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Anettas Kolumne Sommersprossen und Antiimperialismus

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Anetta Kahane: Die Kolumne
Anetta Kahane ist Senior Consultand und ehemalige Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung. (Quelle: Ivo Mayr)

Als mein Vater geboren wurde, hatte der Erste Weltkrieg noch nicht angefangen, Russland war noch ein Zarenreich und Amerika vor allem sehr weit weg. Er lebte damals mit seinen Eltern im Berliner Scheunenviertel, damals ein sehr armes, jüdisches Ghetto, heute eine schicke und teure Meile in Mitte. Im Scheunenviertel, dessen Flächen sich etwa aus dem Viereck zwischen heute Rosa-Luxemburg-Platz, Rosenthaler Straße, Münzstraße und Torstraße ergab, lebten mehr als 80.000 Menschen, die meisten von ihnen sehr arme Juden und Jüdinnen aus Osteuropa, vor allem aus Polen und Galizien, die vor Pogromen nach Berlin geflohen waren.

Damals kam in Deutschland niemand auf die Idee, Antisemitismus zu leugnen, im Gegenteil, eine Partei und zahllose Clubs trugen Antisemitismus stolz in ihrem Namen. Heute ist das anders. Niemand will Antisemit sein und selbst bei berechtigten und nachgewiesenen Vorwürfen antisemitisch gehandelt zu haben, wird heftig geleugnet. Vielleicht ist das ja ein Fortschritt gegenüber jener Zeit, als mein Vater aufwuchs.

Auf der Straße außerhalb seines Viertels, in der Schule, selbst in Vereinen war es normal, dass der „Judenbengel“ beschimpft und herumgestoßen wurde. Das Wort Diskriminierung kannte noch niemand, geschweige denn irgendeinen Gedanken daran. Die „Ostjuden“ wollte niemand – nicht einmal das gebildete und so gut es ging assimilierte Berliner Judentum, dessen prunkvolle Synagoge in der Oranienburger Straße Lichtjahre von der Realität des Scheunenviertels entfernt schien. Freilich nur, bis die Nazis kamen. Die machten keine Unterschiede zwischen dem stolzen deutschen Judentum und den Geflüchteten aus dem Osten.

Mein Vater jedenfalls suchte als Kind und Jugendlicher einen Ort, an dem er vom Hass der Antisemiten verschont bleiben möge. Er suchte lange: von den Wandervögeln bis zu den Anarchisten – nirgendwo konnte er sich von seiner Herkunft emanzipieren, ohne sein Judentum zu verleugnen. Erst in den 1920er Jahren bei den Kommunisten schien ihm das zu gelingen. Die Herkunft egal, der Klassenkampf das einzig Wahre, das zog viele jüdische Jugendliche an. Sie blieben dem obersten Gebot nach Gerechtigkeit sowie dem Universalismus des Jüdischen verbunden und konnten dennoch Teil einer politischen Kultur in Deutschland sein.

Später, nach dem Nationalsozialismus, dem Exil, dem Kampf gegen die Nazis, nach den Lagern, dem Tod in der Familie, viel später nach der Gründung der DDR, nach meiner Geburt, nach der großen antisemitischen Verfolgungswelle in der DDR, saß ich neben meinem Vater und zählte seine Sommersprossen. Sein Haar war während seiner Haft weiß geworden, aber die Sommersprossen strahlten mich an. Ich fragte ihn, wie die da hingekommen wären, und er erzählte von einem Wochenende in der Sommerfrische bei den Kommunisten, irgendwann Mitte der 1920er Jahre. Da sei es geschehen. Die Sommersprossen waren plötzlich da und er wollte bei den Kommunisten bleiben. Weil ihn dort niemand als „Judenbengel“ angequatscht hatte.

