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Sammelband „Triggerwarnung” zu Identitätspolitik „Wir müssen uns schmutzig machen!”

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Vorsicht, Debatte: Der Sammelband „Triggerwarnung“ will „Finger auf Wunden“ legen.

„Identitätspolitik steckt in der Sackgasse“ –  dieser Befund steht am Anfang des Sammelbandes „Triggerwarnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“, der gerade aus dem Umfeld der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank veröffentlicht wurde. Aus der Praxis der politischen Bildungsarbeit ergibt sich ein besonderer Blickwinkel: „Wir schätzen die Identitätspolitik, das, was man unter linker Identitätspolitik versteht. Wir arbeiten jeden Tag damit in unserer Bildungsarbeit und in der Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Wir wollen sie nicht entsorgen, wir möchten eine solidarische Kritik an den Exzessen üben“ – so Co-Herausgeberin Eva Berendsen in einem Radio-Interview.

Die positiven Errungenschaften der Identitätspolitik…

Hinter die positiven Errungenschaften wohlverstandener Identitätspolitik wolle man nicht zurückfallen, betonen Berendsen und ihre Mitherausgeber*innen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in ihrer Einleitung. Als „Identitätspolitik” werden politische Ansätze bezeichnet, die explizit die Rechte marginalisierter gesellschaftlicher Untergruppen befördern wollen. Meist aus diesen Gruppen selbst heraus wird der Marker, an dem sich Diskriminierung festmacht, selbstbewusst in positiv besetzte Identität gewendet –- seien es äußerliche Merkmale oder religiöse oder sexuelle Orientierung. Im Sammelband „Triggerwarnung” werden unter dem Stichwort vor allem Konzepte aus den Critical Whiteness Studies diskutiert, der aktuell wirkmächtigsten und radikalsten Auslegung von identity politcs. Dazu gehören etwa die Bestimmung der eigenen Sprecherposition vor Wortmeldungen (Positionierung), die Praxis, Texte mit rassistischem oder an sexuelle Übergriffe erinnernden Inhalt mit Triggerwarnungen zu versehen, oder die Schaffung von möglichst diskriminierungsfreien safe spaces.

Eine wichtige, positive Erkenntnis der Identitätspolitik ist für die Herausgeber*innen, dass Rassismus über Sprache und Bildwelten bis in die entlegensten Bereiche gesellschaftlicher Interaktion einsickert (Stichwort: Mikroaggression). Mit einem solchen Rassismusbegriff seien nicht nur die psychischen Folgen von Rassismus für Betroffene in den Blick zu bekommen, die Forderungen etwa nach safe spaces sei auch Ausdruck eines neuen Bewusstseins für Selbstsorge unter Aktivist*innen. Der Selbstsorge entspreche allerdings auch eine neue Qualität von Selbstreflexion: die Erkenntnis, dass Aktivist*innen noch in der progressivsten Gruppe nicht automatisch frei von den Ismen der strukturell ausgrenzenden Mehrheitsgesellschaft sind, sei auch dank der identity politics fest in linken Zusammenhängen verankert.

… und ihre Exzesse

Eine übersteigerte Selbstreflexion und Selbstbezüglichkeit bedingen allerdings gerade die von den Herausgeber*innen kritisierten „Exzesse“ der Identitätspolitik. Momentan verbreite sich eine vulgäre Form der „Identitätspolitik mit fundamentalistischen Zügen“. Nicht nur nach außen schirme sich die Szene ab, indem sie Triggerwarnungen und Positionierungen instrumentalisiere, um Gegenrede und unliebsame Positionen aus ihrem Diskurs fernzuhalten. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse funktioniere ebenso nach Innen und etabliere ein „Bescheidwissertum“, das sich die Aktivist*innen entlang immer neuer, kleinteiligster Trennlinien „selbst zerfleischen“ ließe. Was dabei auf der Strecke bleibe, sei die Fähigkeit, die eigene Position auch in die Mehrheitsgesellschaft hinein zu argumentieren: „Es wird Schluss gemacht mit Politik.“

Falsche Freund*innen?

Dies alles geschieht, während „Political Correctness“ massiv von einer erstarkenden Rechten unter Beschuss genommen wird. So läuft noch die solidarischste Kritik Gefahr, sich „falsche Freund*innen“ zu machen. Doch hier zeigt sich eine Stärke des Bandes: die Herausgeber*innen sind bereit, den formulierten Anspruch auch in ihrer eigenen Arbeit einzulösen und weder auf möglichen Applaus von der falschen Seite noch auf eigene Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Sie selbst seien an unterschiedlichen Stellen des Buches „getriggert“ worden, nicht mit allen vertretenen Positionen einverstanden.

