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Smartphone NS-Gedenken mit der Gen Z

Das Erinnern an den Holocaust erlebt einen enormen Umbruch: Die Möglichkeit, von Zeitzeug*innen etwas über die Zeit des Nationalsozialismus zu erfahren, ist kaum noch gegeben. Die Generation Z (Geburtsjahr 1995-2010) weist große Bildungslücken in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus auf. Insbesondere hinsichtlich des vorhandenen historischen Faktenwissens bestehen Defizite. Aus einer Studie der Universität Bielefeld geht hervor, dass nur knapp die Hälfte der befragten Jugendlichen den Zeitraum der NS-Herrschaft benennen können. Große Wissenslücken bestehen auch in Bezug auf die verschiedenen Opfergruppen des Holocaust. Die eigene Familiengeschichte im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus ist vielen nicht bekannt. Fast die Hälfte der Befragten gab an, sich nur wenig oder gar nicht mit dem Thema auseinandergesetzt zu haben.

Interesse der Gen Z

Deshalb liegt die Befürchtung nahe, dass das Interesse der Jugendlichen an der Thematik sinkt. Jungen Leuten wird häufig ein politisches und historisches Desinteresse unterstellt. Tatsächlich aber ist ein größeres Interesse als bei der Eltern-Generation zu beobachten. Diese Erkenntnis geht aus einer Studie im Auftrag der Arolsen Archives aus dem Januar 2022 hervor. Kennzeichnend für die Generation Z ist, dass sie Bezüge zu akuten gesellschaftlichen Problemen und ihrer eigenen Lebensrealität herstellt, welche beispielsweise durch Mobbing, Rassismus oder Verschwörungsideologien beeinflusst wird. Beim Thema Mobbing wird Social Media als Katalysator betrachtet. Die Jugendlichen wollen sich vor allem in die Rolle der Opfer hineinversetzen, stellen sich aber auch die Frage, ob sie selber Täter*in gewesen wären. Ein Großteil der Proband*innen gab auch an, dass fast jede*r rassistische Tendenzen hat, die man reflektieren sollte.

Zudem berichtete die Mehrheit der Befragten, dass sie die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit generell mit dem Thema Diskriminierung sensibilisiert habe. Junge Menschen aus migrantisierten oder ärmeren Familien fühlen sich häufig selber diskriminiert. Es geht also weniger um Vergangenheitsbewältigung, sondern um Rückschlüsse für das Hier und Jetzt.

Erinnerung im True Crime Format? Zwischen Faszination und Barrieren

Das extreme Ausmaß an Grausamkeit der NS-Zeit wird von den Jugendlichen als ungeheuerlich, aber auch faszinierend empfunden. Dies verleiht der NS-Zeit für die Gen Z einen ultimativen True Crime-Charakter: „Mehr True Crime geht nicht!“. Die Beschäftigung mit der Thematik wird als reizvoll empfunden, gleichzeitig löst der Gedanke einer Auseinandersetzung auch Angst aus. Für die Jugendlichen ist die Auseinandersetzung mit einer Art Mutprobe vergleichbar.

Die Gen Z berichtet jedoch auch von anderen Barrieren in Bezug auf die Thematik. Es besteht beispielsweise die Angst vor der Komplexität in der Wissensvermittlung. Des Weiteren werden die verfügbaren Informationen teilweise als langweilig oder uninteressant empfunden. Die bisherigen Konzepte an Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen müssen also neu gedacht werden. Es müssen anschlussfähige und zeitgemäße Zugänge geschaffen werden, um die jüngeren Generationen nachhaltig zu erreichen. Ein Großteil wünscht sich leicht verständliche Formate, wie Podcasts oder Videos. Sie würden sich mehr mit dem Thema beschäftigen, wenn mehr digitale Formate zum Thema zur Verfügung stünden. Die Proband*innen der Studie sprachen häufig von „snackable content“, der es leichter macht, sich im Alltag mit der Thematik auseinanderzusetzen.

NS-Geschichte aus der Selfie-Perspektive

Individualität, aber auch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder Gruppe spielt für die jüngere Generation eine große Rolle. Ersteres resultiert unter anderem aus einer schier maßlosen Anzahl an Optionen in den heutigen Gesellschaftsstrukturen. Durch die Vielzahl an Social Media Tools und den damit verbundenen Selbstdarstellungs-Möglichkeiten stehen die Jugendlichen unter Druck, die eigene Individualität geschickt zur Geltung zu bringen. Gerade die Jugendzeit ist stark geprägt von Identitätsfindung.

Auch in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit spielt die Einzelperspektive eine Rolle. Das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ vom Bayerischen Rundfunk und Südwestrundfunk hatte zum Ziel, jungen Menschen die Perspektive der Scholl-Geschwister aufzuzeigen. Das umstrittene Projekt wurde von Mai 2021 bis April 2022 durchgeführt und simulierte die letzten 10 Monate der Widerstandskämpferin in Echtzeit. Der Account fungierte als fiktives Instagram-Profil von Sophie Scholl als Influencerin, gespielt von der Schauspielerin Luna Wedler. Solche innovativen digitalen Projekte sind ein guter Ansatz, um das Interesse junger Menschen an der NS-Zeit zu wecken. Jedoch wurde auch Kritik laut, da das Projekt bei den Zuschauer*innen ein verzerrtes Bild von einem ausgeprägten deutschen Widerstand hervorrufen könnte. Auch die Wahl einer weißen, deutschen und christlichen Widerstandskämpferin würde die Assoziation einer deutschen Opferrolle erzeugen. Zudem hätten die fiktionalen Anteile der Erzählung deutlicher als solche gekennzeichnet sein sollen.

Tatsächlich gab es die Idee der NS-Erzählung aus der Selfie-Perspektive schon vor dem Sophie Scholl-Projekt. Der israelische Regisseur Mati Kochavi hat 2019 mit Unterstützung seiner Tochter Maya die „Eva-Stories“ umgesetzt, welche 2019 zum israelischen Tag des Gedenkens an den Holocaust Yom Hashoah online ging. Kochavi stammt aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden und wollte mit dem Projekt die Erinnerung an den Holocaust für junge Menschen wachhalten, abseits von Museen und Büchern. In Form von Instagram-Stories wurde die Geschichte von Eva Heymann abgebildet. Die ungarische Jüdin wurde 1944 im Alter von 13 Jahren in Auschwitz ermordet. Der Account basiert auf dem real existierenden Tagebuch, welches sie bis zu ihrem Tod schrieb.

Instagram-Formate von Todesopfern des Nationalsozialismus aus Selfie-Perspektive werden von Kritiker*innen häufig als geschmacklos und Holocaust-trivialisierend betrachtet. Doch die filmische Darstellung einer jüdischen Perspektive, produziert von jüdischen Regisseur*innen, stellt wohl eine bessere Grundlage dar, als die Darstellung einer deutschen Perspektive, produziert von deutschen Regisseur*innen.

Der Text erschien zuerst im Newsletter des Projekts Visualising Democracy. Wenn ihr nichts mehr von den TikTok-Kolleg*innen verpassen wollt, dann abonniert ihren Newsletter:

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