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Gehasst, verfolgt, verschrien Rassismus gegen Sinti und Roma in Europa

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Antiziganistische Schlagzeile der Weltwoche (Schweiz) (Quelle: ngn/al/screenshots)

von Sina Laubenstein

In Tschechien marschieren Neonazis in Roma-Vierteln und hetzen gegen die Anwohner. In Italien werden Roma-Siedlungen niedergebrannt. In Griechenland greifen Rechtsextreme Roma auf offener Straße an. In Serbien wird ein Roma-Junge, ein Kind, von Neonazis zu Tode getreten. In Frankreich werden Tausende Roma ausgewiesen. In Ungarn werden zwischen 2008 und 2009 neun Roma ermordet, darunter auch Kinder. Und in Deutschland? Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) warnt vor den „Armutsflüchtlingen“ und schürt so Vorurteile gegenüber Sinti und Roma. Der Rassismus gegen Sinti und Roma ist ein europäisches Problem – auch in Deutschland.

Antiziganismus in Deutschland und Europa

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1989 wurde vor der „Zigeunerwelle“ aus  Osteuropa gewarnt: Die Hetze von Politik und Medien schürte die Abneigung gegen die Sinti und Roma, das Asylrecht wurde in der Folge weiter verschärft. Dass Sinti und Roma schon seit 600 Jahren in Deutschland und Europa mitten in der Gesellschaft leben und arbeiten, wurde dabei vergessen: Nicht nur Neonazis protestierten gegen die Zuwanderung aus dem Osten und demonstrierten in Roma-Vierteln. Das ging in den 1990ern so weit, dass Sinti und Roma auf der Straße offen beleidigt und angegriffen wurden. Den Höhepunkt bildeten die Brandanschläge in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Was man damals als Reaktion der rechten Szene auf die Zuwanderung nach der Ostöffnung abtat, wiederholt sich zwanzig Jahre später in ganz Europa.

Angefangen bei Beleidigungen gegen Sinti und Roma bis hin zur Verfolgung und Ermordung durch extreme Gruppierungen: In Ungarn, Tschechien und Bulgarien kommt es derzeit zu progromartigen Ausschreitungen gegen Roma, Faschisten sammeln sich in Roma-Siedlungen, demonstrieren, randalieren und hetzen gegen die Bewohner. In Ungarn wurden bereits neun Roma ermordet, darunter Kinder. Auch in Tschechien spitzt sich die Lage immer weiter zu, man befürchtet neue,  noch gewalttätigere Ausschreitungen gegen Sinti und Roma. Was man als osteuropäisches Phänomen abtun könnte, findet ebenso in Frankreich und Italien statt. Und auch in Deutschland gibt es Antiziganismus – nicht nur in den Köpfen, sondern auch im konkreten Handeln. Die Situation weckt ungute Erinnerungen an die Ausschreitungen der 1990er Jahre.

In der Mitte der Gesellschaft

Erst 2012 wurde das Denkmal für die 500.000 ermordeten Sinti und Roma im Nationalsozialismus eingeweiht. Damals setzte man darauf große Hoffnungen: Endlich wird die Vergangenheit aufgearbeitet, man bekennt sich zu den Taten des Nationalsozialismus, die Sinti und Roma werden als Minderheit akzeptiert und als Teil der Gesellschaft integriert. 600 Jahre dauert dieser Prozess. Denn so lange versuchen die Sinti und Roma schon, in Deutschland und Europa zu leben. Diskriminiert, gehasst, verfolgt und ermordet – nicht nur während des Nationalsozialismus. Doch ein Ende schien in Sicht. Eine Woche vor der großen Geste der herbe Rückschlag: Innenminister Friedrich warnt vor den „Armutsflüchtlingen“ aus Osteuropa, die die deutschen Sozialleistungen ausnutzen und auf Kosten der Steuerzahler leben wollten. Zuwanderer aus „dem Osten“ werden sofort mit Sinti und Roma gleichgesetzt – ein Zeichen dafür, wie stark der Antiziganismus in den Köpfen verbreitet ist. Gleichzeitig will Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) aber junge, arbeitslose Spanier, Griechen und Portugiesen nach Deutschland holen, um sie vor der Jugendarbeitslosigkeit in ihrem Herkunftsland zu schützen und um den Fachkräftemangel in Deutschland wett zu machen. Millionen offene Stellen gebe es in Deutschland, so von der Leyen. Dass diese nicht mit den „Asylschmarotzern“ aus Bulgarien und Rumänien besetzt werden, scheint niemanden zu verwundern. Auch der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete von Bremen, Martin Korol, warnt vor der Armutszuwanderung der Roma. Aussagen, die man aus der rechten Szene vermutet, sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Antiziganismus ist eine Grundstruktur der Mehrheitsgesellschaft“, lautet auch das harte Urteil von Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Zwar gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen den serbischen und mazedonischen Asylsuchenden, die ihr Asyl missbrauchen wollen, und den Armutsflüchtlingen aus Osteuropa. Doch durch seine Aussage hat Friedrich den Rassismus gegen die Roma insgesamt geschürt – weder die Medien noch die Bevölkerung machen dabei einen Unterschied und vermischt die Debatten zu „Asylschmarotzern“ und „Armutsflüchtlingen“. 

