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Jugendarbeit nach dem 7. Oktober „Die Jugendlichen sind emotionalisiert, teilweise traumatisiert“

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(Quelle: Unsplash)

Nach dem 07. Oktober 2023 steht die Bildungsarbeit vor neuen Aufgaben, um den grassierenden Antisemitismus die Stirn bieten zu können. Didaktikprofessor der Ruhr-Universität Bochum, Dr. Karim Fereidooni, hat dazu 50 Handlungsmöglichkeiten als Unterstützung für Lehrer* innen formuliert. Duha Binici arbeitet in der ju:an-Praxisstelle der Amadeu Antonio Stiftung und gibt diskriminierungssensible Fortbildungen. Auch er merkt nach dem 07. Oktober eindeutige Veränderungen. Ein Gespräch an der Schnittstelle zwischen antisemitismus- und rassismuskritischer Bildungsarbeit und Didaktiklehre über die Auswirkungen des Hamas-Massakers, TikTok und Lösungsansätze.

Belltower.News: Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es immer mehr Antisemitismus in Deutschland, gerade im akademischen Umfeld. Karim, konntest du das auch an der Ruhr-Uni beobachten?
Karim Fereidooni: Ja. Es gab bei uns Kritik in Bezug auf die Durchführung der Aktionswochen gegen Antisemitismus, die im Herbst stattgefunden haben, in einem offenen Brief von Einzelpersonen, aber auch von studentischen Initiativen: „Ihr könnt nicht solche Aktionswochen abhalten gegen Antisemitismus, weil Israel ein Apartheidsstaat ist.“ Zum Glück hat die Universitätsleitung schnell und klar reagiert, indem sie die Vorwürfe aufgenommen und eine Stellungnahme präsentiert hat. Einige jüdische Studierende haben dennoch Angst, in die Uni zu kommen. Mich haben auch jüdische Eltern über Instagram angeschrieben, weil ihre Kinder Angst hatten, in die Schulen zu gehen. Globale und nationale Ereignisse spielen immer eine Rolle an Universitäten und Schulen. Was wir zum Glück nicht erlebt haben, war, dass jüdischen Studierenden verwehrt worden ist, Hörsäle zu betreten. Es gab bisher auch keine Besetzung von Hörsälen. Aber natürlich gab es Antisemitismus vor dem 07.10., das wird es auch nach dem 07.10. geben.

Wie ist denn die Stimmung unter den Lehrenden bei euch an der Uni? Bist du alleine mit deinem antisemitismuskritischen Standpunkt oder gibt es breite Unterstützung?
KF: An unserer Uni gibt es eine breite Unterstützung. Wir sind uns einig, dass die Stellungnahme der Universitätsleitung gut war und dass wir verstärkt mit den Studierenden dazu arbeiten müssen.  Wir unternehmen generell zu wenig in Bezug auf Antisemitismus, Rassismus, Queer- und Transfeindlichkeit. Es wird zu wenig über Ungleichheitsstrukturen geforscht und gelehrt. Nicht nur in der Lehrer*innen-Ausbildung, sondern auch in anderen Fächern – das sollten wir nachholen. Wir sollten das als grundständiges Merkmal von unterschiedlichen Studiengängen begreifen, damit wir nicht von Krise zu Krise ad hoc handeln müssen.

Das hat dich wahrscheinlich dazu bewegt, deine 50 Handlungsmöglichkeiten niederzuschreiben, oder?
Das war vor dem Hintergrund einer Situation mit einer Lehramtsstudierenden im Praxissemester, die ein Gespräch mit mir suchte. Sie fragte: „Nach dem 7. Oktober hat uns der Schulleiter verboten, über die Geschehnisse und den Nahost-Konflikt zu reden. Was soll ich machen?“ Da habe ich gesagt, dass diese Anweisung Quatsch sei und dass sie mit den Schüler*innen reden soll, denn TikTok und Co. hören ja auch nicht auf, die Videos hören nicht auf zu existieren und die Propaganda, die da zum Teil virulent ist, hört nicht auf. Deswegen müssen wir als Lehrkräfte, egal welches Fach, insbesondere aber Politiklehrkräfte, sprechfähig sein. Außerdem habe ich ganz viele Fortbildungen für Lehrkräfte gegeben, weil ich eine große Unsicherheit bei den Lehrer*innen wahrgenommen habe. Viele haben das Thema gar nicht behandelt, weil sie nicht grundständig ausgebildet worden sind. Wir können nicht von Lehrkräften immer mehr verlangen, wenn die Grundlagen dafür in der Ausbildung nicht angeboten werden. Wenn sich eine Lehrkraft meine 50 Handlungsempfehlungen ansieht und zwei, drei interessante Punkte findet, bin ich schon zufrieden. Und was mir besonders wichtig ist: Wir können den Nahost-Konflikt nicht lösen. Aber wir können die Schule, Universität und Gesellschaft zu Orten gestalten, in denen niemand aufgrund seiner Existenz Angst haben muss.

