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Wehrhafte Demokratie Mit Mut und Beharrlichkeit lässt sich viel bewegen!

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Foto: Holger Kulick

Dieser Appell war aber nicht böse gemeint im Sinne von Neonazidrohbriefen, wie sie die Stiftung und ihre Projekte seit 10 Jahren immer wieder mal erreichen. Eher als prononcierte Aufforderung, nachzudenken über gesellschaftspolitisch gut angelegtes Geld, um sich auch in Zukunft für eine lebendige Demokratie stark zu machen, in der das Prinzip der unantastbaren Menschenwürde allem voran steht. Aber der Reihe nach:

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Anetta Kahane

Erst Denken, dann Handeln lautete der Appell von Stiftungschefin Anetta Kahane am Vormittag des 1. Dezember. In das Berliner Centrum Judaicum waren Fachleute, Weggefährten und Spender der Stiftung eingeladen worden, um gemeinsam eine Bilanz der bislang erfolgten Arbeit zu ziehen. Vor allem gefragt waren aber Denkanstöße für den Blick nach vorn, statt allzu selbstzufrieden zurückzublicken. Zwar seien  für die Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus im Alltag heute deutlich mehr Menschen  und Verantwortungsträger sensibilisiert, als zu Beginn der Stiftungsgeschichte.  Aber noch viel mehr sei zu erledigen, zumal angesichts der gerade erst begonnenen Wirtschaftskrise viele neue soziale Spannungen und Herausforderungen für ene lebendige Demokratie noch nicht absehbar sind.

Gefragt waren also Denkanstöße und Ideen, unter veränderten sozialen Bedingungen kulturellen Wandel in Regionen zu erreichen, die nach wie vor stark von angsteinflößendem Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus geprägt sind.  Benannt nach einem der ersten Opfer rechter Gewalt, Amadeu Antonio Kiowa aus Eberswalde, gibt die Stiftung seit nunmehr 10 Jahren Menschen und Initiativen Rückenstärkung, die für solchen gesellschaftspolitischen Klimawandel im Alltag sorgen wollen – ein Prozess, der beispielsweise in Orten wie Eberswalde, Pirna, Pössneck oder Hoyerswerda vorbildlich gelang.

ermutigen

Zum Auftakt ging der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Prof. Micha Brumlik  in seiner Festrede der Frage nach , wie eine praktische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in Zukunft aussehen könnte oder sollte – mit dem verborgenen als auch immer sichtbareren. So werden mittlerweile werden mehr als 1700 rechtsextreme Websites gezählt. Und die NPD profitiert davon, dass sich die Menschen immer mehr an sie gewöhnen, obwohl sie eine explizit menschen- und demokratiefeindliche Politik verfolgt. Brumlik nahm Bezug auf das zentrale Zitat von Theodor W. Adorno: „Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz nicht sich wiederhole.“ Dies müsse auch Maßgabe bei der Arbeit gegen Rechtsextremismus sein: „Die Anerkennung der Integrität des Anderen“, d.h. Selbstachtung und Achtung eines jeden Mitmenschen müssen eine selbstverständliche Spielregel der Gesellschaft sein und auch überzeugend vermittelt werden
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Prof Brumlik redet

Prof. Brumlik bei seiner Rede

Dabei ein zentraler Gedanke: Welche Art von Erinnerungskultur brauchen wir und welche Bedeutung hat sie für die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus? Marianne Birthler hob hervor, dass es die Beschäftigung mit Vergangenheit im Vergleich zur Beschäftigung mit Fragen der Gegenwart und der Zukunft schwer habe. In vielen Ländern (zum Beispiel in Spanien) gebe es einen breiten Konsens, dass es leichter ist für eine Gesellschaft, wenn sie einen Schlusspunkt unter die eigene Geschichte setzt, anstatt sich ständig damit auseinander zu setzen. „Ich sehe das grundlegend anders“, betonte Birthler, die sich für die Zukunft eine gemeinsame, europäische Dimension der Erinnerung – insbesondere an die kommunistischen Diktaturen – wünscht.

Birthler redet

Marianne Birthler

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hätten die westeuropäischen Staaten gelernt, mit einer Stimme zu sprechen und sich gemeinsam dazu verpflichtet, den Frieden und die Demokratie in Europa zu wahren: „Ein durchaus vergleichbarer Schritt steht heute den osteuropäischen Staaten noch bevor“. So wäre es ein wichtiges Zeichen für andere Länder in Osteuropa, wenn sich Russland seiner stalinistischen Verbrechen stellen würde, anstatt sie zu verdrängen.