Deutschland nur mangelhaft beim Kampf gegen Antiziganismus

Geht bitte dahin wieder zurück, wo ihr herkommt!„, fordert Friedrich im Juni 2013 von den Roma und will diese schonungslos abschieben. Er begründet seine Forderung damit, dass die „Asylanten aus dem Osten“ einer illegalen Tätigkeit nachgehen und so den deutschen Rechtsstaat betrügen würden. Dass etwa 80% der Sinti und Roma einen versicherungspflichtigen Job haben, wird dabei genauso ignoriert, wie die Tatsache, dass Sinti und Roma von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern aufgrund ihrer Ethnizität abgelehnt werden. Denn auch heute werden Sinti und Roma, die die größte Minderheit in Europa sind, offen diskriminiert. Und das nicht nur von Neonazis. Auch die Behörden und Medien sind mit von der Partie – und wie Friedrich und Korol zeigen, lässt auch die Politik sich nicht bitten. Das fängt in der Schule an und geht über die Arbeits- bis hin zur Wohnungssuche: „Menschenunwürdige Wohnsituationen, die Ausgrenzung aus Städten und Gemeinden, die Segregation im Schulsystem, der oft totale Ausschluss von Arbeit und Einkommensmöglichkeit“, beschreibt auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, den Antiziganismus in Deutschland.

Ein Gutachten des Politikwissenschaftlers Markus End fasst die Forschungslage zu Sinti und Roma zusammen und gibt Gegenstrategien zur Bekämpfung von Antiziganismus vor. Beispielsweise wird eine Umfrage von 3.100 Sinti und Roma in Deutschland, durchgeführt vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dargestellt: 76% der teilnehmenden Sinti und Roma bestätigen Diskriminierung in der Schule, in Gaststätten, auf der Arbeit und von Vermieterinnen und Vermietern zu erfahren. Gleichzeitig zeigt eine Umfrage des American Jewish Committee von 1994, dass 64% der teilnehmenden Gruppe Sinti und Roma als Nachbarinnen und Nachbarn ablehnen, Sinti und Roma erreichen somit den höchsten Ablehnungswert in der Gesellschaft. Romeo Franz, der erste Sinto, der für einen Platz im Bundestag kandidiert, hat dies am eigenen Leib erfahren: Nicht nur er wurde Opfer von Diskriminierung, auch sein Sohn werde heute noch in der Schule als „Zigeuner“ bezeichnet, erzählt er. Ein Urteil des Amtsgerichts Bochum von 1995 zeigt, dass Vorurteile gegen Sinti und Roma deren Integration behindere, und spricht Vermietern das Recht zu, „Zigeuner“ als Nachmieterinnen und Nachmieter abzulehnen, da „diese Bevölkerungsgruppe traditionsgemäß überwiegend nicht sesshaft“ sei, wie der Richter begründet. Das Urteil ist bis heute gültig – und beweist, wie wenig bisher gegen den Antiziganismus in Deutschland getan wurde. Auch der Europäischen Kommission ist das aufgefallen: Von allen Mitgliedsstaaten erzielt Deutschland mit das schlechteste Ergebnis und schafft es, nur eine der EU-Auflagen zum Kampf gegen den Antiziganismus zu erfüllen.