Theorie…

In der Tat versammelt der Band viele unterschiedliche Autor*innen, Blickwinkel und sogar Textgattungen. So finden sich in „Triggerwarnung“ zum einen eher theoretische Texte, etwa zur Übernahme des Trigger-Begriffes aus der Traumatherapie, Betroffenenperspektiven oder der rechten Aneignung linker Aktionsformen. Massimo Perinelli etwa zeichnet in seinem Beitrag die Geschichte der Identitätspolitik in linken Bewegungen nach und wirft den Critical Whiteness Studies als aktuellstem Beispiel vor, in ihrer Konzentration auf Privilegien und mikroaggressive Kommunikation letztlich eine neoliberale Individualisierung von Politik nachzuvollziehen und die Gesellschaft strukturierende Funktion von Rassismus tendenziell unsichtbar zu machen. Sama Maani bemängelt in seinem Beitrag, dass antirassistische Identitätspolitik zu oft den Denkfehler ihrer politischen Gegner reproduziere und Menschen aufgrund ihrer Herkunft aus mehrheitlich muslimischen Ländern unausweichlich mit einem islamischen Kollektiv identifiziere.

… und Praxis

Zum anderen werden in vielen Texten kenntnisreich Debatten der letzten Jahre nachvollzogen – so zum Beispiel die anti-israelischen „Pinkwashing“-Vorwürfe, Beispiele von Cultural Appropriation oder die Debatte um den Antisemitismus des Rappers Kollegah. In seinem letzten Teil lockern dann ein Beitrag in Form einer Serie von Tweets oder ein lesenswerter Essay von Leo Fischer über Satire heute das Buch auf. Ebenfalls dort findet sich ein Interview mit u.a. Hengameh Yaghoobifarah, Hassfigur all jener, die ihre Kritik an Identitätspolitik gerne weniger „solidarisch“ äußern. Yaghoobifarah berichtet gemeinsam mit ihrer Kollegin Stefanie Lohaus aus ihrer gemeinsamen Arbeit beim Missy Magazine, das nach wie vor stark daran arbeitet, Debatten um identity politics voranzutreiben und abzubilden. Das Interview mit Mitarbeiter*innen einer der, wenn nicht der Bastion des identitätspolitischen „Bescheidwissertums“ im deutschsprachigen Raum, gerät dann überraschend harmonisch. Angesichts des oft unnötig harschen Tons, mit dem die Debatte bisher oft geführt wurde, eine eher angenehme Überraschung.

Was tun?

Die Herausgeber*innen schließen das Buch mit „Zehn Punkten für den ultimativ richtigen Umgang mit Betroffenheiten, Identitäten und Allianzen“. Sie fordern, sich wieder lustvoller in Debatten zu werfen, und sich gerade in Zeiten des rechten Backlashs nicht in innerlinken Diskussionen zu verzetteln. Von den vielen kleinen Verletzungen müsse man wegkommen, um auch größere gesellschaftliche Zusammenhänge wie z.B. Klasse wieder in den Blick zu bekommen. Die vielen verschiedenen, teils ganz individuellen Betroffenenperspektiven müssten gehört, aber nicht jeder Kritik enthoben werden. Bevor aber Aktivist*innen für Betroffene sprechen, sollten sie „erstmal bis zehn zählen“.

Mit diesen Schlussbemerkungen schlägt der Band einen Bogen zurück zur zu Beginn herausgestellten Perspektive der praktischen Arbeit mit den besprochenen Konzepten. In dieser Hinsicht ist das Buch auch befriedigender als so manche theoretische Demontage der Identitätspolitik, die bei aller Berechtigung doch den Makel reiner Fingerübungen nicht loswerden. Demgegenüber stellt „Triggerwarnung“ das hehre Unterfangen von Praktikern dar, sich der eigenen Praxis zu versichern – als Leser lässt sich daran durchaus gewinnbringend teilhaben.

 

„Triggerwarnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“ ist als Teil 1 der „Edition Bildungsstätte Anne Frank“ beim Berliner Verbrecher Verlag erschienen und kann hier erworben werden.

 

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