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Liberty Rising Das Sommercamp der Anarchokapitalisten

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„Liberty Rising“ ist laut ihrer Webseite Deutschlands „größte kapitalistische Jugendorganisation“
„Liberty Rising“ ist laut ihrer Webseite Deutschlands „größte kapitalistische Jugendorganisation“ (Quelle: Screenshot)

Die politische Ideologie des „Anarchokapitalismus“ taucht eher in einem US-amerikanischen Kontext auf: Dort schwanken die Positionen der Libertarian Party von der Verteidigung körperlicher Selbstbestimmung bis hin zur Verteidigung des Rechts auf Holocaustleugnung. Bekanntes Symbol der Bewegung ist die „Gadsden Flag“ – eine gelbe Fahne mit einer Schlange und dem Slogan „Don’t tread on me“ darauf, die eine regelmäßige Begleiterscheinungen von Demonstrationen der „Alt-Right“ ist.

Im deutschsprachigen Raum wird diese extreme Abspaltung des Wirtschaftsliberalismus von der bis dato weitestgehend unbekannten Gruppierung „Liberty Rising“ vertreten. Mitte August veranstaltete sie im sauerländischen Bleiwäsche ihr zweites Sommercamp unter dem hochtrabenden Titel „Liberty Sunrise“.

(Quelle: Liberty Rising/Screenshot)

Die Vordenker*innen: Rand, Hayek und Mises

Ewiges Mantra der Libertären ist ihre vermeintliche „Ideologiefreiheit“, die sie „Links- und Rechtsextremist*innen“, die hier ganz im Sinne der zur Genüge widerlegten Hufeisentheorie in einen Topf geworfen werden, voraus hätten. Dies verkennt, dass ihre eigene Weltsicht zutiefst ideologisch – und auf Egoismus, sozialer Kälte, Gier, Menschenverachtung und unangebrachter narzisstischer Selbstüberhöhung aufgebaut ist.

Vordenker*innen dieses Marktchavinismus sind die Autorin Ayn Rand und die Ökonomen Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises. Rand ist vor allem als Verfasserin des Türstoppers „Atlas Shrugged“ bekannt geworden, jedoch weniger wegen der literarischen Qualität des Werkes als der darin vermittelten Gesellschaftsvorstellung.

Der „Atlas“, der die Welt auf seinen Schultern trägt, ist bei Rand nämlich mitnichten die Mehrwert produzierende arbeitende Klasse, oder die Frauen, ohne deren unbezahlte Hausarbeit die Welt innerhalb weniger Stunden zusammenbrechen würde. Stattdessen meint sie die dem gemeinen Pöbel intellektuell und charakterlich weit überlegende Entrepreneure. Würden diese, so die Botschaft von „Atlas Shrugged“, weigern, die Gesellschaft weiterhin mit ihrem Genie und Fortschrittsgeist voranzubringen, sei diese unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Rands „Philosophie“ des Objektivismus bezeichnet Gier und Egoismus als notwendige Bestandteile des idealen Menschen und lehnt Solidarität und Altruismus grundlegend ab. Ironischerweise verstarb Rand, die den Sozialstaat aus tiefstem Herzen verachtete, als Sozialhilfeempfängerin.

Die Grundthese des Ökonomen Hayek lautet, dass das zentrale volkswirtschaftliche Problem in Staats- und nicht in Wirtschaftsversagen läge. Staatliche Eingriffe in die freie Hand des Marktes seien grundsätzlich abzulehnen, da diese in einem Verlust der Freiheit münden würde. Wie der Publizist Lucius Teidelbaum darlegt, sind der Hass auf alles auch nur im Ruch des Sozialismus stehende, die „Politische Korrektheit“ oder die Angst vor einer imaginierten „Cancel Culture“ verbindende Elemente zwischen Libertären und der radikalen Rechten. Auch die im Sozialdarwinismus und Elitarismus verwurzelte Weltsicht und damit einhergehende Abwertung von Schwäche bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte. Demzufolge sei es auch nicht verwunderlich, dass es zahlreiche Doppelmitgliedschaften zwischen der AfD und der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft gäbe, dass der Rechtspopulist Thilo Sarrazin häufiger bei der Berliner Hayek-Stiftung zu Gast war, oder dass Hayeks Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ vom verschwörungsideologischen Kopp-Verlag herausgegeben wird.

