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Deutschland nach 1945 Menschenwürde erstreiten

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Bücher von Peter Finkelgruen.

Das Buch „Peter Finkelgruen, Soweit er Jude war….“ versteht man nur langsam. Der wesentliche Grund ist: Es handelt sich eigentlich um drei Bücher. Alle drei haben große Bedeutung. Es geht um die Erinnerung an eine Gruppe von Widerständlern gegen die Nazis, die Edelweißpiraten. Es geht außerdem um einen Autor, Peter Finkelgruen, der an diese Widerständler erinnerte und dabei seine eigene Lebensgeschichte rekonstruierte. Außerdem geht es um ein Herausgeberteam, Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Englhart, das sowohl die Geschichte der Kölner Widerständler als auch die Geschichte eines ihre Historiker, Peter Finkelgruen, wert hält erinnert zu werden. Im Kern geht es in allen drei Büchern darum, dass in der Nachfolgegesellschaft des Nationalsozialismus, der  Bundesrepublik, die Würde der von den Nazis Verfolgten und Ermordeten neu erstritten werden muss.

Drei Bücher

Wer das Buch zur Hand nimmt, entdeckt zunächst das erste Buch. Bei diesem Buch, „´Soweit er Jude war….` – Moritat von der Bewältigung des Widerstandes – Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944“ handelt es sich um eine lange nicht publizierte Arbeit des Rundfunkkorrespondenten und Autoren Peter Finkelgruen. Er hat das Manuskript 1981 abgeschlossen. Es handelt sich um eine Recherche über die Edelweißpiraten und mit ihnen verbundenen Nazi-Gegnern, von denen dreizehn am 10. November 1944 von der Gestapo öffentlich ermordet wurden. Vor zahlreichen Zuschauern wurden sie gehängt. Sechs der Ermordeten – Johann Müller, Bartholomäus Schink, Franz Rheinberger, Gustav Bermel, Adolf Schütz und Günter Schwarz – waren im Jahr 1944 erst 16, 17 oder 18 Jahre alt. Das Manuskript gehört damit, wenn es denn bereits 1981 publiziert worden wäre, zu den allerersten Arbeiten über diese Gruppe von Widerständlern. Die meisten anderen Arbeiten zu dieser Gruppe entstanden später.

Wer dieses Manuskript in dem von Roland Kaufhold (Psychologe, Sachbuchautor und Journalist), Andrea Livnat (Historikerin, Journalistin, leitende Redakteurin der jüdischen Nachrichtenseite haGalil) und Nadine Engelhart (Schriftstellerin und Autorin) herausgegeben Buch liest, entdeckt, dass in dem ersten Buch gleichzeitig ein zweites steckt. Der Leser hat nicht nur ein historisches Sachbuch in der Hand. Sein Autor, Peter Finkelgruen, war bei der Erarbeitung des Manuskripts auch auf der Suche nach seiner eigenen, nicht einfach zu findenden Geschichte.

Seine Eltern, ein gemischt christlich-jüdisches Paar, hatten ihn 1942 im Ghetto für staatenlose Flüchtlinge in Shanghai zur Welt gebracht. Sie waren über komplizierte Wege vor den Nazis dorthin entkommen. Da beide jedoch starben, bevor Peter Finkelgruen zur Schule kam, wuchs er bei seiner Großmutter Anna in Prag auf. Deren jüdischer Ehemann – auch sie waren ein gemischt christlich-jüdisches Paar -, der in Berlin geborene Martin Finkelgruen, wurde 1942 im Konzentrationslager Kleine Festung Theresienstadt bei Prag ermordet. Später zogen Großmutter und Enkel nach Tel Aviv. Es war der Wunsch von Peter Finkelgruens verstorbener Mutter, dass der Sohn in Israel aufwachsen sollte. 1959 kamen Großmutter und Enkel jedoch in die Bundesrepublik, wo Peter Finkelgruen in Freiburg, Köln und Bonn politische Wissenschaften studierte und seit 1963 für die „Deutsche Welle“ arbeitete. Peter Finkelgruen verhandelt in seinem Manuskript immer wieder auch seine eigene, kompliziert zu entschlüsselnde Biografie.

