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Interview mit Veronika Kracher „Incels sind die Spitze des patriarchalen Eisbergs“

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Im Gespräch: Die Autorin Veronika Kracher
Im Gespräch: Die Autorin Veronika Kracher (Quelle: Nicholas Potter)

Veronika Kracher, 1990 in München geboren, ist Autorin und Publizistin. Sie schreibt über Feminismus, Antisemitismus, Popkultur und die amerikanische „Alt-Right“ für u.a. „konkret“, die „Jungle World“ und „Neues Deutschland“. Ihr erstes Buch, „Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“, erscheint im November im „Ventil Verlag“.

Belltower.News: Frau Kracher, Sie haben jahrelang zur „Incel“-Szene recherchiert, einem globalen Online-Kult aus selbsternannten „unfreiwillig Zölibatären“, die in ihrem Frauenhass und misogynen Weltbild vereint sind. Jetzt haben sie ein Buch über diese menschenverachtende Ideologie verfasst. Wie Sie selber auf Ihrer Webseite schreiben: „Irgendeine muss es ja tun“. Wie sind Sie auf die Szene gestoßen?
Veronika Kracher: Im Rahmen der Präsidentschaftswahl Donald Trumps 2016 befasste ich mich mit der „Alt-Right“ und dem Verhältnis zwischen Rechtspopulismus und Männlichkeit. Bei meiner Recherche auf Imageboards wie „4chan“ oder auf „Reddit“ bin ich dann zunehmend auf Incels gestoßen. Nach dem Attentat von Toronto 2018 habe ich bemerkt, was für ein Gewaltpotenzial hinter dieser Ideologie steckt, und mich intensiver damit befasst.

Sehen Sie den weltweiten gesellschaftlichen Rechtsruck als Symptom toxischer Männlichkeit?
Antifeminismus war ja schon immer eine Reaktion auf feministische Kämpfe und eben auf das Bröckeln einer patriarchalen Hegemonie. Das hat Hedwig Dohm bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in ihrem Buch „Die Antifeministen“ geschrieben, eine Polemik gegen Antifeministen. So ist den Emanzipationskämpfen marginalisierter Gruppen schon immer mit einem Backlash, mit einer massiven Gewalt der Herrschenden begegnet worden, weil diese um ihre Hegemonie fürchten. Für den rechten Backlash, den wir momentan erleben, spielt der Antifeminismus eine riesige Rolle, er fungiert als Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken. Und die Bevölkerungsgruppe, die am anfälligsten für faschistische Ideologien ist, sind junge Männer zwischen 15 und 30 Jahren.

Entspricht das auch dem typischen „Incel“?
Ich arbeite vor allem mit einer Umfrage der Webseite „incels.co“, eines der größten Incel-Forums. Jedes halbe Jahr macht die Website eine Umfrage unter ihren Usern. Drei Viertel der User geben an, unter 24 zu sein. Das ist eine vergleichsweise junge Subkultur. 45 Prozent leben in den USA, 40 Prozent in Europa, der Rest in Lateinamerika, Indien oder Südostasien. Es ist keine hegemonial-weiße Subkultur: Knapp über die Hälfte der User sind weiß. Es sind aber primär junge Männer aus Erste-Welt-Ländern.

Wie groß ist die Szene?
Die „Incel“- und „Braincel“-Subreddits hatten ungefähr 40.000 User, bevor sie gelöscht wurden. Die größeren Foren haben ungefähr 13.000 User. Da sind natürlich auch Doppelmitgliedschaften dabei. Und bei Imageboards wie „4chan“, „8kun“ oder „Kohlchan“ gibt es ja keine Registrierung von Mitgliedern, alle User sind „Anonymous“. Es gibt auch mehrere „Incel“-Server auf „Discord“. Ich wurde also sagen: Es gibt mehrere Zehntausend Incels weltweit.

