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Lagebild Antisemitismus Erinnerungspolitische Debatten in Deutschland

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Angriff auf die Erinnerungskultur: Dirk Moses stellt in seinem Text u.a. die Singularität des Holocausts infrage. Aus sehr gegenwärtigen Gründen. (Quelle: Screenshot Website)

Die deutsche Erinnerungskultur sieht sich harscher Kritik ausgesetzt. Zum einen fordern Rechte und Revisionist*innen einen Schlussstrich und schaffen damit die Gelegenheitsstruktur für die zahlreichen Angriffe auf Gedenkstätten. Zum anderen toben seit zwei Jahren auch teils heftig geführte erinnerungspolitische Debatten. Im Lagebild #12 wird in aller Kürze versucht, die Tragweite dieser erinnerungspolitischen Debatten zu rekonstruieren, um zu zeigen, was hier auf dem Spiel steht: Denn auch diese Debatten können die Antisemitismusbekämpfung schwächen.

Einige Beiträge wurden unter dem Stichwort „Historikerstreit 2.0“ zusammengefasst. Die namhaften Akteur*innen dieser Debatten verstehen sich durchaus als progressiv und gehen mit der Erinnerungskultur zum Teil hart ins Gericht. Viele Kritikpunkte treffen zu und sind wichtig, andere sind Generalangriffe, die die wenigen und hart erkämpften Errungenschaften grundsätzlich infrage stellen. Dabei fällt immer wieder der Genozidforscher Dirk Moses auf.

Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass es in diesen Debatten um mehr geht als um Erinnerung. Es wird zugleich ein ungehemmt-kritischeres Verhältnis zu Israel eingefordert. Dafür muss nicht nur der Blick in die Vergangenheit verändert, sondern auch der gegenwärtige israelbezogene Antisemitismus verharmlost und zum Streitfall erklärt werden.


Kritik ist notwendig, wo Erinnerung allein zum ritualisierten Ablass verkommt, zur hohlen Phrase oder folgenlosen Sonntagsrede wird. Wenn Politiker*innen am 9. November von „Nie Wieder“ oder „We Remember“ sprechen, aber am darauffolgenden Tag schon wieder rechtspopulistische Thesen verbreiten, dann darf das nicht unkommentiert bleiben. Diese Art der Erinnerung an den Nationalsozialismus ist nicht genug und nicht nachhaltig. Sie ist fragil und gleicht einem Lippenbekenntnis. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus darf nicht allein eine symbolische Geste bleiben. Sie muss politische Folgen im Hier und Jetzt haben. Die staatliche Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus – mitsamt der Rituale und Jahrestage – ist zwar ein Fortschritt zu den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Verdrängung und gemeinschaftlichentschiedenem Vergessen geprägt waren. Darauf darf sich diese Gesellschaft aber nicht ausruhen. Die staatliche Erinnerung ist wichtig, als Mahnung und Ansporn, alles dafür zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Sie muss aber weiterhin durch zivilgesellschaftliches Erinnern von unten mit Leben gefüllt werden. Es braucht mehr Erinnerung, nicht weniger. Dafür kämpfen seit Jahrzehnten Engagierte in Initiativen, Gedenkstätten und Geschichtswerkstätten – in vielen Fällen gegen die Mehrheitsgesellschaft, die weiterhin nichts davon wissen will.


In den aktuellen, erinnerungspolitischen Debatten findet eine Differenzierung zwischen staatlichem Erinnern und kritischer Erinnerungskultur von unten oft nicht genügend statt. Die Kritik richtet sich teils mit großer Geste gegen „die Erinnerung“. Besonders deutlich zeigt sich das in einem Text von Dirk Moses, der viel kritisiert und widerlegt wurde. Moses Bekanntheit hat es nicht geschadet. In den gegenwärtig erscheinenden Sammelbänden ist er immer wieder mit seinen polemisch überspitzten Thesen vertreten.

Im Mai 2021 veröffentlichte der Genozidforscher Dirk Moses auf dem Blog „Geschichte der Gegenwart“ einen Artikel, auf den der sog. „Historikerstreit 2.0“ folgte: „Der Katechismus der Deutschen“. Der Artikel erschien in einer politisch aufgeheizten Zeit: Wenige Tage zuvor war die Lage zwischen Israel und den palästinensischen Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad eskaliert. Die Terrororganisationen feuerten tausende Raketen auf Israel ab, das mit Luftangriffen reagierte. Der Konflikt löste in Deutschland die größten antiisraelischen und vielfach antisemitischen Demonstrationen seit 2014 aus. Genau in diesem Moment veröffentlichte Moses seine wirkmächtige Kritik.

In „Der Katechismus der Deutschen“ greift Moses in harschem Tonfall die deutsche Erinnerungskultur an. Er behauptet, Kritiker*innen wie er sähen sich „Häresieprozessen“ und „öffentlichen Exorzismen“ ausgesetzt, weil „‚Hohepriester‘“ einen Katechismus bewachen würden. Ein Katechismus ist eine Sammlung von Glaubenssätzen. So etwas spielte früher in der katholischen Kirche eine wichtige Rolle. Moses behauptet jetzt, es gäbe von oben aufoktroyierte Glaubenssätze in Bezug auf die Erinnerung an die Shoah.

Dieser Katechismus beruhe auf fünf Überzeugungen, die Moses ablehnt:
Dem Katechismus zufolge sei die Shoah

  • 1. einzigartig und
  • 2. ein Zivilisationsbruch,
  • weshalb Deutschland 3. eine historische Verantwortung für
    Israel habe.
  • Außerdem sei 4. Antisemitismus von Rassismus zu unterscheiden und
  • 5. sei Antizionismus dasselbe wie Antisemitismus.