Auch Ludwig von Mises hat mehr mit rechtsradikalem Gedankengut gemein, als seine Fans es wahrhaben wollen. 1927 schrieb er: „Es kann nicht geleugnet werden, dass der Faschismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und dass ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung [vor dem Bolschewismus] gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faschismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben. Doch […] der Faschismus war ein Notbehelf des Augenblicks; ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.“

In einem vor antislawischem Rassismus triefenden Traktat, in dem er Russ*innen als von „Barbarenvölkern zu beiden Seiten des Ural“ bezeichnet, betont Mises: „Die Taten der Faschisten und der ihnen entsprechenden anderen Parteien waren Reflex- und Affekthandlungen, hervorgerufen durch die Empörung über die Taten der Bolschewiken und der Kommunisten. Sowie der erste Zorn verraucht war, lenkte ihre Politik in gemäßigtere Bahnen ein und wird voraussichtlich immer mehr Mäßigung an den Tag legen“.

Wie diese von Mises prophezeite „Mäßigung“ aussah, zeigten die kommenden Jahre: ein Weltkrieg und industriell organisierte Massenvernichtung. Des Weiteren, so der israelische Historiker Ishay Landa in dem Werk „Der Lehrling und sein Meister – Liberale Tradition und Faschismus“, gab Mises offen an, den durch einen Putsch eingesetzten Diktator Pinochet seinem demokratisch gewählten, sozialistischen Vorgänger Salvador Allende zu präferieren. Der Zwang zum Kapitalismus steht über Demokratie und Gesetz. Auch in der eigenen beruflichen Laufbahn gab es Berührungspunkte zum Faschismus, beispielsweise war Mises als Wirtschaftsberater des austrofaschistischen Dollfuß-Regimes tätig.

Verbindungen an den rechten Rand

Ähnlich wie die Vordenker hat auch die Gruppierung „Liberty Rising“, deren Logo vermutlich nur zufällig frappierende Ähnlichkeiten mit einer Schwarzen Sonne aufweist, recht wenig Berührungspunkte nach Rechtsaußen. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Referierenden und Mitveranstaltenden auf dem Sommercamp „Liberty Rising“, zu denen ganze zwei Frauen und null People of Colour zählen.

(Quelle: Liberty Rising/Screenshot)

Bekanntester unter ihnen ist vermutlich André Lichtschlag, Herausgeber der libertären Zeitschrift eigentümlich frei, die guten Gewissens als Organ der „Neuen Rechten“ bezeichnet werden kann. Falls jemand daran zweifelt: Bereits auf der Startseite der Homepage findet sich ein prominent platziertes Werbebanner der AfD. Dauerbrenner der Zeitschrift sind Warnungen vor linker oder grüner „Propaganda“, die Panikmache vor „Politischer Korrektheit“ oder die Glorifizierung von Figuren wie Elon Musk. Neben eigentümlich frei schreibt Lichtschlag auch für das rechtsextreme Theorieblatt Sezession oder das neurechte Sprachrohr Junge Freiheit. Außerdem hat er die Bücher „Deutschland von Sinnen“ und „Die große Verschwulung“ des rechtsradikalen Populisten Akif Pirincci publiziert. Als intellektuelles Vorbild nennt Lichtschlag Caspar von Schreck-Notzing – einen der Begründer der „Neuen Rechten“ in Deutschland.

Ebenfalls als Referent angekündigt war Markus Krall, Vorsitzender der Degussa Goldhandel. Krall hatte das Camp bereits 2021 mit seinem Besuch geehrt, musste für dieses Jahr jedoch absagen. Wie der Soziologe Andreas Kemper ausführt, ist die Weltsicht Kralls inhärent demokratiefeindlich. Er spricht sich dafür aus, Sozialhilfeempfänger*innen das Wahlrecht abzusprechen und bezeichnet die Demokratie abfällig als „Ochlokratie“, also Pöbelherrschaft.