Als ich die Sommersprossen zählte, war ich weit davon entfernt, den Widerspruch zu erkennen, in den er sich wie viele jüdische Kommunisten verwickelt hatte, als sie dabeiblieben. Nicht nur, dass Stalin auch und explizit Juden massakriert hatte und in der DDR nach seinem Beispiel und auf sein Geheiß eine antisemitische Kampagne losgetreten wurde, die ganze Idee des Kommunismus hatte sich längst als ideologisches Spielzeug von korrupten Herrschern entwertet. In allen sozialistischen Ländern, ausnahmslos. Doch für meinen Vater leuchteten die Sommersprossen noch so schön wie das Gefühl von damals in der Sommerfrische. Vermutlich dachte er, Antisemiten gäbe es überall, doch bei den Kommunisten ist wenigstens eine schöne Utopie dahinter.

Ich erinnere mich an diesen verklärten und verklärenden Moment, ohne den die Ignoranz seiner künftigen Jahre kaum zu erklären sind. Wie viele Juden in der DDR blieb er da, trotzdem. Aber er fand einen Weg, der tristen Einsicht, dass sie nichts mehr mit der einstigen Hoffnung zu tun hatte, zu entfliehen. Er wurde Auslandskorrespondent. Von weither schrieb er über das Übel des Kapitalismus und des Imperialismus der USA, und was es in der Welt anrichtete. Heute würde man sagen, er solidarisierte sich mit dem globalen Süden. Die Verheerungen des Kalten Krieges waren allein Schuld des Westens und nichts sollte daran etwas ändern.

Was er beschrieb, hatte nur einen Namen: Imperialismus. Das Gute war gut, selbst wenn es böse wurde. Und Böse blieb böse, selbst wenn es gut handelte. So einfach war das und so schrieb er es auf. Und dennoch: Es blieben Zweifel. Einmal – ich war da schon eine einigermaßen erwachsene Frau, denn ich begann, ihm politisch zu widersprechen – sagte er mir einen Satz, der mir heute das Nachdenken über Antisemitismus und den globalen Süden erhellt. Mein Vater meinte, ein Fehler des Sozialismus wäre, dass er in der Außenpolitik nicht die fortschrittlichen, die oppositionellen Kräfte unterstütze, sondern nur Pakt-gebunden handle. Eben antiimperialistisch.

Und das ist richtig, denn nicht Emanzipation oder Klassenkampf, wie Marx es beschrieb, standen im Mittelpunkt der linken Ideologie, sondern der Antiimperialismus. Das bedeutet, wenn ein sozialistisches Land in einem „Entwicklungsland“ aktiv wird, und dieses Land sich antiwestlich orientiert, dann ist egal, ob der Herrscher mit Religion oder Maschinengewehr die Unterdrückten knechtet, die Minderheiten dezimiert oder die Opposition massakriert. Er wird potenziell Verbündeter und, wenn er darauf eingeht, damit automatisch auch Teil der nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Westen.

Nationale Befreiungsbewegungen und die Imperialismustheorie bringen die Herkunft wieder ins Spiel. Nicht die politische Rolle. Wie kann ein Maharadscha, der den Unberührbaren schindet, ein besserer Verbündeter sein, als ein Oppositioneller, der sich gegen das Kastensystem wehrt? Wer heute vom globalen Süden spricht, stellt auch die Herkunft und das Nationale vor den politischen Kampf um Emanzipation. Niemand sollte verdammt sein, auf seine oder ihre Herkunft reduziert zu werden. Der Antiimperialismus von damals wie von heute waren nicht gegen Imperien, sie waren ausschließlich gegen den demokratischen Westen. Denn sowohl die Sowjetunion als auch China als auch lokale imperialistische Gelüste – wie die des Iran – blieben und bleiben immer unangetastet. Jetzt langsam löst sich diese Idee auf: Russland überfällt die Ukraine und im Iran gehen die Menschen auf die Straße. Beides Orte, die von der Linken eher ignoriert wurden – und das liegt am Antiimperialismus gegen den Westen.