Geschichtsverständnis als Voraussetzung für eine kritische Sicht der Gegenwart

Für Heike Radvan, Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung, ist Geschichtsarbeit eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich Menschen auch mit gegenwärtigen Fragen und Problemen kritisch auseinandersetzen. „Das merken wir immer wieder vor Ort“, so Radvan, „aber es bringt nicht so viel, wenn Jugendliche mal an einer Gedenkstättenfahrt teilnehmen oder ein paar Stolpersteine zum Gedenken an jüdische NS-Opfer verlegen“. Entscheidend sei die Intensität und ein eigener Bezug, mit der an einem Thema gearbeitet wird: „Wenn sich Jugendliche umfassend mit ihrer lokalen Geschichte beschäftigen und dazu ihre eigenen Recherchen in ein Projekt mit einbringen können, dann bleibt viel mehr hängen“.

Auch Philippa Ebéné, Geschäftsführerin der Werkstatt der Kulturen, schaut in ihrer Arbeit häufig in die Vergangenheit. So beging der Verein im November den 200. Jahrestag der Beendigung des transatlantischen Sklavenhandels. Bedauerlicherweise, so Ebéné, sei dieses schmachvolle Kapitel der Menschheitsgeschichte im Bewusstsein der europäischen Staaten und in Nordamerika immer noch nicht präsent, was sich auch in der fehlenden Presseresonanz widergespiegelt habe: „Was die Besucherzahlen betrifft, war dieVeranstaltung erfolgreich, doch die Presse hat das Thema nirgends aufgenommen – kein Interesse“.

Podium

Podium

Entmutigen lassen will sich Ebéné davon aber nicht, im Gegenteil: auch für die Zukunft plant sie vertiefende Veranstaltungen zu diesem Thema.

Kultureller Wandel kann nur langfristig erreicht werden

In einer zweiten Diskussionsrunde stand die Frage im Mittelpunkt, welche Möglichkeiten und Grenzen eine demokratische Kultur hat und auf welche Weise langfristig ein kultureller Wandel in der Gesellschaft erzeugt werden kann. Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung: „Einen solchen Wandel brauchen wir immer dann, wenn es eine Unkultur gibt“.

Anetta Kahane

Anetta Kahane

Ohne pauschalisieren zu wollen, stellte Kahane im Vergleich zwischen West- und Ostdeutschland fest, dass es im Westen generell leichter sei, zivilgesellschaftliche Diskussionen in Gang zu bringen: „Das ‚Verbot’ von Konfliktaustragung in der DDR-Gesellschaft machte solche Diskussionen schwieriger, und das macht sich bis heute bemerkbar“. Und obwohl noch viel zu tun bleibt – die Arbeit aus den vergangenen zehn Jahren stimmt die Stiftungsvorsitzende vorsichtig optimistisch: „Ich erinnere mich an das Jahr 1999, da gab es in Städten wie beispielsweise Pirna oder Wurzen eine Handvoll engagierter junger Leute, die etwas gegen die starke rechtsextreme Präsenz in ihren Orten tun wollten“.

geschenke

Geschenke

Anfangs, so erinnert sich Kahane, habe es sich noch um vorsichtiges Engagement einiger weniger gehandelt, die aus Angst vor rechtsextremer Gewalt nur sehr zögerlich aktiv wurden. Inzwischen, nur zehn Jahre später, durch die Unterstützung und Ermutigung der Amadeu Antonio Stiftung und zahlreicher anderer Akteure, haben sich in Wurzen mit dem Netzwerk für Demokratische Kultur und in Pirna mit der Aktion Zivilcourage zwei der erfolgreichsten und wichtigsten Organisationen für Demokratieentwicklung und gegen Rechtsextremismus in Sachsen etabliert.

Auf dem Podium

Auf dem Podium

Friedemann Bringt (oben l.), der für das Kulturbüro Sachsen arbeitet, kann sich gut an die Situation 1999 in Wurzen erinnern und zieht ein ähnlich postivies Resümée: „Wenn man bedenkt, wie unglaublich wenig Unterstützung die Jugendlichen dort anfangs vom Bürgermeister und der Stadtbevölkerung bekamen, dann kann man auf jeden Fall sagen, dass sich sehr viel Gutes getan hat seitdem.“ Kultureller Wandel könne jedoch nur langfristig erreicht werden, insbesondere in Ostdeutschland, wo die Gesellschaft zwei Diktaturen hintereinander erlebt habe. Geduld, so Bringt, gehöre bei seiner Arbeit unbedingt dazu: „Wir können demokratische Einstellungen doch nicht von außen erzwingen, das funktioniert nur gemeinsam mit den Menschen vor Ort.“

„Die Demokraten müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen“

Auch Prof. Andreas Zick, Professor für Sozialisation und Konfliktforschung, glaubt nicht an schnelle Wunder, sondern an Beharrlichkeit: „Kultureller Wandel ergibt sich, aber nicht von heute auf morgen.“ Das Hauptproblem bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus sei aber, dass die Demokraten es verlernt hätten, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Das besorgten in vielen Fällen heute Rechtsextreme.