Kemper konstatiert: „Kralls Forderungen erschöpfen sich nicht in der Abschaffung des Allgemeinen Wahlrechts, weiterer Einschneidungen (z.B. Erhöhung des Wahlrechtsalters), entdemokratisierende Privatisierungen gewählter Ministerien und der Ersetzung der Parteiendemokratie durch bonapartistisch-autokratische Konzeptionen (direkt gewählte*r Kanzler*in und Wahlkönig auf Lebenszeit), sondern er sagt unter dem Beifall der Zuhörer*innen, dass dies nur eine ‚Brücke‘ darstelle. Der entdemokratisierte Minimalstaat sei also nur der Übergang zur antidemokratischen ‚reinen Privatrechtsgesellschaft‘ von Hans-Herrmann Hoppe. Damit sind Kralls Forderungen nicht nur gegen das Allgemeine Wahlrecht gerichtet, sondern erste Forderungen innerhalb einer demokratiefeindlichen Gesamtkonzeption.“

Mehrere andere Referenten, unter ihnen Peter Heller, Stefan Blankertz oder Max Remke, schreiben regelmäßig für Publikationen wie die Achse des Guten oder eigentümlich frei. Remke hat zudem einen Podcast mit dem rechtsradikalen YouTuber „Der Schattenmacher“ aufgenommen. Weiterer Gast in der illustren Runde ist ein Podcaster mit dem originellen Namen „Alex Anarcho“, zu dessen Gästen der momentan inhaftierte Verschwörungsideologe Oliver Janich oder der Rechtsradikale Miro Wolfsfeld zählen. Ebenfalls mit ihm kooperiert hat der „Dating Coach“ Felix Hosse, der ebenfalls auf dem Camp referiert – zu Ayn Rands Philosophie des Objektivismus als Grundlage für die Partner*innensuche. In dem Podcast mit „Alex Anarcho“ bekommt die geneigte Zuhörerin einen Vorgeschmack von Hosses Geschlechterbild: Frauen hätten den natürlichen Drang, sich starke Männer zu suchen, denen sie sich unterordnen können, und deswegen müssten Männer zu diesen Alpha-Typen werden. Es handelt sich hier also um die klassische antifeministische Rhetorik eines jeden „Pick-Up Artist“.

Ein interessanter Partner des Camps ist übrigens das Murray Rothbard-Institut. Rothbard ist Vordenker einer nationalistischen, rechtskonservativen Strömung, die sich „Paleo-Konservatismus“ nennt. Rothbard ist ausgesprochen freiheitlich, es sei denn, es geht um Feministinnen („herablassend und feindlich“, allerdings muss Rothbard zugestanden werden, dass er das Recht auf Abtreibung vertritt), das Recht auf Bildung (Schulen müssen privatisiert werden, wer sich das nicht leisten kann, hat Pech gehabt), prekarisierte Menschen oder Jüdinnen und Juden: Rothbard hasste alle Staaten, besonders sprach er sich aber gegen einen jüdischen Staat aus. Auch Sklaverei fand er nicht allzu verurteilenswert: Er verteidigte in Schriften explizit die Position der Konföderierten. Weitere Anliegen waren ihm das Recht auf Geschichtsrevisionismus, das sich auch in freundschaftlichen Beziehungen zu Holocaust-Leugnern artikulierte, oder das Recht für Eltern, ihre Kinder verhungern zu lassen oder bei Bedarf zu verkaufen.