Was für ein Weltbild wird in der Szene vermittelt?
Vor allem drei Aspekte zeichnen die „Incel“-Szene aus: Frauenhass, Selbstmitleid und ein fast pathologisches Opferdenken. „Incels“ sehen sich als Opfer von de facto allem. Zentral zu ihrem Weltbild ist die sogenannte „Black Pill“-Ideologie – ein Bezug auf die verschwörungsideologische „Red Pill“-Ideologie, die in diversen Szenen von der „Alt-Right“ bis zu Pickup-Artists und Männerrechtlern benutzt wird und als Begriff zumindest ursprünglich aus dem Film „Matrix“ stammt. Die „Red Pill“-Ideologie fungiert wie eine Offenbarung: Man soll die Augen aufmachen, die starke natürliche Männlichkeit zurückholen und Frauen ihrem Platz zuweisen – nämlich als Hausfrau, Mutter und fickbares Objekt. Beide Ideologien teilen die Hypothese, dass der weiße heterosexuelle Cis-Mann unterdrückt ist und wir in einem „Feminat“ oder „Femokratie“ leben, zu dem der „kulturelle Marxismus“ geführt habe. Demzufolge beherrschen Frauen aufgrund ihrer unkontrollierten Sexualität Männer, indem sie zum Beispiel falsche Vergewaltigungsanschuldigungen in die Schuhe schieben und generell gegen Männer diskriminieren. Die „Black Pill“-Ideologie treibt diese Denkweise auf eine nihilistische, fatalistische Spitze: Die einzige Unterdrückungsform in der Gesellschaft ist der Lookismus, also Diskriminierung aufgrund des Aussehens.

Und daran sollen Frauen schuld sein?
Vor der sexuellen Revolution, vor dem Feminismus quasi, sei die Welt nach dem Prinzip des „Looks-Matching“ aufgebaut worden. Menschen hätten Partner*innen mit einer ähnlichen Attraktivitätsstufe gehabt. Außerdem wurde die triebhafte, hypergame und oberflächliche Natur des Weibes durch patriarchale Herrschaft im Zaum gehalten. Nach der sexuellen Revolution existiert laut „Incels“ das Patriarchat nicht mehr, und Frauen können ihre Bedürfnisse nach möglichst viel Sex mit sogenannten „Chads“ ausleben – so heißen „Alpha-Männer“ im Szene-Jargon. „Chads“ sind die Paradebeispiele für Hypermaskulinität und würden 20 Prozent der Männer ausmachen. Da alle Frauen sich nur um sie bemühen, blieben keine Frauen für die armen „Incels“ übrig. Kurzum: „Incels“ halten sich also für die größten Opfer unserer Zeit, weil sie keinen Sex haben – und sie leiden total darunter. Gleichzeitig machen sie ihre Erlösung komplett von weiblicher Zuneigung abhängig. Sie hassen Frauen aber so sehr, dass, würde eine Frau nett zu ihnen sein oder mit ihnen sprechen, sie das nur als unaufrichtige Provokation verstehen würden.

Das klingt zutiefst widersprüchlich: „Incels“ hätten gerne eine Geschlechtspartnerin und weil sie diese nicht finden, lehnen sie Sex und Frauen komplett ab.
„Incels“ haben sich in ein Loch ihres eigenen Elends gegraben – und das macht diese Szene auch für „Incels“ selbst so gefährlich, weil man einfach in einer Sackgasse gelandet ist. Man sagt: Ich will Liebe und Zuneigung – aber von einer komplett idealisierten Vorstellung von Frauen, die in der Regel minderjährig, submissiv und jungfräulich sind. „Incels“ sehen Frauen nicht wirklich als Menschen, sondern nur als Projektionsfläche für ihre eigenen Unsicherheiten und Neurosen. Sie fühlen sich von weiblicher Sexualität verfolgt und bedroht und können deshalb auch gar nicht mit Frauen als autonomen Subjekten umgehen. Jeder Kontakt mit einer Frau wirft einen „Incel“ darauf zurück, dass er keinen Sex hat – und das übersetzt er in Frauenhass.

