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Sturm auf den Reichstag Angriff auf die Demokratie ohne Konsequenzen

Der Versuch, ein Regierungsgebäude zu stürmen, ist in Deutschland offenbar ein Kavaliersdelikt, für das die Beteiligten keine strafrechtlichen Konsequenzen zu fürchten haben. So muss die Bilanz drei Jahre nach dem verschwörungsideologisch-rechtsradikalen Sturm auf den Reichstag ausfallen.

 
Am 29. August 2020 durchbrachen mehrere hundert Menschen eine Polizeiabsperrung und stürmten auf die Treppe des Bundestags. (Quelle: RechercheNetzwerk.Berlin)

Erinnern Sie sich an den Sturm auf das Kapitol in Washington, in den USA, im Januar 2021? Mit dem QAnon-Schamanen, den rechtsextremen Proud Boys und den Trump-Fans, die mit der gewalttätigen Eroberung des Gebäudes glaubten, den Willen ihres Idols umzusetzen, des abgewählten Präsidenten Donald Trump? Die strafrechtliche Bilanz für die am Angriff Beteiligten sieht in den USA so aus:

  • Mindestens 950 Menschen werden angeklagt und müssen sich vor Gericht verantworten.
  • Mehr als 600 sind verurteilt worden, darunter mehrere Haftstrafen von über 10 Jahren (vgl. Spiegel).
  • Unter anderem wurde ein Mann, der vor dem US-Kongress mit einer Fahnenstange auf Polizisten eingeschlagen hatte, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt (vg. FR).
  • Höchste Strafe für den Gründer der rechtsextremen „Oath Keepers”, Stewart Rhodes: 18 Jahre Haft (vgl. Spiegel). Die Staatsanwaltschaft hatte 25 Jahre gefordert.

Erinnern Sie sich an die Vorbildaktion zum Sturm auf das Kapitol in Deutschland? Das war im August 2020 der Sturm auf den Reichstag in Berlin. Aus einer zum Großteil von Verschwörungsideolg*innen und Rechtsextremen besuchten Querdenken-Demonstration mobilisierten unter anderem der rechtsextreme Verschwörungsideologe Rüdiger Hoffmann, ein Mitglied der Reichsbürger-Gruppe Gelbwesten Berlin und die verschwörungsgläubige Heilpraktikerin Tamara aus der Eifel die Menschen vor dem Reichstagsgebäude dazu, mit Reichsflaggen und QAnon-Fahnen die Treppen zum Bundestag und am liebsten das Gebäude zu stürmen.

Rund 500 Menschen folgten dem Aufruf. In einem Video der ZEIT berichtet einer der wenigen Polizist*innen, die den Bundestag schützten: „Man wollte offensichtlich in den Reichstag eindringen. (…) Es gab Fußtritte, es gab Faustschläge, man wurde mit Fahnenstangen angegriffen, so dass ich in meinem Zug innerhalb weniger Minuten mehrere verletzte Kolleginnen und Kollegen hatte. (…) Diese Aktion, die hier durchgeführt wurde, das war nicht einfach mal so ‚lass uns mal auf die Treppe gehen und wir machen ein Selfie‘, das war ein ganz klassischer Anschlag auf die deutsche Demokratie.“

Schauen wir auch hier auf die Konsequenzen nach dem Angriff (vgl. LTO):

  • 300 Ermittlungsverfahren führten dazu, dass 88 (sic) Tatverdächtige ermittelt werden konnten.
  • Es ging in 77 Fällen um Landfriedensbruch, in fünf Fällen um Angriff und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, in zwei Fällen um das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und um eine Beleidigung und eine Sachbeschädigung
  • 82 Vorgänge wurden von der Polizei an die Staatsanwaltschaft abgegeben.
  • Die Staatsanwaltschaft Berlin stellte davon 55 ein – also rund 70 Prozent, weil sie keinen hinreichenden Tatverdacht sah (39 Fälle) oder weil kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte (14 Fälle). Das heißt u.a., dass sie das bloße Überwinden der Absperrgitter nicht als Landfriedensbruch ansieht.
  • Zwei Fälle wurden teilweise eingestellt oder ruhen wegen Hindernissen.
  • 17 Verfahren sind noch nicht abgeschlossen.
  • Fünf Strafbefehle und eine Anklage sind noch gerichtsanhängig, ein weiteres Verfahren an eine andere Staatsanwaltschaft überwiesen worden.
  • In genau drei Fällen erfolgte eine Verurteilung via Strafbefehl erfolgt (zwei Mal Landfriedensbruch, ein Mal Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) – das heißt Geldstrafen.
  • Ein Verfahren vor dem Amtsgericht Tiergarten startet nächste Woche – aber nicht, weil die Staatsanwaltschaft ein öffentliches Interesse vermutet hatte an einem Verfahren gegen einen Mann, der einen Polizisten als „Volksverräter“ beleidigt und einen weiteren Polizisten geschlagen hat, sondern weil der Angeklagte den bereits erlassenen Strafbefehl nicht akzeptieren wollte und Einspruch eingelegt hat.

Man kann zukünftigen Gruppen, die das Herz der Demokratie in Gebäudeform angreifen wollen, also nur empfehlen, dies in Berlin zu tun. Hier gehört es offenbar zu akzeptablem Verhalten – wenn man nur rechtsextrem oder verschwörungsideologisch motiviert ist. Bitter für die verletzten Polizist*innen, bitter für die Sicherheit demokratischer Institutionen.

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