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30 Jahre Rostock-Lichtenhagen Multimediale Projekte gegen das Vergessen

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On Air beim Lokalsender LOHRO in Rostock
On Air beim Lokalsender LOHRO in Rostock (Quelle: Nicholas Potter)

Flavia sitzt in einem nagelneuen Tonstudio im fünften Stock einer alten Schule in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt, kurz: KTV – ein alternativ geprägtes Viertel in Rostock. Vor dem Gebäude steht ein Straßenschild mit der Aufschrift „Patriotischer Weg“, der mit antifaschistischen Stickern überklebt ist. In dieser Etage residiert der Lokalsender LOHRO, ein nicht-kommerzieller Radiosender für die Hansestadt, der rund um die Uhr sendet. Dort ist Flavia für das Projekt „Engagement on Air“ verantwortlich. Damit will sie vor allem junge, von Rassismus betroffenen Menschen mit Migrationshintergrund ermutigen, Radiojournalist*innen zu werden.

„Durch das Projekt soll ihre Stimme hörbarer werden“, erklärt die Ende 30-jährige Italienerin. „Das Ziel ist, Grundlagen der Radioarbeit zu vermitteln, damit wir gemeinsam Radioformate produzieren können.“ Die Themen bringen die Teilnehmenden selbst mit. Inhaltlich soll es darum gehen, Engagement für eine weltoffene Gesellschaft sowie gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu stärken.

​​Das Projekt, das von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird, steht noch in den Startlöchern, geplant sind aber ein bis zwei Sendungen im Monat, die jeweils eine Stunde dauern sollen. Flavia will auch Radiovernetzungstreffen an verschiedenen Orten in Mecklenburg-Vorpommern etablieren, gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen vor Ort. „Natürlich gibt es auch auf dem Land eine engagierte Zivilgesellschaft“, sagt Flavia. „Aber sie findet weniger Gehör und Aufmerksamkeit als in den großen Städten.“ Das war auch ein Grund, den Fokus des Projekts auf ländliche Gebieten zu legen.

Ein erster Schwerpunkt von „Engagement on Air“ ist das rassistische Pogrom in Lichtenhagen 1992. Damals war Flavia noch ein Kind und lebte in Rom, trotzdem hatte sie von den rassistischen Ausschreitungen mitbekommen. Die Bilder vom brennenden Sonnenblumenhaus erreichten auch Italien: „Ich war klein, aber der Name Rostock war für mich mit Lichtenhagen verbunden. Lange Zeit war das alles, was ich über die Stadt wusste.“

Zum 30. Jahrestag des Pogroms plant Flavia einen Schwerpunkt. Mit Podcasts, Interviews, Livesendungen und anderen Formaten will sie zusammen mit Jugendlichen die Geschichte der Ausschreitungen von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Das Hörspiel von Dan Thy Nguyens Theaterstück „Sonnenblumenhaus“ soll ausgestrahlt werden. Von der Großdemonstration am Samstag, dem 27. August in Rostock mit dem Motto „Damals wie heute: Erinnern heißt Verändern“ will sie ebenfalls berichten.

Auch im Kulturzentrum Peter-Weiß-Haus, um die Ecke des Radiosenders, laufen die Vorbereitungen für den 30. Jahrestag des Pogroms auf Hochtouren. Christoph Schultz ist dieser Tage ein gefragter Interviewpartner, das Interesse der Medien ist zum Jubiläum besonders groß. Schultz arbeitet im Verein „Soziale Bildung e.V.“ als pädagogische Leitung und Jugendbildungsreferent im Themenfeld Erinnerungskultur und Teilhabe. Im Peter-Weiss-Haus arbeitet er auch im Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“ mit, das in Trägerschaft des Vereins ist – eine Sammlung von alten Zeitungsberichten, historischen Quellen und Schwarz-Weiß-Fotos.

Mit den Ereignissen im August 1992 vor dem Sonnenblumenhaus wird in Rostock unterschiedlich umgegangen: „Zum 20. Jahrestag wurde teilweise ein starker Fokus darauf gelegt zu zeigen, dass Rostock eine weltoffene Stadt ist. Beim Bürger*innenfest hielt Bundespräsident Gauck eine Rede, es sang ein Kinderchor – aber die Perspektiven von Betroffenen wurden nicht umfangreich eingebunden“, kritisiert der 40-jährige gebürtige Rostocker. Er spricht von „inszenierten Erinnerungszeichen“. Eine „Friedenseiche“ wurde vor dem Sonnenblumenhaus gepflanzt, nur um von unbekannten Täter*innen gleich wieder abgesägt zu werden.

Eine Antwort auf diesen Konflikt war die Gründung des Dokumentationszentrums 2015, das mit kommunalen Geldern gefördert wird. Das Archiv liegt in einem kleinen Nebenraum im Peter-Weiß-Haus, an den Wänden hängen Fotos von randalierenden Rechtsextremen und überforderten Polizist*innen vor dem Sonnenblumenhaus. „Wir wollen uns mit der Vor- und Nachgeschichte des Pogroms auseinandersetzen“, erklärt Schultz. „Wir wollen historische Quellen sichern, sei es für die Forschung, für Medienschaffende oder Schüler*innen“.

Die Web-Dokumentation „Rostock-Lichtenhagen 1992“, die vom Dokumentationszentrum und dem Verein „Soziale Bildung“ mit Förderung der Amadeu Antonio Stiftung entwickelt wurde, macht diese Geschichte besonders greifbar: Die Webseite informiert an sechs Stationen über die Ursachen, den Ablauf und die Folgen der rassistischen Ausschreitungen damals. Die sechs Stationen sind auch die Gedenkorte des Denkmals „Gestern Heute Morgen“, das 2017 von der Künstlergruppe „Schaum“ konzipiert wurde. Sechs weiße Stelen verstreut in der Stadt erinnern an die Ereignisse damals und Kontinuitäten heute, aus unterschiedlichen Perspektiven. An jedem Ort gibt es mit der Web-Dokumentation Hörbeiträge, Berichte von Zeitzeug*innen sowie Filme und Fotos. Eine Chronik vermittelt zudem einen Überblick über die historischen Ereignisse des Jahres 1992.

Für Schultz ein wichtiges Projekt. „Es gibt immer wieder Anfragen von Schulen, aber es ist nicht so, dass wir zum Standardrepertoire Rostocker Schulen gehören“, sagt er. Im Gespräch mit Jugendlichen vor dem Sonnenblumenhaus wird auch deutlich: Viele wissen nicht, was damals passiert ist. Mit der Web-Dokumentation will Schultz mehr Aufmerksamkeit für das Thema schaffen: „Ich finde es zentral, dass es Vermittlungsformate für junge Menschen gibt.“ Dafür habe das Dokumentationszentrum mit der Web-Dokumentation eine multimediale Form gewählt, um die Geschichte möglichst zugänglich zu machen – und vor allem die Perspektive von Betroffenen sichtbar zu machen. „Das hat bislang oft gefehlt.“

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