Häufig ist der Hass gegen Frauen stellvertretend für einen Hass gegen sich selbst: Laut einer Umfrage auf „incels.co“ bezeichnen sich 67,5 Prozent der User als suizidgefährdet, 85,4 Prozent als depressiv und 74,5 Prozent leiden unter Angststörungen oder Nervosität – nach eigenen Angaben wohlgemerkt. Ist es nicht zu einfach zu behaupten, „Incels“ seien nur Frauenhasser, weil sie psychisch krank sind?
Das ist eine sehr gute Frage. Frauenhass ist ja etwas gesellschaftlich Konstituierendes. In meinem Buch beziehe ich mich auf den Geschlechterforscher Rolf Pohl, der schreibt, dass die heterosexuelle männliche Betrachtung weiblicher Sexualität immer pathologische Züge hat. Der durchschnittliche Hetero-Mann fühlt sich von weiblicher Sexualität einfach herausgefordert und bedroht. Deswegen muss er sich unter männliche Herrschaft werfen. In patriarchalen Verhältnissen wird dem Mann gesagt, dass er autonom zu sein habe. Dass man eine Frau begehrt, zeigt einem aber, dass man nicht autonom sein kann und Frauen doch braucht. So muss er sich als Folge seiner hegemonial-männlichen Sozialisierung von den eigenen weiblich konnotierten Anteile abspalten. Ingeborg Bachmann schrieb schon in ihrem Buch „Malina“ den schönen Satz: Alle Männer sind krank. Alle. Und „Incels“ sind keine Ausnahmeerscheinung, sondern die Spitze des patriarchalen Eisbergs.

Im Fall der „Incels“ liegt es nahe, dass es die toxische Community ist, die sie krank macht.
In diesen Foren wird denen die ganze Zeit gesagt, dass sie hässlich sind, alle sie hassen und niemand sie lieben wird. Unter dem Begriff „Looks-Maxxing“ laden Users Bilder von sich hoch, um Tipps bezüglich ihres Aussehens zu bekommen. In der Regel wird immer plastische Chirurgie empfohlen. Es ist kein Wunder, dass eine Community, die sagt, du musst dich unters Messer legen lassen, zu einer Körperdysphorie führt. Für mein Buch habe ich mit einem Ex-„Incel“ gesprochen, der sagte, dass seine psychische Gesundheit einfach komplett am Boden war, als er noch aktiv in dem Milieu war – weil die Szene so unglaublich toxisch ist.

Die Szene wirkt vor allem frauenfeindlich und misogyn. Gibt es aber auch Anhaltspunkte für eine rechtsextreme Ideologie?
Auf jeden Fall. Was in den Foren virulent ist, ist Antisemitismus. Man muss auch sagen, dass Antifeminismus immer auch eine antisemitische Verschwörungsideologie ist, da ja davon ausgegangen wird, dass der immer jüdisch konnotierte „kulturelle Marxismus“ quasi die Schuld am Feminismus, an der Frauenemanzipation und der Moderne generell trägt. Man findet aber auch einen expliziten Rassismus gegenüber Schwarzen Männern, die in der Szene als „Tyrone“ bezeichnet werden – der Schwarze „Chad“. In der Regel wird „Tyrone“, was an sich ein klischeehafter Schwarzer Name ist, als Gangster oder Drogendealer dargestellt, der auch super potent ist und einen großen Penis hat. So werden klassischen sexualisierten kolonialrassistischen Stereotypen bedient. Es gibt aber auch den indischen Chad, „Chadpreet“, den arabischen „Chadam“, den lateinamerikanischen „Chadriguez“ und – mein persönlicher Favorit – den asiatischen „Chang Long Wang“. Viele nicht-weißen „Incels“ haben diesen Rassismus internalisiert: So bezeichnen sich „Incels“ mit einem indisch-pakistanischen Hintergrund selbst als „Currycel“.

Die Szene verwendet eine spezifische Sprache, die für Außenseiter oft unzugänglich wirkt. Wie würden Sie diese beschreiben?
Ich habe in meinem Buch auch ein Glossar mit allen Begriffen der Szene. Die Sprache hat eine gewisse Funktion. Sie sagt: Wir sind eine verschworene Gemeinschaft mit ihren eigenen Codes und ihrer eigenen Sprache, die nur wir verstehen. So grenzen sie sich von „Normies“, also Nicht-„Incels“, ab. Außerdem wird durch die Sprache eine gewisse Ideologie vermittelt: Der Begriff „Tyrone“ evoziert in der Szene beispielsweise ein rassistisches, klischeehaftes Bild eines Schwarzen Mannes. Was auch sehr deutlich ist, ist wie in der Szene über Frauen gesprochen wird. Frauen werden als „Femoid“ oder „Foid“ bezeichnet – das steht für „Female Humanoid“, was eine dehumanisierende Funktion hat. Frauen werden auch mit dem sächlichen Pronomen „it“ – also „es“ – tituliert. Attraktive Frauen werden „Stacys“ genannt – das weibliche Gegenüber zu einem „Chad“.