kanehl

Jürgen Kanehl

Ähnlich äußerte sich Jürgen Kanehl, der als ehemaliger Bürgermeister der Kleinstadt Wolgast in Mecklenburg-Vorpommern eine insgesamt ernüchternde Bilanz seiner Amtserfahrungen zog: „Der schlimmste Widerstand war die Gleichgültigkeit der Mehrheitsgesellschaft: trotz aller Präventionsarbeit, die wir angeschoben haben, war es sehr schwer, die Menschen zu mehr Eigenverantwortung und Engagement zu motivieren.“

Kanehl stammt ursprünglich aus Westdeutschland, die Demokratiemüdigkeit vieler Ostdeutscher hat ihn überrascht, als er nach Mecklenburg-Vorpommern kam. Auch etliche seiner ehemaligen Kollegen zeigten nur wenig Interesse an Projektarbeit zur Stärkung der Demokratie; das Bewusstsein für die Gefahren rechtsextremer Parteien und Organisationen sei in der Bevölkerung insgesamt schwach ausgeprägt. Entmutigen lassen sollte man sich jedoch keineswegs: „Es gibt eine ganze Menge guter Projekte, die etwas zum Positiven bewirken, aber man muss auch akzeptieren, wenn mit viel Elan kaum etwas erreicht wird.“

fragender im saal

Fragesteller aus dem Publikum

Am Ende standen Reflektionen an, wo Rechtsextremismusbekämpfung künftig besonders intensiv ansetzen müsste und wie daraus Arbeitsaufträge für die Stiftung für das nächste Jahrzehnt abgeleitet werden können.  Nicht nur Kopfarbeit leisten, sei wichtig, sondern es komme darauf an, das Kümmern um Menschen zu forcieren, nicht im Rahmen von Goßveranstaltungen, sondern lokal vor Ort mit so konkretem Alltagsbezug wie möglich zu arbeiten.

Wir müssen mehr raus an die Front“, forderte EXIT-Chef Bernd Wagner. Dazu bedürfe es stärkerer Präsenz vor Ort – und koninuierlicherer, bürokratieärmerer Projekt-Förderung vom Staat, der sich zudem bereit erklären müsste, Projekte auch langfristig lebensfähig zu machen. Es würde eine Einrichtung wie die Amadeu Antonio Stiftung überfordern, ihr all das aufzubürden, was der Staat versäume. Gleichsam  dürfe sich der Staat  nicht aus seiner Verantwortung davon stehlen und nur immer Modellprojekte fördern.

petry

Der Geschäftsführer der Freudenberg-Stiftung Christian Petry (r.) sammelte noch weitere Denkanstöße von den Praktikern im Publikum. Was muss ausgebaut werden, was hilft am besten? Vor allem vier Dinge kristallisierten sich dabei als Rezepte immer wieder heraus: Mut, Beharrlichkeit und ganz Prakisches: Bildungsdefizite ließen sich beispielsweise nicht nur via Lehrbuch beseitigen, Schülerforschungsprojekte über erlittenen Rassismus von Asylbewerbern vor Ort oder über Judenverfolgung im Dritten Reich in der eigenen Nachbarschaft und Heimatstadt vermittelten viel mehr, als viele weise Lehrerworte. Und dann immer wieder das: Dazu kommen muss noch mehr kleinteiligere Arbeit. Keine großen Veranstaltungen mit vielen Reden, die viel versprechen, sondern viele kleine, bürgernahe Aktionen mit praktischer Arbeit vor Ort. Wie schon gesagt, vor allem Kümmerer“ sind gesucht. Solche, die menschenah Probleme erfassen und Menschen direkt helfen, beraten und aktivieren können – als Anwälte der Demokratie.

ise bosch redet

Fazit: Es gibt noch viel zu tun, und ausruhen konnte sich die Stiftung gerade mal am Tag der Jubiläumsfeier. Denn Demokratie ist nichts, was einer Gesellschaft in die Wiege gelegt wird, sondern jeden Tag aufs Neue geübt und gelernt werden muss. Dass dies gelingen kann, zeigen inzwischen 350 erfolgreiche Projekte und Initiativen, die die Amadeu Antonio Stiftung seit 1998 bundesweit gefördert und beraten hat. Bei einem Festakt in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft am Abend lobte der damalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse explizit dieses Tun, das von der Stiftung modellhaft antizyklisch“ erfolge, also unabhängig davon, ob das Thema Rechtsextremismus gerade Schlagzeilen mache oder nicht.

Spender

Spender

Und von den anwesenden Stifter*innen – von Familie Freudenberg bis zum Torwart des FC St. Pauli – kam die Bitte, nicht müde zu werden und andere Spender anzustiften, damit die Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit der Stiftung weitere zehn Jahre gesichert bleiben kann. Und dann fiel besagter Satz: Machen Sie Ihr Testament…“

Holger Kulick, Jan Schwab

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / Fotos: Holger Kulick

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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