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Feste des Grauens in den „Freien Theateranstalten“

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Seit Jahrzehnten steht ?Ich bin´s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen? von den „Freien Theateranstalten“ in den Programmen der Berliner Stadtmagazine. Dass sich hinter dieser Konstanten jedoch ein Zyklus von 14 Theaterstücken verbirgt, der sich in einer dramatischen Dokumentation mit den Tätern der NS-Zeit auseinandersetzt, dessen Umfang stetig anwächst und immer wieder Verbindungen zur aktuellen Zeitgeschichte knüpft, ist weniger bekannt.

Das kleine Theater am Klausener Platz 19 in Berlin Charlottenburg ist eher unscheinbar und doch gar nicht so klein, wie sich später noch herausstellen wird. Ein einfacher Schriftzug über der Toreinfahrt deutet den Weg in den zweiten Hinterhof des ehemals besetzten Hauses. Über einen muffigen Treppenaufgang gelangt man in das Foyer des Theaters im Dachgeschoss. Der Raum ist fast prunkvoll mit Perserteppichen, antikem Möbel und Skulpturen ausgestattet.

Zum Vorstellungsbeginn wird das Publikum hier abgeholt. Ein Mann von vielleicht sechzig Jahren, ganz in schwarz gekleidet, mit Hut, grüßt etwas verlegen. Wir seien ja heute unter uns und so könne er einige Details erläutern, die sonst später während der Vorstellung zu Verwirrung führen könnten.

?Wissen Sie was SB ist??
Eine der Damen traut sich: ?SB? Selbstbedienung!?
Nein, in diesem Kontext unmöglich.
„Sonderbehandlung!“

Mit zitternder Stimme zählt van Harten verschiedene Tötungssarten des NS-Regimes auf. Dann führt er sein Publikum einen dunklen Gang entlang und spricht fast im Plauderton über die Unstimmigkeiten des Holocaust-Mahnmals am Potsdamer Platz. Doch plötzlich erfährt seine Sprache eine Rhythmisierung und Verdichtung, die die Zuhörer aufmerken lässt. Und während man sich bisher noch vor der Vorstellung wähnte, befindet man sich mit einem Male mittendrin, in diesem Theaterstück, das mehr ein Gedenken als ein Stück sein soll.

Es geht ein paar Treppen hinunter. Van Harten öffnet eine schwere Eisentür. „Bitte, kommen Sie, kommen Sie in die Pflicht.“ Und wir kommen in einen schummerig beleuchteten Raum, der sich im zweiten oder dritten Stock des Gebäudes befinden muss, aber wie die Kellergewölbe eines Gruselkabinetts wirkt.

Hinter mehreren rostigen Stahlrahmen ist ein Wall aufgeschüttet, Helme und anderes Kriegsgerät liegen herum. Über einem Stuhl lehnt ein Soldat. Tot?

Das Publikum hat sich vor den riesigen Rahmen aufgestellt. Van Harten scheint einen Museumsvortrag halten zu wollen, doch seine Rede folgt keiner konstanten Form, sondern gleitet immer wieder vom Konversationston in Vers gebundene Sprache und vom monologischen Vortrag in die direkte Anrede an das Publikum.

Stalingrad! Warum eigentlich Stalingrad? Warum eigentlich diese Schlacht um Stalingrad? Van Harten hebt einen durchlöcherten Stahlhelm auf, nicht aus Stalingrad, aus dem Philoktet. Mit dem hätten sie damals hier angefangen, 1968, mit dem Heiner Müller, Theatergeschichte, ganz privat. Und Stalingrad? Wegen dem Öl, aber ?das erzählt man den Schülern heute nicht, da kommen die ja gleich auf den Irak.?

Wie an langen Fäden zieht van Harten die Zeiten zusammen

Und plötzlich beginnt das Bild zu leben. Dieser Soldat, der eben noch im Bild von Stalingrad über einem Stuhl gelehnt hat, erhebt sich und spricht. Und van Harten führt das Publikum durch die Stahlrahmen in das Bild hinein, noch weiter zurück, weit vor die Schlacht von Stalingrad, zu den Anfängen des Antisemitismus in Europa, des Nationalsozialismus in Deutschland und zu den Tätern des Holocaust.