Es gibt kaum offizielle Statistiken zur Szene in Deutschland. Das BKA habe „keine Erkenntnisse“ dazu und der Verfassungsschutz fühle sich nicht zuständig. Wird die Gefahr von „Incels“ hierzulande unterschätzt?
Auf jeden Fall. Aber das liegt auch daran, dass Frauenhass in Deutschland generell unterschätzt wird. Femizide werden als „Familiendramen“ verharmlost. Sexuelle Belästigung ist erst seit 2017 strafbar und vor weniger als 30 Jahren war Vergewaltigung in der Ehe noch legal. Und generell haben wir auch ein Problem mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in den Behörden selbst. Die Polizisten, die wissen, was Kohlchan ist, sind leider meistens die, die da selber rumhängen.

Viele Amokläufer weisen Anhaltspunkte für eine „Incel“-Ideologie auf – wie die Attentäter von Christchurch, Halle und Toronto zeigen. Ermorden solche Täter aber nicht primär aus rechtsextremen Motiven? Oder spielt die „Incel“-Ideologie auch hier eine entscheidende Rolle?
Meine These ist, dass solche Terrorakte eine Wiedergutmachung der narzisstischen Kränkung sind – und sind somit ein konsequenter Moment der Mannwerdung. Das sind ja Männer, die sich permanent davon gekränkt fühlen, keinen Sex zu haben. Sie glauben, dass ihnen etwas zustünde und wollen als Soldaten in ihren Krieg gegen die Moderne ziehen – sei das in einen Krieg gegen Migranten, Juden oder den Feminismus. Diese Männer sehen sich zu Größerem berufen, müssen aber permanent erfahren, dass sie nur Würmer im Kompost des Spätkapitalismus sind. Und das ist vernichtend. Der amerikanische Soziologe Michael Kimmel gibt an, dass diese Demütigung auch immer eine Form von Entmännlichung ist. Der Gewaltakt hingegen ist etwas männlich Konnotiertes. Der Attentäter des Isla-Vista-Anschlags im US-amerikanischen Kalifornien, ein Vorbild in der „Incel“-Szene, schrieb in seinem Manifest: „Who‘s the alpha man now bitches?“ Durch die Waffe werde er zu Mann, so die Logik.

Wie werden solche Täter in der „Incel“-Community rezipiert?
In einem „Incel“-Posting, das ich in meinen Vorträgen oft zeige, fragt ein Mann, ob „Stacys“ bei Amokläufen in Schulen feucht werden, weil Frauen auf dominante Männer stehen würden und bei einer solchen Schießerei der Täter der dominanteste aller Männer sei. „Stacys“ müssten also total erregt sein, im gleichen Raum wie der Täter zu sein, weil er in diesem Moment zum „Über-Chad“ werde. Es gibt auch ein Meme in der Szene, wo die Attentäter von Christchurch, El Paso und Poway als Chads dargestellt werden. Man kann also von einer Verherrlichung sprechen.

Was kann man also gegen diese ernstzunehmende Gefahr tun?
Wir brauchen auf jeden Fall kritische Jungenarbeit und eine gendersensible Pädagogik. Männlichkeit basiert häufig auf der Abwertung des Weiblichen. Jungen müssen wir beibringen, dass wir auch Identitäten entwickeln können, die nicht auf dieser Abwertung basieren. Wir müssen Jungen und Männern auch beibringen, dass sie kein Anrecht auf Sex oder eine Partnerin haben. Gleichzeitig ist Frauenhass in patriarchal-kapitalistischen Verhältnissen fest verankert. Diese führen dazu, dass so eine autoritäre, konkurrenzorientierte Persönlichkeitsstruktur entwickelt wird. Das Ergebnis: Man tritt nach unten, man belästigt oder gar tötet Frauen, um für die eigenen Schwächen zu kompensieren, statt das eigentliche Problem zu erkennen. „Incels“ leiden unter einer hegemonialen Männlichkeit, die der Kapitalismus hervorbringt. Das heißt: Es muss auch generell zu einer Überwindung dieser Verhältnisse kommen.

Veronika Kracher – Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults
Ventil Verlag, Mainz 2020
280 Seiten, 16,00 €(D)
ISBN 978-3-95575-130-2

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