gehirn registriert etwa grausame Szenen in der Berichterstattung als unverhältnismäßig bedeutsam. Man kann diesen Aspekt des Salient Exemplar Effects auch lose als „kollektives, medial induziertes Mini-Trauma“ bezeichnen. Und zwar sowohl was seine Entstehung als auch seine Auswirkung betrifft, denn Traumata führen unter anderem zum gedanklichen „Aufblasen“ möglicher Gefahrenszenarien rund um das traumatische Kernerlebnis – was in diesem Falle Köpfungs- oder Attentatsvideos oder bildhafte Beschreibungen von Vergewaltigungen und Steinigungen sein können. Salient Exemplars funktionieren im Hebbian Learning sozusagen als synaptischer Superkleber und zugleich Soundverstärker. Begriffe, die durch Salient Exemplars untermauert sind, entwickeln eine enorme kognitive Zugkraft und wirken sich dementsprechend stark auf unsere Wahrnehmung und unser Handeln aus.

Die linguistische Traummannschaft „Islamischer Staat“, „Gotteskrieger“, „Gottesstaat“ und „Ungläubige“ zusammen mit dem eindrucksvollen und unermüdlich gezeigten Bildmaterial von Angst und Schrecken drängt alternative Islam-Konzepte zunehmend in den kognitiven Hintergrund. Da scheint es doch nur legitim, wenn der Islam als Angsttrigger bei so manchen Menschen eben eine „islamophobische“ Reaktion auslöst.

Sprachliche Pluralität sichert kognitive Pluralität

Wer Verständigung und Toleranz fördern und sozialen Antagonismus bekämpfen will, sollte umgehend die „Islamophobie“ und den „Islamischen Staat“ inklusive seiner linguistischen Anhängsel abschaffen.

Eine rhetorische Distanzierung von oder Negierung der Ideen ist nicht nur untauglich, sondern wirkt vielmehr als kognitiver Dünger für eben diese Ideen. Wir brauchen ein sprachliches – und gedankliches – Reframing der Themen, mit dem die eigene Sicht transparent gemacht und eine konzeptuelle Alternative zu den vorherrschenden Frames entwickelt wird.

Sehen Sie die Diffamierung von Muslimen kritisch und denken, dass radikal-islamistische Verbrecher nicht das Abbild des „Islam“ per se sind?

Dann wäre Ihrer Sache bereits geholfen, würde man in Deutschland anstatt von „dem“ IS von „der“ IS sprechen (also, nicht Staat sondern Terrormiliz). Darüber hinaus könnte man konsequent von „radikal-islamistischen“ anstatt von „islamistischen“ oder gar „islamischen“ terroristischen Verbrechern reden. Nicht zuletzt könnte man den Bezug auf diejenige Religion, die von der Miliz benutzt und missbraucht wird, auch einmal durch solche Adjektive ersetzen, die sich auf die Region oder sonstige Merkmale der Terroristen konzentrieren – denn sie sind ja wenn man es ganz genau nimmt nicht vordergründig „islamisch“ im eigentlichen Sinne der Religion, sondern eher „besessen“, „verbrecherisch“, „unzurechnungsfähig“, „soziopathisch“ und „menschenrechtsverachtend“ und wenn es um den Islam geht, dann wohl auch „religiös radikalisiert“,„den Islam verfälschend“ oder „den Islam missbrauchend“. Was, last but not least, die sogenannte Islamophobie betrifft, so wären Begrifflichkeiten wie „Hetze“, „soziale Aggression“ oder „Antagonismus“ „gegen Muslime“ – nicht „gegen den Islam“! – sicherlich gute erste Alternativen.

Kognitive Pluralität lässt sich nur über sprachliche Pluralität sichern, und sprachliche Pluralität verlangt unbedingte Authentizität: Realitäten müssen gemäß der eigenen Geisteshaltung benannt werden und es gilt, sich Sprachkonformismus zu entziehen, wo immer er der eigenen Weltsicht widerspricht.

Dieser Text erschien zuerst bei „Carta. Politik, Ökonomie, Digitale Öffentlichkeit“ am 24.03.2015. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Dr. Elisabeth Wehling, geb. 1981 in Hamburg, studierte Soziologie, Journalistik und Kognitive Linguistik in Hamburg, Rom und Berkeley. Seit 2013 leitet sie am International Computer Science Institute in Berkeley Forschungsprojekte zu Kognition, Ideologie und Sprache in Politik und Gesellschaft mit Methoden der Neuro- und Verhaltensforschung sowie der kognitionslinguistischen Diskursanalyse. 

Weiterlesen

gmf-rassismus

Was ist Gruppenbezogene Menschenfeindichkeit?

Der Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) bezieht sich auf Abwertungen, die Menschen erleiden, weil sie Gruppen zugeordnet werden. Die GMF-Forschung beobachtet Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus, Homophobie, Sexismus, Feindlichkeit…

Von|
anettam

Kommentar Gute und schlechte Nachrichten

Kennen Sie das? Sie lesen eine Meldung und wissen nicht recht, ob dies eigentlich eine gute oder eine schlechte Nachricht…

Von|
Eine Plattform der