Mit großer Geste und überzogener Polemik arbeitet sich Moses im Artikel an diesem Katechismus ab, der „nicht nur nicht mehr nützlich“sei, sondern die Redefreiheit gefährde. Mit seinem Text begibt er sich auch inmitten der jüngsten Antisemitismusdebatten und positioniert sich klar: Er kritisiert die
Antisemitismusbeauftragten und den BDS-Bundestagsbeschluss, feiert die Initiative GG5.3 Weltoffenheit als „Reaktion“ auf die „Glaubenswächter“ und die Jerusalemer Erklärung zu Antisemitismus als Antwort auf die „erschreckenden Auswirkungen der IHRA Definition“.

Es ist kein Wunder, dass Moses viel Beifall erhielt. Es war – aus der Perspektive der Klatschenden – der richtige Text zur richtigen Zeit. Moses nahm die Debatten zum Nationalsozialismus und Kolonialismus auf und führte sie ins Fahrwasser dessen, was gern „Israelkritik“ genannt wird. Die Stimmen, die israelbezogenen Antisemitismus verharmlosen, sind seitdem lauter geworden.

Die Holocaustforschung selbst zeigte sich von Moses’ Thesen unbeeindruckt. Im Sammelband „Historiker streiten“ dekonstruierte Yehuda Bauer, Historiker und ehemaliger Leiter von Yad Vashem, die Erklärungen in Moses‘ Text, „die kaum einer realistischen Kritik standhalten“. Abgesehen davon, dass Bauer nicht glaubt, dass dieser Katechismus überhaupt existiert, nimmt er Punkt für Punkt die Kritik daran auseinander.

  • Die Shoah ist ihm zufolge durchaus präzedenzlos und
  • der „Zivilisationsbruch ist Tatsache“.
  • Außerdem ist es schlicht ein „Missverständnis“, Judenhass bloß als Vorurteil und Variante des Rassismus zu begreifen (wie es die sogenannte Jerusalemer Erklärung zu Antisemitismus tut).
  • Bauer ist außerdem überzeugt, dass es eine „gesunde deutsche Haltung gegenüber Israel“gibt und
  • kommt damit zu einem brisanten Punkt: „Moses’ sogenannter Antizionismus führt zu dem, was Moses bestimmt nicht will, nämlich zu einer antisemitischen Einstellung“.Denn seine Kritik „an dem, was er Zionismus nennt, impliziert letztlich nichts anderes als die Vernichtung des nationalen jüdischen Kollektivs“.

Der Fluchtpunkt von Moses Argumentation ist also die Abschaffung Israels. Das hat zwar keinen Beifall verdient, kommt aber im deutschen Diskurs gut an.

Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antizionismus hat Jean Améry schon 1969 Wegweisendes gesagt. Demnach ist der Antisemitismus im Antizionismus enthalten „wie das Gewitter in der Wolke“51. Nicht jeder Antizionismus ist also automatisch antisemitisch, es handelt sich nicht um dasselbe. Aber der Antizionismus kann jederzeit in Antisemitismus umschlagen – und tut das heute meistens. Bauer hat an Moses gezeigt, wie das vonstattengeht.

Dirk Moses hat auf solche Kritik nur mit weiterer Polemik reagiert. Im 2023 erschienenen Sammelband „Erinnerungskämpfe“ raunt er von „offiziellen und inoffiziellen Obsessionsmanagern“und meint damit alle, die ihm inhaltlich nicht in den Kram passen: von den Antisemitismusbeauftragten über den Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, bis zum Historiker Norbert Frei.

Denn Norbert Frei pflichtet zusammen mit den Holocaustforscher*innen Saul Friedländer, Sybille Steinbacher und Dan Diner im Band „Ein Verbrechen ohne Namen“ Yehuda Bauer bei. Auch sie stellen einige Irrtümer klar und verweisen auf den Fluchtpunkt von Moses Argumentation. So beschreibt zum Beispiel Steinbacher, dass es kein Zufall ist, dass die Singularitätsthese im gleichen Atemzug mit der Kritik an Israel genannt wird: „Der Holocaust darf also auch deshalb nichts Besonderes sein, weil sich dann – und erst dann – die Legitimität des jüdischen Staates in Frage stellen lässt.“

Es geht also in diesen erinnerungspolitischen Debatten, deren lautester und schrillster Akteur zur Zeit Moses ist, nicht allein um eine Einschätzung der Vergangenheit. Es geht zentral um die Gegenwart. Meron Mendel teilt Steinbachers Einschätzung. Ihm zufolge ist Moses’ Polemik schlicht der Versuch, „den deutschen Israeldiskurs zu verändern“. Der Artikel „Katechismus der Deutschen“ macht daraus kein Geheimnis und war genau damit schon erfolgreich. Es geht schlicht darum, eine Gegenbewegung zur etablierten, von unten hart erkämpften Erinnerungskultur zu organisieren, die deren angebliche Fehler nicht wiederholt und endlich Israel ungezügelt kritisieren kann. Dafür muss aber nicht nur die Shoah zu einem Genozid unter anderen gemacht werden, sondern auch die Bekämpfung von israelbezogenem Antisemitismus erschwert werden. Das zeigt sich da, wo Moses polemisch behauptet, in den „Palästinenser*innen und ihren nicht-zionistischen israelischen Freunden“ würden heute schlicht „neue Nazis“ gesehen. Das ist eine wirkmächtige Polemik, die Folgen hat: Israelbezogener Antisemitismus kann nicht mehr so leicht attestiert werden, wenn man sich solch harschen Vorwürfen ausgesetzt sieht. Nicht zuletzt für Jüdinnen*Juden verschärft das die Situation.

 


Dieser Text ist ein Auszug aus dem „Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus #12“ der Amadeu Antonio Stiftung.

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