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Interview „Aids ist heute nicht das Hauptproblem. Es geht darum, diskrimininierungsfrei mit HIV zu leben“

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Menschen mit HIV erleben auch im Jahr 2022 Diskriminierung.
Menschen mit HIV erleben auch im Jahr 2022 Diskriminierung. (Quelle: Miguel Á. Padriñán/Pixabay)

Für „positive stimmen 2.0“ haben die Deutsche Aidshilfe und das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) 2021 zum zweiten Mal die gesellschaftliche Situation von Menschen mit HIV in Deutschland untersucht. Gemeinsam mit der HIV-Community wurde dafür eine Online-Befragung mit ca. 1000 Teilnehmenden durchgeführt. Hinzu kamen 500 Peer-to-Peer-Interviews, die Menschen mit HIV mit anderen Personen aus der HIV-Community führten. Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Einerseits ermöglichen heutige Behandlungsmöglichkeiten dem Großteil der Befragten ein gesundheitlich kaum eingeschränktes Leben. Die sogenannte antiretrovirale Therapie senkt die Viruslast unter die Nachweisgrenze. Die Medikamente verhindern den Ausbruch der Aids-Erkrankung und schließen selbst bei körperlicher Intimität die Möglichkeit der Übertragung aus. Dennoch berichteten fast alle Teilnehmenden von anhaltenden Vorurteilen und alltäglicher Diskriminierung.

Belltower.News: Im Moment durchleben wir mit Covid-19 erneut eine Pandemie. Trotz aller Unterschiede: Sehen Sie im gesellschaftlichen Umgang zumindest ansatzweise Parallelen zur Aids-Krise der 1980er Jahre?
Dr. Janine Dieckmann: Ein Blick auf die Geschichte von Krankheiten wie der Pest, Cholera, Syphilis und jetzt eben Covid-19 offenbart immer ähnliche, wenn nicht sogar die gleichen Verhaltensweisen. Das galt auch damals für HIV und Aids. Auch hier fanden sich zunächst verschwörungsideologische und antisemitische Erklärungsversuche. Wie immer gab es die Suche nach einem Sündenbock und eine Zuschreibung als „Krankheit der Anderen“. Bei HIV hieß es vor allem, es wäre die Krankheit der Schwulen. Sie würden das Virus mit ihrem ausschweifenden Sexualleben verbreiten. Diese Assoziation hält sich bis heute. Rassistische Krankheitszuschreibungen und Erklärungen waren und sind bis heute ebenfalls Teil der gesellschaftlichen Reaktion.

Fallen Ihnen Beispiele ein?
2015 testeten beispielsweise bayerische und sächsische Behörden alle neu angekommenen Geflüchteten zwangsweise auf unterschiedliche Krankheiten, darunter auch HIV. Das Ganze fand unabhängig vom Herkunftsland statt. Die Tests erfolgten jenseits einer epidemiologischen Datengrundlage, und vor allem ohne abgefragtes Einverständnis und ohne Mitteilung der Testergebnisse. Hier offenbart sich eine verallgemeinernde Vorstellung über Geflüchtete, die eine andere Hautfarbe als weiß haben. An ihr zeigt sich, dass HIV und andere Krankheiten als Probleme gesehen werden, die vor allem von außen „in die Gesellschaft“ kommen.

Eine derart verzerrte Sicht auf HIV bleibt sicherlich nicht folgenlos.
Da Aids von Anfang an vor allem als ein Problem der schwulen Community galt, glauben viele heteronormativ lebende Menschen bis heute fälschlicherweise, es kann sie gar nicht treffen. Fatalerweise kommen viele nicht einmal auf die Idee für einen HIV-Test. Andere lassen sich wiederum aus Angst vor dem Stigma nicht testen. Das Abbauen von Vorurteilen gegenüber Menschen mit HIV ist deshalb auch ganz im Sinne der medizinischen Prävention.