„Lustig ist das Zigeunerleben“ nicht

Über keine Minderheit wissen wir so wenig wie über die Sinti und Roma – gleichzeitig haben wir gegenüber keiner Bevölkerungsgruppe mehr Vorurteile. Schrieb man den Sinti und Roma früher Eigenschaften wie Abenteuerlust, Leidenschaft und Musikalität zu, hat sich das Bild von den „Zigeunern“ seit dem Nationalsozialismus gewandelt: Sinti und Roma werden mit Kriminalität assoziiert, das „fahrende Volk“, das nur kurz an einem Ort verweile und Verwüstung zurücklasse. „Asozial“ und „primitive Urmenschen“, weil sie ihre Kinder zum Betteln und Klauen auf die Straße, und nicht in die Schule, schickten. „Zigeuner“, die auf der Straße und in Sozialbauten lebten, Mitmenschen beschimpfen und bedrohen.  Dieses Bild wird durch die Medien geschürt – und in sozialen Netzwerken verbreitet. Kommentare wie “ Niemand hat etwas gegen Menschen ,die sich anpassen an eine Gesellschaft, die sie aufnimmt und Ihnen Unterstützung gewährt, Sicherheit und sogar freie Bildung und dann dieser Gesellschaft auch etwas wiedergeben. […] Schaut Euch doch mal Neukölln an, wie die Leute dort leben und vor allem von was. Die Kinder gehen JEDEN Tag stehlen und wissen ganz genau, dass Ihnen nichts geschieht“, „Aber da ja jetzt noch die dreckigen Zigeuner zahlreich herkommen, sehe ich schwarz für Rente Gesundheit und Bildung und noch schwärzer für die Infrastruktur.“, „Immer wieder gibts Ärger mit denen von drüben. Da wirst vollgepöbelt, beleidigt, ja sogar deine Kinder bedroht.“ und „Bei uns laufen die auch musikspielend durch die S-Bahn, oder die kommen mit irgendwelchen Kinderbildern um Mitleid zu erregen, um dann ne Spende zu kassieren.“ sind normal. Alle Kommentare sind aus öffentlichen Plattformen wie Facebook, Twitter, etc. und bestätigen deutlich, welches Bild manch einer von den Sinti und Roma hat. Oft nicht, weil man offen rassistisch ist, sondern weil man es nicht besser weiß und die Schlagzeilen der Medien wiederkäut. Die Angst und Abneigung der Bevölkerung gegenüber Sinti und Roma wird durch die Politik geschürt: Verantwortungslos werden falsche Fakten und Zahlen verbreitet. „Asylantenschwemme“, „arbeitslos und kriminell“, „Sozialschmarotzer“ – Schlagzeilen, die häufig in Verbindung mit Sinti und Roma auftauchen. Kein Wunder also, dass sich viele Sinti und Roma nicht zu ihren Wurzeln bekennen. Das bestätigt auch das Gutachten von Markus End, das Forschungsstand und Gegenstrategien zu Antiziganismus darstellt: 78% der Teilnehmer des Eurobarometers bestätigten, dass es von Nachteil sei, zu der größten Minderheit Europas zu gehören. „Ich kenne höher positionierte Sinti und Roma, die sich nicht outen – aus Angst ihren Posten zu verlieren“, sagt auch Franz. Der Rassismus gegen Sinti und Roma gehört zur Normalität – und ist in allen Gesellschaftsschichten etabliert.

Was tun gegen Antiziganismus?

Antiziganismus ist die am meisten verbreitete Rassismus-Form in Deutschland und Europa. Vor allem jetzt, schaut man auf die Geschehnisse von Ungarn und Tschechien und den zunehmenden Rassismus gegenüber Sinti und Roma in ganz Europa, ist es nötig, gegen Antiziganismus vorzugehen, um den Sinti und Roma endlich ein Leben frei von Angst zu ermöglichen. „Es wird sich zu wenig mit der größten deutschen Minderheit befasst, weil Deutschland keine Strategien hat“, sagt Tom Königs. Doch wie kann man eine Besserung erreichen?

Man sollte sich den Rassismus bewusst machen und versuchen Vorurteile, positiv wie negativ, hinter sich zu lassen. Sinti und Roma sind keine „Zigeuner“ und müssen nicht per se kriminell, laut und schmutzig sein. Sie müssen auch nicht musikalisch oder leidenschaftlich sein: Wie alle Menschen unterscheiden sie sich voneinander und haben individuelle Eigenschaften und Charakterzüge. Sie sind ein Teil unserer Gesellschaft – und sollten genauso auch behandelt werden.

Mehr Antiziganismus-Forschung! Aber nicht nur das: Wir müssen nicht nur den Rassismus gegenüber Sinti und Roma genauer erforschen, sondern auch die Sinti und Roma als Teil unserer Gesellschaft besser kennen lernen. Wir wissen zu wenig über die Sinti und Roma – und genau da sollte angesetzt werden, um den Rassismus gegen die Sinti und Roma aus dem Weg zu schaffen.

Nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene kann man Vorurteile abbauen – auch Politik, Behörden und Medien müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Keine unbedachten Kommentare, kein institutionalisierter Rassismus, keine Skandal-Schlagzeilen, keine falschen Zahlen und Fakten.  Aussagen wie die von Innenminister Friedrich schüren den Hass gegen Sinti und Roma und sind ein gefundenes Fressen für die NPD und Neonazis: „Zigeuner“ werden verantwortlich für die unsichere Lage in der Europäischen Union gemacht, für die Jugendarbeitslosigkeit, für alles, das aktuell schief läuft. „Und genau deshalb sind sie ein beliebtes Wahlkampfthema“, befürchtet auch Romeo Franz. Dem sollte die Politik verantwortungsbewusst entgegen treten – auch Innenminister Friedrich.

Um den Rassismus gegenüber Sinti und Roma zu lösen, muss man Vorurteile bekämpfen. Das wichtigste ist deshalb die Aufklärung: Und die sollte nicht über die Sinti und Roma, sondern MIT Sinti und Roma stattfinden.

Mehr Infos bei Netz-gegen-Nazis.de:

Hass gegen Sinti und Roma

Was ist Antiziganismus?

Mehr Infos im Netz:

Antiziganismus Watchblog

Themenseite Antiziganismus der ZAG

Bundeszentrale für politische Bildung

 

PDF „Zum Stand der Forschung und der Gegenstrategien

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