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Hessen 2013 Demos, Einschüchterungsversuche und nervöse Zeugen

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Proteste gegen NPD-Aufmarsch am 1. Mai in Frankfurt/Main (Quelle: picture alliance / dpa)

Der 1. Mai

Etwa ein ganzes Jahr lang warb die hessische NPD auf ihrer Homepage für eine „Großkundgebung“ am 1. Mai nahe der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt. Die Kundgebung sollte eine von zwei zentralen Parteiveranstaltungen sein. Lange Zeit blieb es mehr oder weniger bei dem Hinweis auf der Seite, irgendwann kam eine Sonderseite hinzu. Darüber hinaus wurde kaum für die Veranstaltung mobilisiert. Zumindest nicht auf Seiten der Neonazis.

Anders sah es auf antifaschistischer Seite aus. Am 1. Mai beteiligten sich dann auch zahlreiche Menschen an den Protesten und Blockaden. Die NPD-Anhänger_innen trafen sich in Kahl am Main (bei Aschaffenburg, Bayern), um gemeinsam mit der Bahn nach Frankfurt zu fahren. In Hanau war die Reise jedoch zu Ende. Eine Blockade auf den Schienen in Frankfurt machte es ihnen unmöglich, zum Kundgebungsort zu gelangen. Nach einigem Hin und Her entschieden sich die lediglich etwa 150 NPDler_innen, in Hanau eine Ersatzveranstaltung abzuhalten.

Zwar wurde dies im Nachgang als Erfolg verkauft, der Tag war dennoch eine eindeutige Niederlage für die (hessische) NPD. Insbesondere die geringe Teilnehmendenzahl gibt deutliche Auskunft über den Zustand der Partei in Hessen. Die Neonazis der hessischen „Freien Kräfte“ waren ohnehin lieber zu anderen Aufmärschen gefahren. Das Freie Netz Hessen zum Beispiel mobilisierte ausschließlich nach Würzburg und fuhr dann auch zur dortigen Veranstaltung.

Bundestags- und Landtagswahl

Immerhin war es der NPD gelungen, sowohl für die Bundestags– wie auch für die Landtagswahl Landeslisten aufzustellen. Mit der Erststimme waren jedoch nur für den Bundestag NPD-Kandidat_innen wählbar. Wahlkampf fand so gut wie nicht statt. Lediglich Plakate waren aufgehängt worden, darunter auch die berüchtigten Plakate mit dem antiziganistischen Slogan. Mehrere Städte ließen sie abhängen, mussten sie jedoch größtenteils nach Gerichtsentscheidungen wieder anbringen.

Ende August bis Anfang September machte das „NPD-Flaggschiff“ im Rahmen des Bundestagswahlkampfs in neun hessischen Städten Station. In Hanau bekamen die NPDler besondere Empörung zu spüren. Aufgrund von Blockaden musste die Kundgebung zuerst verlegt werden, dann wurde sie auch noch vorzeitig durch den Hanauer Oberbürgermeister aufgelöst. Dieser hatte in der Rede des damaligen NPD-Vorsitzenden Holger Apfel Äußerungen gehört, die er als volksverhetzend begriff. Zwei Wochen später wiederholte die NPD jedoch dort ihre Kundgebung.

Wahlerfolge brachten ihr die Kundgebungen jedoch nicht ein. Bei der Bundestagswahl konnte die Partei ihren Anteil von ein Prozent der abgegebenen Zweitstimmen in Hessen halten. Bei der Landtagswahl gelang ihr eine Steigerung von 0,9 Prozent auf 1,1 Prozent. Mit diesem Ergebnis kommt sie erstmals wieder in den Genuss staatlicher Zuwendungen in Form von Wahlkampfkostenerstattung. Dennoch trat der Landesvorsitzende Daniel Knebel im Anschluss von seinem Posten zurück. Seither wird der Landesverband kommissarisch geführt.

Auch „pro Deutschland“ machte im Rahmen ihrer Wahlkampftour in sechs Städten in Hessen Station. Wie überall suchten sie sich linke Zentren oder Moscheen als Orte ihrer Kundgebungs-Shows aus. Ihr Wahlergebnis in Hessen: 0,1 Prozent.

Die Rechte

Die im Vorjahr gegründete Partei „Die Rechte“ hat ihre Strukturen in Hessen weiter ausgebaut. Sie verfügt nun über fünf Kreisverbände und drei Ortsverbände, diese dürften jedoch alle mehr als mitgliederschwach sein. Der hessische Vorsitzende Pierre Levien wurde im Mai in den Bundesvorstand aufgenommen und kandidierte in seinem Wahlkreis als Direktkandidat zur Landtagswahl.

Darüber hinaus sind keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Partei in Hessen zu verzeichnen. Zwar sind die Verlautbarungen auf Facebook immer wieder für ein Schmunzeln gut, den vollmundigen Ankündigungen folgen jedoch keine nennenswerten Aktivitäten.

Lumdatal

Für großen Aufruhr sorgte 2013 eine Gruppe von Neonazis aus dem Lumdatal (bei Gießen). Die Gruppe besteht aus größtenteils seit Jahren aktiven Neonazis der Region. Doch erst seit sie unter einem Gruppennamen öffentlich agieren und unter anderem die Bürgermeisterin angehen, wird ihre Existenz von der Allgemeinheit wahrgenommen. Sie bedrohen ihnen unliebsame Menschen, verteilen die „Lumdatal-Stimme“ und verkleben ab und an Massen an Aufklebern. Einer der Sticker ist der Allendorfer Bürgermeisterin gewidmet: „Kein Bock auf Bergen-Krause“ ist darauf zu lesen. In der Nacht zum 1. Mai versuchten die Neonazis unter Sieg Heil-Rufen zuerst die Haustür einer Allendorfer Familie, dann die der Bürgermeisterin einzutreten. Auch weitere Menschen, die sich gegen rechts positionieren wurden angepöbelt und versucht, einzuschüchtern. So drangen beispielsweise vier Neonazis auf das Grundstück einer Familie ein und bedrohten diese etwa 20 Minuten. Ebenfalls im Mai fand dann in Allendorf eine Kundgebung der JN mit lediglich acht Teilnehmenden statt, am Nachmittag folgte ein Aufmarsch in Grünberg, zu dem etwa 50 Neonazis kamen.