Das dritte Buch, das in dem Band enthalten ist, ist unvollendet. Es beginnt mit dem Vorwort des ehemaligen Innenministers der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Baum. Es wird fortgesetzt mit den Kommentaren Roland Kaufholds zu den wichtigsten historischen Büchern über die Edelweißpiraten. Gerhard Baum und Roland Kaufhold suchen nach einer Antwort auf die Frage, welche Bedeutung Peter Finkelgruens Engagement für die Anerkennung und Würdigung der Edelweißpiraten für die demokratische Kultur der Bundesrepublik hat.

Edelweißpiraten

Das erste dieser drei Bücher lag bis 2020 unveröffentlicht in der Schublade, weil Peter Finkelgruen kurz nach seiner Fertigstellung von der Deutschen Welle nach Jerusalem entsandt wurde und dort außerdem von 1982 bis 1988 das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung leitete. In dieser Zeit sorgte er dafür, dass die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem Unterlagen über den jugendlichen Anti-Nazi-Widerstand in Köln erhielt.

Drei der Kölner Widerständler, einer von ihnen der 1944 hingerichtete Edelweißpirat Bartholmäus Schink (vgl. hagalil) wurden daraufhin als „Gerechte unter den Völkern“ von der Gedenkstätte geehrt. Die anderen beiden, der Kölner Edelweißpirat Jean Jülich (vgl. hagalil) und der Widerständler und spätere Botschafter Michael „Mike“ Jovy (vgl. hagalil) wurden später Freunde von Peter Finkelgruen. Durch ihre Augen und mit ihrer Hilfe entschlüsselte Finkelgruen seine eigene Biografie. Ohne sie wären seine autobiografischen Bücher („Haus Deutschland oder Die Geschichte eines ungesühnten Mordes“ rororo 1994; „Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung“ rororo 1999) nicht möglich geworden.

Buch Nummer eins, das Manuskript Finkelgruens von 1981, ist deshalb lesenswert, weil der Autor mit seiner Arbeit die Edelweißpiraten aus dem Dunkel ins Licht des Gedächtnisses der Stadt Köln und später der Bundesrepublik zurückholte. In den verschiedenen Kapiteln seiner Arbeit zeigt der Journalist, dass die Edelweißpiraten keineswegs, wie zwei Kölner Gerichte und führende Sozialdemokraten der Stadt behauptet hatten, wegen „krimineller Taten“ von den Nazis verfolgt worden waren. In dieser Gruppe wehrten sich Juden und Nicht-Juden gemeinsam gegen den Nazismus. Die Gruppe half Kriegsgefangenen, die sich auf der Flucht befanden, versteckte Zwangsarbeiter, entkommene Häftlinge aus Konzentrationslagern und rettete Juden. Dabei töteten sie auch Funktionäre der NSDAP. Die Gruppe kann mit gutem Recht zum antinazistischen Widerstand gerechnet werden, als die, wie Finkelgruen sagt, „4. Front“, neben der Sowjetunion, den westlichen Alliierten und den Widerstandsbewegungen in den von den Deutschen besetzten Ländern.

Das ganze Manuskript entstand im Zusammenhang einer von Finkelgruen 1978 gegründeten Bürgerinitiative, die sich für eine Rehabilitierung der Edelweißpiraten, insbesondere der Gruppe aus Köln-Ehrenfeld, einsetzte. Man darf sich dieses Manuskript nicht als ein historisches Sachbuch vorstellen. Es ist eine Sammlung von Recherchen, die den Streit um die Rehabilitierung der Edelweißpiraten am Ende der 1970er Jahre nachzeichnen und in diese Auseinandersetzung journalistisch intervenieren. Es ging darum, der verbreiteten Wahrnehmung zu widersprechen, es habe sich bei den Anti-Nazi-Widerständlern um Kriminelle gehandelt. Diesen Eindruck verbreiteten nach 1945 im Fall der Edelweißpiraten noch lebende Nazis. Ihren Argumenten folgten nicht nur Teile der Bevölkerung Kölns, sondern auch längere Zeit die Institutionen, die mit der Entschädigung von Widerständlern nach 1945 betraut waren.

Es ist einer der großen Verdienste des Autors, durch Archivrecherchen und Zeitzeugenbefragungen viele der Tatsachen beigebracht zu haben, die eine moralische Herabsetzung der Edelweißpiraten als haltlos, falsch und interessengeleitet deutlich werden ließen. Die Verfolger der Edelweißpiraten selbst hatten, in den von ihnen hinterlassenen Dokumenten, den Widerstand der von ihnen Verfolgten beschrieben, aber natürlich nicht gewürdigt.