In einer mittlerweile revidierten Äußerung verglich der kanadische Politiker Jason Kenney die Stigmatisierung von Covid-19-Ungeimpften mit derjenigen, die Menschen mit HIV in den 1980ern erlebten. Auch der impfgegnerische Slogan „Gib Gates keine Chance“ erinnert deutlich an das „Gib Aids keine Chance“ der HIV-Aufklärungsarbeit. Was halten Sie von solchen Vergleichen?
Impfgegner:innen und die Leugner:innen der Covid-19-Pandemie nutzen solche Vergleiche, um sich selbst als verfolgte Minderheit zu inszenieren. In Deutschland kennen wir dieses Argumentationsmuster vor allem mit Bezug auf die Erfahrung von Jüdinnen und Juden. Aber das ist doppelt absurd: Erstens wäre eine Impfung gegen HIV, die es immer noch nicht gibt, absolut wünschenswert. Und zweitens ist es ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die ihre Themen und Community-Anliegen seit Jahrzehnten durch zahlreiche Bewegungen erkämpfen. Sie finden sie hier einfach umgedreht, falsch dargestellt und komplett aus dem Kontext gerissen wieder.

Im Unterschied zu solchen Vereinnahmungen war es bei „positive stimmen 2.0“ ein selbsterklärtes Anliegen, Menschen mit HIV eine Stimme zu geben und sie aktiv in den Forschungsprozess einzubinden. Was genau macht Ihre Forschung zu einem Community-Projekt?
Menschen mit HIV waren auf jeder Ebene beteiligt. Von der Idee hinter dem Projekt, über die Fragestellung bis hin zur Durchführung und Auswertung. Unsere Interviewer:innen waren beispielsweise selbst Menschen mit HIV. Das ist eine ganz große Stärke unserer Studie.

Hinter Ihrem Ansatz steckt also ein empowerndes Moment?
Ganz genau. Ermächtigt werden hier einerseits Personen, die unmittelbar am Forschungsprozess beteiligt waren. Im erweiterten Sinne gilt das aber auch für die gesamte HIV-Community. Die Wissenschaft hat hier wirklich auf Augenhöhe mit der Community zusammengearbeitet. In kontinuierlicher Kooperation mit HIV-Positiven wurden ihre Lebensrealtitäten und Perspektiven miteinbezogen, und vor allem die Herausforderungen, vor denen sie stehen, und eben auch ihre Negativerfahrungen. Die Handlungsempfehlungen, die am Ende unserer Studie stehen, formulierten wir ebenfalls gemeinsam mit Vertreter:innen der Community aus.

Vor zehn Jahren fand bereits eine ähnliche Erhebung statt. Hat sich an der Lage von Menschen mit HIV seitdem etwas geändert?
Die Entwicklungen in der Medizin sind nicht zu vernachlässigen. Durch die Einnahme von Medikamenten bleibt das Virus unter der Nachweisgrenze, dann ist HIV nicht mehr übertragbar. Die Medikamente haben immer weniger Nebenwirkungen. Das ermöglicht Menschen mit HIV heute medizinisch gesehen eine normale Lebensführung. Leider wissen das in der Gesamtgesellschaft nur sehr wenige Menschen. Und daraus folgt, dass das, was den Menschen auch 40 Jahren nach der Aids-Krise am meisten zu schaffen macht, weiterhin die anhaltenden gesellschaftlichen Vorurteile und die Diskriminierung sind.

Wo äußert sich diese Diskriminierung am stärksten?
Im privaten Bereich begegnen Menschen mit HIV vor allem im Sexualleben und in Beziehungen Vorurteilen und Stigmata. Auch das Gesundheitswesen ist immer noch ein Kontext, in dem Menschen mit HIV meist Diskriminierung erleben. Ein Drittel der Befragten erzählte, dass ihr HIV-Status in Krankenhäusern auffällig auf der Krankenakte markiert wurde. Zahnärzt:innen legen ihre Termine auf das Tagesende. Einige Interviewte berichteten sogar von verweigerten Behandlungen. Sogar in klinischen Einrichtungen, die auf HIV spezialisiert sind, sehen sich die Menschen mit unangemessenen Fragen zu ihrer Infektion konfrontiert.