Duha, du arbeitest in der ju:an-Praxisstelle, die antisemitismus-und rassismuskritische Bildungsarbeit und Fortbildungen anbietet. Hast du seit dem 7. Oktober Veränderungen, z.B. mehr Anfragen, Perspektivwechsel, neue antisemitische Narrative, mitbekommen?
Duha Binici: Wir haben seitdem sehr viele Anfragen zu der Thematik bekommen. Die Kinder sind extrem emotionalisiert, weil sie familiäre Bezüge haben oder jeden Tag auf TikTok gewaltvolle Inhalte sehen. In dem Falle ist es sehr schwierig, ins Gespräch zu kommen, eine neue Perspektive einzubringen oder die eigenen Ansichten mit einem neuen Impuls zu irritieren. Eine andere Sache ist: Vorher haben wir unsere Workshops zum Teil auch in-house für alle Mitarbeitenden einer Einrichtung gegeben. Jetzt müssen wir oft mehr oder weniger Mediationen in Teams betreiben. Das Konfliktpotential des sowieso schon sehr prekären Berufs der Sozialen Arbeit wird durch den Nahost-Konflikt und unterschiedliche politische Auffassungen nochmal befeuert. Diese Themen sprengen teilweise die komplette Teamkonstellation in Jugendfreizeiteinrichtungen. Wir werden dann gezielt nach Input oder Konfliktbewältigungen gefragt. Und es ist bei weitem nicht so, dass wir kommen und danach sind die Wogen geglättet, sondern es kann auch sein, dass die Fluktuation noch höher ist, da die Konflikte nicht mehr lösbar erscheinen. Wir vernehmen gerade auch eine große Stille von den Jugendlichen. Ich glaube das liegt daran, dass das Thema in den Schulen teils verboten oder getadelt wird. Die Lehrkräfte wissen sich nicht besser zu helfen.

Ihr beschäftigt euch beide mit antimuslimischen Rassismus. Habt ihr dort nach dem 7. Oktober auch eine Veränderung wahrgenommen?
KF: Die Zahlen für Antisemitismus sind seitdem auf jeden Fall gestiegen und die antimuslimischen Anfeindungen haben auch zugenommen. Wir hatten ein Forschungsprojekt zum Thema „Demokratie und Partizipationseinstellung von geflüchteten und nicht geflüchteten SchülerInnen“. Wir haben 17 Prozent jesidische Schüler*innen, die an der Studie teilgenommen haben und die erfahren auch antimuslimischen Rassismus. Wenn du muslimisch genug aussiehst, dann erfährst du antimuslimischen Rassismus, unabhängig von dem jeweiligen Glaubensbekenntnis. Ich glaube, dass die Politik auch ihr Übriges getan hat, wenn beispielsweise Friedrich Merz mit so Slogans auftritt wie „In unserem Land gibt es tausende Moscheen, von denen keine geschützt werden muss – aber alle Synagogen brauchen Polizeischutz.“ Diese Aussage ist in so vielen Punkten falsch, weil er anscheinend die Zahlen über antimuslimischen Rassismus nicht kennt. Moscheeangriffe gibt es über Tausend im Jahr.

DB: Es war ja nicht nur Merz. Ich denke jetzt auch an dieses Spiegel-Cover mit Olaf Scholz: „Wir müssen wieder im größeren Stil abschieben“ oder an die Correctiv-Enthüllungen. An jeder Schule, an jeder Einrichtung, an der ich war, wurde darüber gesprochen, Kinder haben nachgefragt: „Werde ich jetzt abgeschoben?“ Die Kinder haben Angst, die Jugendlichen haben Angst. Sie fürchten sich vor Konsequenzen, wenn sie etwas Falsches sagen, wenn sie etwas sagen, was Lehrkräfte als demokratiefeindlich wahrnehmen könnten und sind deshalb still. Gerade in Bezug auf antimuslimischen Rassismus wird nach wie vor versucht, Antisemitismus zu externalisieren. Aber auch bereits vor dem 7. Oktober gab es immer mal wieder Lehrkräfte, die in den Fortbildungen beispielsweise Israel mit dem NS-Staat gleichgesetzt haben.