Freiheit ja bitte – aber nur für uns

Das Ziel von „Liberty Rising“ ist ein „radikal freiheitlicher Kulturkampf“ gegen den Staat und seine über zum Beispiel Schulen durchgeführte Indoktrination. Mitbegründer Stefan Griese beschreibt diesen folgendermaßen: „Kulturkampf bedeutet, dass wir uns darauf fokussieren eine Szene aufzubauen, eine libertäre Szene, die sich in Werten und Kultur ausdrückt. Es geht darum, dass man einen Lifestyle verbreitet, dass man klare Ziele festlegt, die auch für den Einzelnen im Alltag anwendbar sind. Ein Zugehörigkeitsgefühl schafft zu der Idee der Freiheit und den Leuten begreifbar macht, dass der Niedergang der Menschheit oder der Niedergang des Wohlstandes, des Wohlergehens der Menschheit im Kollektivismus liegt. Und wir sind dabei überzeugt, dass die Veränderung in Deutschland über Werte und Kultur entstehen und nicht durch sozusagen Statistiken oder jetzt irgendwie komplexe Fakten. (…) Wir sagen, es ist wichtiger, dass man die Leute emotional catcht.“

Einen Vorgeschmack auf diesen „Lifestyle“ gibt das Camp-Programm. Es gibt Workshops zu Bitcoins, Auto-Tuning und Podcasting, außerdem Vorträge mit spannenden Titeln wie „Kapitalismus überzeugend rechtfertigen“ oder „Bitte, bitte tritt nicht auf mich – Kritik an der libertären Szene“. Weitere Veranstaltungen befassen sich mit der „Klimapanik“, der Universität als „Kontrollinstrument des Staates“ oder „Antikommunistischem Aktivismus“. Einzig und allein ein Alibi-Vortrag zur Kritik an der „Identitären Bewegung“ gibt Hinweis darauf, dass das Camp nicht von Rechtsradikalen organisiert worden ist. Die Feindbilder – staatlich geförderte Schulbildung, Corona-Maßnahmen, Klimaaktivist*innen oder Linke – sind nämlich die gleichen.

(Quelle: Instagram/Screenshot)

Die Ideologie der Vordenker*innen, die auf dem Sommercamp oder dem Social-Media-Profil von „Liberty Rising“ verherrlicht werden, zeigt relativ deutlich auf, wie verkürzt und realitätsfremd das Welt- und Menschenbild von Marktradikalen ist. Wie der israelische Historiker Ishay Landa ausführt, sind Freiheit oder Individualität im Wirtschaftsliberalismus nur ein paar wenigen vorbehalten – originären Genies, die über der Masse des Pöbels stehen. Als solche betrachten sich jene Menschen, die laut Speiseplan des „Liberty Rising“-Sommercamps als „Feurige Penne All’Arrabiata mit Mozzarella“ angepriesene Nudeln mit Tomatensauce essen, bevor sie sich in ihr Zelt zurückziehen. Sie imaginieren sich als „Motor der Welt“, der mit „Leistung statt Hängertum“ prahlt. Der Sozialstaat muss hingegen abgeschafft werden – denn für arme Menschen hat diese selbst ernannte Elite nur Verachtung übrig.

„Es wird immer arme Menschen geben, weil es immer soziale Ungleichheit geben wird, weil Menschen unterschiedlich sind“, so Mitbegründer Griese. „Und wenn man immer daran arbeitet, die Ungleichheit zu reduzieren, dann hat man halt irgendwann automatisch Sozialismus“ – als ob Armut etwas Naturgegebenes sei. Der „Freiheitsbegriff“ von Marktlibertären bezeichnet zudem nicht die Freiheit von beispielsweise ökonomischen oder patriarchalen Sachzwängen, sondern bedeutet im Großen und Ganzen, sich rücksichtslos verhalten zu können. Solidarität, Empathie oder das Zeigen von Schwäche werden als Makel begriffen – auch hier wieder eine Parallele zur radikalen Rechten.

Dem eigenen Menschenhass darf freien Lauf gelassen werden, da ein staatlicher Minderheitenschutz Bevormundung darstellen würde. Dies bedeutet de facto: Von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betroffene und strukturell diskriminierte Menschen müssten in der anarchokapitalistischen Utopie permanent die eigene Existenz verteidigen. In den USA haben Faschisten und Libertarians ihre Wesensverwandtschaft bereits erkannt: Auf MAGA-Demonstrationen stehen sie seit Jahren geschlossen nebeneinander, vereint im Kampf gegen eine gerechtere Welt.

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Interview mit Veronika Kracher „Incels sind die Spitze des patriarchalen Eisbergs“

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