Jedes der 14 Stücke fokussiert einen dieser Verbrecher, wirft Schlaglichter auf sein Umfeld, so dass die Stücke sich durch Überlagerungen verbinden und ?Im Spiegel der Täter? ein Netzwerk über die Geschichte ausbreiten.

Die Zuschauer werden entlang eines ca. 15 Meter langen Bergwerksstollens platziert. Van Harten erläutert: Die Bestuhlung vorne aus der Nachkriegszeit, die etwas billigeren Plätze hinten aus den Kriegsjahren. Man glaubt den Mief förmlich zu riechen und ein ungesundes Klima kriecht vom Boden an den Schenkeln empor. Gleise liegen dort, die in die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis, nach Auschwitz, Birkenau, Ravensbrück und wie sie nicht alle heißen, in den Tod führen. Eine Lore, original und so wichtig. Der ganze Raum ein lebendes Museum.

Und dann werden sie auf die Bühne zitiert, die Verbrecher, mit ihrer Sprache, ihrem Gestus, immer als Zitat gekennzeichnet, weil sonst nicht zum öffentlichen Vortrag genehmigt: Hermann Göring, Heinrich Himmler, Josef Stroop, Hans Frank.

„Wissen Sie wer Hans Frank war? Nein, nicht?“
Deportation von 1 Mio. Polen als Sklavenarbeiter nach Deutschland. Verantwortlich für den Mord an mindestens 3 Mio. Juden.

?Kennen Sie nicht??

Aber die Schuld der Unwissenheit, und das ist in diesem Theater das wirklich Erstaunliche, ist hier ?nur? der Stein des Anstoßes. Sie kommt nicht als Anklage, sondern als Einladung daher. Als Einladung, Geschichte zu erleben. Immer wieder geht van Harten auf das Publikum zu, bricht aus dem Sprachfluss der Täter aus und knüpft Verbindungen zu einem Netz, das die Dunkelheit der Geschichte in großen Linien überspannt. Der Antisemitismus der Kirche, die Piusbruderschaft. ?Nur ganz kurz, nur nicht zu viel, als Assoziation.?

Opfer treten jedoch keine auf in van Hartens Stücken. ?Im Spiegel der Täter? bleiben sie zu Recht Leerstelle, weil sie beliebig aus verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Gruppierungen eingesetzt werden könnten.
Wer allerdings auftritt, vielleicht stellvertretend, ist ein kleiner Jude, mit seinen Liedern, seinen Tänzen und seinem Leid, ein Mensch im Kontext seiner Zeit. Van Harten gelingt es in dieser kleinen Rolle die Fülle und Tiefe der jüdischen Kultur und des jüdischen Lebens anklingen zu lassen. Eine großartige schauspielerische Leistung, in der er den Opfern ihr menschliches Angesicht zurückgibt.

Neben Hermann van Harten stehen in diesem Teil des Zyklus Adelheid Rogger und Josef Volmer auf der Bühne. Wenn sie auftreten, kommt es tatsächlich zu Schauspielszenen. Die liegen dann wie eine Lupe auf einzelnen Bahnen der Geschichte und heben sie als historische Impression in den Vordergrund.

Am Ende kommt man aus der Vorstellung und der Appetit nach erlebbarer Geschichte ist gerade erst angeregt. Hermann van Harten hat in seinem Theater eine ästhetische Dichte und inhaltliche Verknüpfung der Zeiten geschaffen, die stark macht gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung.

?Auschwitz kann dir Kraft geben, zu überleben, für den Verstand und den Widerstand!? (Hermann van Harten)

Schauen und erleben Sie Geschichte im Theater ?Freie Theateranstalten? in Berlin, damit Sie später nicht sagen müssen, Sie hätten von alledem nichts gewusst. Immer Dienstag, Mittwoch und von Freitag bis Sonntag um 20.30h.

Dieser Text wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von www.theater-kritik.com

Mehr im Internet:
| www.freietheateranstalten.de

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