Im Juli, vermutlich aus Angst vor einem Verbot, erklärte die Gruppe ihre Auflösung und ihren Eintritt in die JN. Nach einer kurzen Ruhephase gab es erneut „Besuche“ bei bereits vorher betroffenen Personen. Nach dem Outing eines Aktivisten an der Uni Gießen tauchte eine kleine Gruppe Neonazis zuerst bei der Bürgermeisterin auf, versuchte an einem anderen Haus die Tür einzutreten und griff anschließend zwei Personen an, die jedoch flüchten konnten.

Die „Projektwerkstatt“ in Karben

Seit Mai 2013 verfügt die „Neue Rechte“ in Hessen über ein Zentrum. In einem Wohnhaus in Karben befindet sich im Erdgeschoss die sogenannte „Projektwerkstatt“. Die Räume gehören dem Vorsitzenden des neurechten Instituts für Staatspolitik, Andreas Lichert. Seither fanden dort einzelne kleine Veranstaltungen statt. Die Gründung fand noch in Zusammenarbeit mit der „Identitären Bewegung“ statt, zu dieser ging Lichert jedoch auf Distanz. Dies dürfte mit dem breiten Protest zusammenhängen, der sich nach Bekanntwerden der Hintergründe der Lokalität in Karben formiert hatten.

Feindbild Stolpersteine

In der Nacht zum 8. November wurden im südhessischen Seeheim-Jugenheim Rathausfenster eingeworfen – mit zwei Stolpersteinen, die ein Jahr zuvor in Griesheim entwendet worden waren. Im Rathaus war kurz vorher die Ausstellung „Demokratie stärken – Rechtsextremismus bekämpfen“ eröffnet worden. In Griesheim war die Polizei 2012 der Meinung, Täter könnten Rechte oder „Wertstoffdiebe“ gewesen sein. Kurz bevor in Seeheim-Jugenheim im April Stolpersteine verlegt wurden, wurde an die dafür vorgesehene Stelle „Stolpersteine der Lüge“ gesprüht. Der Bürgermeister hat auch bereits Drohbriefe erhalten.

Einen Tag vorher wurden auch im südhessischen Weiterstadt frisch verlegte Stolpersteine aus dem Pflaster entfernt und gestohlen. In keinem der Fälle konnten die Täter_innen bisher identifiziert werden.

NSU

Anfang Dezember musste der ehemalige Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, Andreas T., zum zweiten Mal vor dem Oberlandesgericht in München im NSU-Prozess aussagen. Er war während des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internet-Cafe, will aber nichts von den Geschehnissen mitbekommen haben und den Erschossenen auch nicht gesehen haben, als er sein Geld auf den Tresen legte. Als nach der Tat nach Zeug_innen gesucht wurde, meldete er sich nicht. Außerdem soll er eine Stunde vor der Tat mit dem von ihm geführten V-Mann Benjamin G. telefoniert haben, der auch über Kontakte zu „Blood&Honour“ verfügte. Das Gespräch dauerte ungewöhnlich lange.

In den zwei Tagen seiner Vernehmung machte T. wirre Aussagen, verwickelte sich in Widersprüche, wollte sich nicht erinnern. Im Anschluss wurde G. vernommen. Auch seine Befragung gestaltete sich als schwierig. Dennoch sagte er aus, dass T. bei einem Treffen etwa drei Wochen nach dem Mord anders als sonst gewirkt habe: abwesend, im Gegensatz zu sonst habe er sich keine Notizen gemacht. Als G. ihn auf den Mord ansprach, sei T. deutlich nervös geworden.

G. wurde vom hessischen VS ein Zeugenbeistand zur Seite gestellt und auch bezahlt. Dieser soll wohl auch verhindern, dass G. mehr sagt als er darf. Allerdings gibt dies auch Anlass zur Befürchtung, die Aufklärung könnte behindert werden. T. wird noch mindestens einmal in München erscheinen müssen. Dass die vielen offenen Fragen dann beantwortet werden, ist jedoch unwahrscheinlich.

Seit 2012 erinnert in Kassel ein vorher namenloser Platz an Yozgat: der Halit-Platz. Dort befindet sich auch eine Gedenktafel. Im März wurde diese mit Farbe beschmiert. Täter_innen und Hintergrund blieben unbekannt.

Ausblick

Zum Glück sind 2013 größere Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten ausgeblieben. Bleibt zu hoffen, dass dies auch im kommenden Jahr so bleibt.

Was die organisierte extreme Rechte angeht, so ist auch für 2014 nicht damit zu rechnen, dass sie zu insgesamt größerer Handlungsfähigkeit gelangen wird. Dennoch wird sie weiterhin aktiv und auch gefährlich – wie das Beispiel Lumdatal zeigt – bleiben. Außerdem stehen erneut Wahlen an, für das Europaparlament wollen auch NPD und „Die Rechte“ kandidieren. Dass es neue Erkenntnisse zum NSU-Mord in Kassel oder zu Rolle und (Nicht-) Wissen des V-Mann-Führers Andreas T. geben wird, ist unwahrscheinlich. Aber vielleicht wird es wenigstens doch noch einen Untersuchungsausschuss dazu geben.

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