Woraus speist sich diese Ungleichbehandlung?
Gesellschaftlich ist HIV mit einem negativen Stigma belegt. Die Bilder von Aids-kranken Menschen aus der Berichterstattung der 1980er und -90er Jahre stecken immer noch in den Köpfen. HIV wird stark mit einem unmoralischen Lebensstil verbunden und die Übertragbarkeit des Virus im Alltag massiv überschätzt. Selbst bei Menschen in medizinischen und pflegenden Berufen, die es durch ihre Ausbildung besser wissen müssten, finden sich bestimmte Vorurteile und diskriminierende Verhaltensweisen.

Die mediale Darstellung von Menschen mit HIV ist demnach auch heute problematisch?
Erlebte Diskriminierung umfasst für uns auch die Erfahrung, dass die eigene Gruppe abwertend und vorurteilsbeladen in den Medien auftaucht. Wir haben deshalb explizit danach gefragt. Es ist sehr deutlich geworden, dass die alten HIV-Bilder in der Presse, aber auch in Serien und Filmen umherschwirren. Viele Menschen mit HIV erleben das als unangemessen und diskriminierend. Immer ist die Rede von Aids, der Krankheit, die das HI-Virus unbehandelt auslöst. Dabei ist Aids heute gar nicht das Hauptproblem. Es geht darum, mit einer chronischen HIV-Infektion zu leben.

Das Stichwort „Aids“ lässt wohl viele erstmal an sterbende Menschen und eine hochansteckende Krankheit denken…
Dass HIV stark ansteckend und tödlich sei und vermeintlich von allen HIV-Positiven deshalb eine Gefahr ausgehe, ist Grundlage für viele „Berührungsängste“ und Vorurteile. Zusätzlich zu den medialen Bildern speist sich das gesellschaftliche Stigma von HIV dabei auch aus dem fehlenden Wissen der Mehrheitsgesellschaft. Abseits des jährlichen Welt-Aids-Tages am 1. Dezember gerät HIV schnell in Vergessenheit. Laut einer Befragung der Deutschen Aidshilfe wissen nur 18 Prozent der Deutschen, dass HIV unter Einnahme von Medikamenten überhaupt nicht übertragbar ist.

Gegen mangelndes Wissen hilft meistens nur Aufklärungsarbeit. Wo ist diese besonders wichtig?
Die Vermittlung von Wissen zu HIV darf nicht länger nach überkommenen Bildern gestaltet werden. Neben einer aktualisierten Sexualaufklärung an Schulen besteht deshalb vor allem im Medizinsektor dringender Nachholbedarf. Menschen mit HIV sind schließlich auch über die Infektion hinaus auf medizinische Versorgung angewiesen. Die Community-Mitglieder, die an unserer Studie beteiligt waren, erkannten hier den größten Handlungsbedarf. Die Aus- und Weiterbildung von Pflegepersonal und Ärzt:innen muss an den aktuellen medizinischen Kenntnisstand zu HIV angepasst werden.

Gemeinsam mit der Community formulieren Sie weitere Handlungsempfehlungen. Dabei geht es nicht zuletzt um den Ausbau von Unterstützungsangeboten für Menschen, die aufgrund von HIV Diskriminierung erleben.
Der Mehrheitsgesellschaft fehlt ein Bewusstsein für HIV-bezogene Diskriminierung. Das spiegelt sich in der Arbeit verschiedener Beratungsstellen. Allgemeine Hilfsangebote für diskriminierte Menschen brauchen deshalb mehr Sensibilität für die Ungleichbehandlung, die Menschen mit HIV erleben.

Gleichzeitig raten Sie aber auch den HIV-Beratungsstellen zu einem selbstkritischen Blick.
Die HIV-Community ist kein diskriminierungsfreier Ort. Sexismus, Rassismus, Ableismus und ähnliche Vorurteile spielen hier ebenfalls eine Rolle. Unsere Ergebnisse zeigen, Menschen, die in mehrfacher Hinsicht Diskriminierung erfahren, fühlen sich in vielen Angeboten der Aidshilfen nicht mitgedacht. Der ganze Themenkomplex rund um Schwangerschaft, Stillen und Geburt verdient bei der HIV-Beratung mehr Beachtung. Es ist wichtig, dass People of Color sich in Beratungsstellen repräsentiert finden. Auch bei Informationsveranstaltungen zu HIV kommt es auf Barrierefreiheit an.

Das Artikelbild wurde unter der vereinfachten Pixabay Lizenz veröffentlicht.

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