KF: Eine repräsentative Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung belegt, dass muslimische Menschen, AfD-Wähler*innen und Menschen mit einem formal niedrigen Bildungsabschluss Antisemitismus stärker reproduzieren als andere Teile unserer Bevölkerung. Das können wir nicht wegwischen, sondern das müssen wir ernstnehmen. Aber das können wir nur ernstnehmen, indem wir sagen: „Ja, an der Schule spielt Antisemitismus eine Rolle und diejenigen, die dafür auch verantwortlich sind, erleben selber antimuslimischen Rassismus.“ Das heißt, wir brauchen gesamtgesellschaftliche, gesamtschulische Strategien. Wir sollten das eine machen, ohne das andere zu lassen. Indem man eine Gruppe stigmatisiert, kommt man nicht weiter. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration konnte belegen, dass die folgenden Parameter für die Reproduktion von Antisemitismus eine Rolle spielen: Alter, Geschlecht, eigene Diskriminierungserfahrungen, Religiosität, Schulabschluss nicht in Deutschland erworben.

Welche Schwerpunkte muss denn die Bildungsarbeit nach dem 7. Oktober (neu) formulieren?
DB: Rassismus- und antisemitismuskritische Jugendarbeit sollte vor allem präventiv gedacht und schon im Studium behandelt werden. Außerdem finde ich, gerade wenn es um emotionalisierte Kinder und Jugendliche geht, Ambiguität walten zu lassen und diese auch zu fördern. Das hieße im Nahost-Konflikt, das Leid und die Forderung nach Gerechtigkeit anzuerkennen und gleichzeitig die Hamas oder die Kriegsführung Israels zu kritisieren. Ebenfalls wichtig ist es, Jugendlichen in gewissen Dingen Recht zu geben, solange wir das mit Haltung machen, um im nächsten Schritt andere Sichtweisen mit reinzubringen. Des Weiteren geht es immer viel um muslimische Kids und Islam, aber selten um Islamismus. So langsam sollten wir auch auf den Schirm bekommen, was Islamismus ist und welche Ideologiefragmente er mit sich trägt, die auch viele Gemeinsamkeiten mit der extremen Rechten in Deutschland oder christlichen Fundamentalist*innen haben. Wir sollten uns auch viel mehr Gedanken machen über Sicherheitskonzepte in pädagogischen Räumen. Wir müssen mitbedenken, dass unsere Kolleg*innen und / oder unsere Kids sowohl Antisemitismus und / oder Rassismus erfahren, als auch ausüben könnten, wenn wir über Dinge sprechen, wenn wir im offenen Bereich chillen oder Ausflüge planen, und dementsprechend einen sensiblen Umgang damit finden.

Was ist die Rolle der Sozialen Medien?
DB: Seit dem Krieg in der Ukraine konsumieren Kinder und Jugendliche vermehrt gewaltvolle Inhalte. Für mich war das damals relativ neu in diesem Ausmaß. Das ist problematisch und schwierig im Umgang. Wir als Fachkräfte bemerken, dass die Jugendlichen emotionalisiert, teilweise sogar traumatisiert, werden. Das ist ein verdammt großes Problem. Wie finden wir einen Umgang mit solch heftigen Inhalten? Viele Fach- und Lehrkräfte wissen gar nicht, wie TikTok funktioniert oder was dort für Inhalte konsumiert werden – oder dürfen die App nicht nutzen. Die Publikation „Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz“ der „Bildungsstätte Anne Frank“ zeigt, mit was für antisemitischen und antiisraelischen Inhalten Jugendliche vermehrt konfrontiert werden. Die Politik hat ja damit begonnen, TikTok ein bisschen ernster zu nehmen. Dennoch müssen sich auch Verwaltungen, Personen in der Lehre oder Jugendsozialarbeit Gedanken machen, wie man zukünftig mit TikTok umgehen will.

 

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