Nicht mehr als kriminelle Jugendliche verachtet, sondern als Widerständler geehrt, werden die Edelweißpiraten in Köln erst seit 2005. Am 16. Juni 2005 wurden sie im Plenarsaal des Kölner Regierungspräsidiums im Rahmen eines Festaktes als Widerstandskämpfer anerkannt. Ohne die Recherchen und das Engagement Finkelgruens wäre das nicht möglich geworden.

Peter Finkelgruen

Buch Nummer zwei, das in dem jetzt veröffentlichten Manuskript Finkelgruens enthalten ist, dreht sich um seinen Versuch, die Verfolger seiner Eltern und Großeltern vor Gericht zu bringen und darum, seine eigene über Kontinente und Generationen, Archive und Gedächtnisse verstreute Geschichte überhaupt selbst zu verstehen.

Dieses zweite Buch ist der erste Versuch Finkelgruens, vor seinen später erschienenen autobiografischen Büchern (Haus Deutschland, 1994; Erlkönigs Reich, 1999) seine Geschichte zu ergründen. In der Missachtung und Entwürdigung der Edelweißpiraten und ihres Widerstandes gegen die Nazis erkennt Finkelgruen die Missachtung und die Entwürdigung, die ihm selbst und seinen nicht nur jüdischen Vorfahren entgegengebracht werden. Im Vorwort zu seinem Manuskript von 1981 schreibt er: „Ich erfuhr die Geschichte von Juden, die in Köln Widerstand geleistet haben, von Juden und Nichtjuden, die sich gemeinsam widersetzten. Es ging letztlich um die Frage, wie heute mit jenen umgegangen wird, die ihren Widerstand gegen die Nazis konsequent zu Ende brachten.“

Auch dieses Buch ist sehr zu empfehlen. Mit seiner Darstellung hält Peter Finkelgruen der auf ihre Fortschritte bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen mittlerweile so stolzen Bundesrepublik den Spiegel vor. In seiner Darstellung wird mehr als deutlich, dass Fortschritte in der Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen 1933 bis 1945, im Fall der Edelweißpiraten und im Fall Finkelgruens, vor allem von den Opfern dieser Verbrechen oder ihren Angehörigen selbst erstritten werden mussten. Die noch lebenden Täter und andere weigerten sich hartnäckig, das Unrecht, das sie begangen hatten, einzugestehen. Mit ihrer öffentlich kommunizierten Mißachtung und Entwürdigung des Anti-Nazi-Widerstandes, hatten sie großen Einfluss in der Gesellschaft.

Menschenwürde erstreiten

Auch das Buch Nummer drei, das in diesem Manuskript enthalten ist, ist sehr zu empfehlen. Roland Kaufhold gelingt es mit seiner detaillierten Analyse der verschiedenen in deutscher Sprache vorliegenden Bücher zur Geschichte der Edelweißpiraten darzulegen, wie mühsam auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Widerstandes gegen die Nazis, die Verabschiedung des Bildes von den angeblich kriminellen Jugendlichen errungen wurde. Auch, dass es sich hier um einen nicht eben häufig in Nazi-Deutschland vorfindbaren Widerstand handelte, der von Juden und Nichtjuden gemeinsam getragen wurde und der solidarisch auch mit der am meisten von den Deutschen verfolgten Gruppe, der Juden, handelte, das hat sich erst langsam durchgesetzt.

Zu diesem dritten Buch sind auch die beiden Vorworte zu rechnen, die der frühere Innenminister der Bundesrepublik Deutschland zum Manuskript Finkelgruens 1981 und nun zu seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2020 schrieb. Er spricht in beiden Vorworten die aktuellen Gefährdungen demokratischer Kultur der Bundesrepublik an. Im Jahr 1981, Baum war damals Innenminister der Bundesrepublik, schrieb er: „Meine Angst gilt der Frage, ob man auch mit dem Juden Finkelgruen die Diskussion aufnimmt, nicht nur mit dem Journalisten Finkelgruen. Wird man seinen Zorn aus der persönlichen Betroffenheit für berechtigt oder für überzogen und unmäßig halten? Für mich ist es unverständlich, dass man im Jahr 1981 noch immer an der These von der kriminellen Eigenschaft der Edelweißpiraten in Köln festhält. Aber ich glaube auch, dass Bekenntnisse hier nichts nützen. Nur die Auseinandersetzung führt weiter, die kontroverse Debatte und der rationale Dialog. Dies ist dann keine Bewältigung der Ver­gangenheit, sondern eine Leistung in der Gegenwart, ein Stück politischer Kultur in den 80er Jahren für uns selbst.“