Was das mit Antisemitismus zu tun hat? Dafür gibt es viele Gründe. Der auffälligste ist wohl die Rolle Israels in der Ikonografie des antiwestlichen Antiimperialismus. Genau genommen gehört auch Israel zum globalen Süden, schützt sich aber vor Terror und Zerstörung durch seine Feinde, wie die im Iran. Vor allem das bringt dem kleinen Staat den Vorwurf der Apartheid ein. Ganz gleich, ob Israel sich angemessen oder unangemessen in dem Konflikt mit den Palästinenser*innen verhält, es wurde von jeher für alles verantwortlich gemacht und ist jetzt das Symbol des Bösen schlechthin.

Die dazu nötigen Projektionen speisen sich aus der endlosen Liste antisemitischer Klischees. Sie verbinden sich mit dem Antisemitismus als personifizierte und verkürzte Kapitalismuskritik und neuerdings auch mit verschiedenen Theorien zu postkolonialem Denken, das leider auch mehr auf Herkunft fußt als auf politischem und emanzipatorischem Anspruch. Eine Theorie, die ausnahmslos alle Konflikte auf den westlichen Kolonialismus zurückführt, kann schwer Ungerechtigkeiten und Unterdrückung bekämpfen, wenn sie sich dem nicht unterordnen lassen. Wie kann es sonst sein, dass die Macht des christlichen Klerus mit all seinen barbarischen Folgen in Europa und der Welt zu Recht bekämpft wurde und wird, die Macht des muslimischen, mitunter auch des hinduistischen aber nicht? Globaler Süden schützt vor Verantwortung? Mit Ausnahme von Israel natürlich.

Antisemitismus, so sagen es viele Forscher*innen, enthält grundsätzlich eine antiwestliche Botschaft. Und das stimmt. Eigenverantwortung, selbstständiges und dialektisches Denken, eine Kultur, etwas zu ermöglichen, multiperspektivisches Handeln, Flexibilität, kosmopolitische Sichtweise und die Offenheit für Veränderung – das alles ist Teil einer jüdischen Kultur, die seit tausenden Jahren auf sehr unterschiedliche Gesellschaftsformen traf. Und damit auf verschiedene Formen, sie abzulehnen oder gar auslöschen zu wollen.

Doch ohne wichtige Elemente dieser Kultur wäre die demokratische Moderne kaum denkbar. Das antisemitische Klischee also, hinter jedem Kapitalisten und Imperialisten einen Juden zu wähnen, entspricht nicht der Realität, enthält jedoch eine Erfahrung über die Verbindung des Jüdischen zur Ethik des Menschlichen. Wer also das Kollektiv mehr schätzt als die Eigenverantwortung, die Herkunft mehr als die Aufgabe, Wurzeln mehr als Flügel, die Ideologie mehr als die Dialektik, kann sich mit dem Jüdischen nicht anfreunden und wird es immer bekämpfen.

Der Antiimperialismus hat von Links den Begriff des Volkes, der Volksbefreiung, der nationalen Befreiung wieder ins Spiel gebracht. Nein, ich will nicht in solchen Kategorien denken und handeln. Aber genau das war das Thema bei der Documenta15. Wenn Völker sprechen, ist der Jude das immer Böse. Ob er Israeli ist oder nur Langnase. Ob in Indonesien oder in Kötzschenbroda.

Mein Vater hat damals nicht so weit denken können, weder nach dem Krieg noch in der DDR. Seine Generation ist inzwischen verschwunden. Trotzdem: Ich diskutiere manchmal mit ihm. Trotz aller Differenzen, er hört wenigstens zu.

Anetta Kahane gründete 1998 die Amadeu Antonio Stiftung, deren Vorsitzende sie bis 2022 war. Monatlich erscheint Anettas Kolumne bei Belltower.News. Ein Archiv ihrer Kolumnen finden Sie hier.

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