In Baums Vorwort zur neuen Auflage des Buches heißt es: „Finkelgruens Buch, so habe ich 1981 geschrieben, sei eine ´Leistung der Gegenwart, ein Stück politischer Kultur für uns selbst`. Eine solche politische Kultur ist auch heute Gebot der Stunde. Eine solche politische Kultur ist auch heute Gebot der Stunde. (…) Unsere Aufgabe ist es, die Demokratie zu verteidigen, sie zu leben. Unsere Aufgabe ist es, mit denen unterstützend verbunden zu sein, die dieses Glück nicht haben.“

Resümee

Alle drei in der Dokumentation versammelten Bücher behandeln an zwei exemplarischen Fällen, der Kölner Edelweißpiraten und der Geschichte eines ihrer Chronisten, Peter Finkelgruen, das Thema, wie lange eine eigentlich selbstverständliche Sache dauerte: die Wiederherstellung der Würde von jüdischen und nichtjüdischen Widerständlern nach 1945. Diese drei Bücher beleuchten Konflikte der Bundesrepublik, die bislang noch nicht systematisch dargestellt wurden.

Zwar gibt es Arbeiten, die sich mit der Geschichte der Bestrafung der Nazi-Täter beschäftigen. Es kann gezeigt werden, dass sie lange verweigert wurde und dann, wenn sie überhaupt erfolgte, sehr milde ausfiel. Es gibt auch Arbeiten, die sich mit der Entschädigung der von den Deutschen Verfolgten und Ermordeten beschäftigen. Wenn es Entschädigung überhaupt gab, fiel sie gering aus. Die exemplarisch dargestellten Fälle der Edelweißpiraten und Peter Finkelgruens zeigen darüber hinaus, dass die Überlebenden nicht nur mit einer Gesellschaft konfrontiert waren und sind, die das Unrecht nicht bestrafen und die Geschädigten nicht entschädigen will. Die Überlebenden sind mit einer Gesellschaft konfrontiert, die ihnen das Recht abspricht, Entschädigung zu verlangen und die Bestrafung der Täter durchzusetzen. Sie entwürdigt die Überlebenden, negiert ihre aufrechte menschliche Haltung im Widerstand gegen den deutschen Nationalsozialismus und projiziert ihre eigene Kriminalität auf sie, weil sie weder ihre Schuld, noch ihre Verantwortung und Haftung wahrnehmen will.

Die in diesen drei Büchern exemplarisch vorgestellten Fälle öffnen die Augen für einen Aspekt der Geschichte der Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus, der bislang systematisch nicht gut beleuchtet ist. In den Erinnerungen vieler Überlebender, in ihren Erfahrungen mit der Bundesrepublik, Österreich und der DDR, wird er längst ausgesprochen. Die Wissenschaft aber hat das bislang nur selten zum Gegenstand gemacht. Die Würde der Ermordeten und Verfolgten, auch die Würde der Widerständler muss nach 1945 mühsam neu erstritten werden.

Ein sehr wichtiges Buch, dessen Lektüre freilich dem Leser etwas abverlangt. Bis der Leser die drei Teilstücke verstehen lernt und das ihnen gemeinsame Anliegen entdeckt, dauert es seine Zeit. Aber am Ende wird man belohnt. Das von Roland Kaufhold, Andrea Livnat, Nadine Engelhart und nicht zuletzt Peter Finkelgruen publizierte Buch ist eine heute immer noch nötige Sensibilisierung politischer und wissenschaftlicher Diskurse für entwürdigenden und herabsetzenden Umgang mit jenen, die in dunkler Stunde das Richtige taten. Das sieht wohl auch der Bundespräsident so. Peter Finkelgruen wird demnächst das Bundesverdienstkreuz erhalten.  Gratulation!

 

Roland Kaufhold, Andrea Livnat, Nadine Englhart (Hrsg.):
Peter Finkelgruen, „Soweit er Jude war….“,
mit einem Vorwort von Gerhart Baum, haGalil.com,
Jüdisches Leben online, Books on Demand 2020,
ISBN 9-783751-907415, 352 Seiten, 39.90 €uro

https://www.amazon.de/Soweit-Jude-war-Bew%C3%A4ltigung-Widerstandes/dp/3752812362

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