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Digitalreport 2023-1 Ein Jahr quantiatives Monitoring – Chancen und Grenzen

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Den digitalen Raum vermessen: Die Ergebnisse zur Vernetzung antidemokratischer Kräfte in Sahchsen zeigt der Digital Report, den es jetzt seit einem Jahr gibt. (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Ein Aufbruch in neue Gefilde war vor einem Jahr der Start der Digital Reports des Else-Frenkel-Brunswik-Institutes (EFBI) und der Amadeu Antonio Stiftung. Eine Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft, qualitative und quantitative, computergestützte Methoden kombinierend – und das auch noch mit lokalem Bezug! Dieser Ansatz ist neu und es stellt sich die Frage: Sind wir so dem Ziel nähergekommen, Demokratiegefährdung in Sachsen noch besser, vor allem systematischer und tiefergehend, zu beschreiben als zuvor? Simone Rafael hat mit Johannes Kiess vom EFBI und mit Gideon Wetzel von der Amadeu Antonio Stiftung
gesprochen.

Ziele des Kooperationsprojektes

Wer zu Themen wie Rechtsextremismus arbeitet, wünscht sich früher oder später Zahlen. Auch in der Öffentlichkeit und seitens der Medien werden immer wieder Fragen nach Umfang und Ausmaß gestellt: Sind „Eltern stehen auf“ nur eine lokal aktive Kleingruppe oder sind sie vernetzt und gefährlich? Wie viele Reichsbürger*innen sind denn in der weiter gefassten Szene der Coronaleugner*innen aktiv? Und auf welche Akteur*innen sollte ich schauen, wenn ich mir um Gewalt Sorgen mache?

Das Ungewöhnlichste am Ansatz des Digital Reports ist ohne Zweifel der Fokus auf lokale Entwicklungen. Das Internet kennt keine Ländergrenzen. Doch Johannes Kiess sagt: „Wir haben uns spezialisiert auf etwas, das bisher fehlte: Datengestütztes Monitoring auf Telegram von lokalen Gruppen. Damit bekommen wir ein flächendeckendes Bild, was vor Ort besprochen und diskutiert wird.“ Die Idee: Oft sind die digitalen Gespräche vor Ort facettenreicher, weil Menschen einen Bezug zu ihrem Wohnort haben. Chat- oder Kanal-Nachrichten können als Seismografen für Themen dienen, mit denen sich andere mobilisieren oder gar radikalisieren lassen. Deshalb wird das datenbasierte Monitoring sowohl mit wissenschaftlicher als auch zivilgesellschaftlicher Expertise kombiniert. Die Daten sollen nicht für sich stehen bleiben, sondern in Zusammenhänge gesetzt werden: Welche Themen kommen auch landesweit, vielleicht sogar überregional, an? Welche Themen verpuffen?

Vorgehen und Methoden

Der erste Schritt für jedes digitale Monitoring ist die Auswahl der Plattformen. Für das Vorhaben, in Sachsen antidemokratische Mobilisierung zu beobachten, hat sich Telegram als optimal erwiesen: Es gibt viele orts- und regionalbezogene Gruppen, die automatisiert auffindbar sind. Dann gilt es, ein System zu entwickeln: Welche Daten brauche ich, und wie mache ich sie nutzbar? Das ist die Aufgabe von Gideon Wetzel. Viele kritisieren Telegram wegen des intransparenten Moderationsgebarens und der weiten Auslegung des Begriffs Meinungsfreiheit ohne jeden Minderheitenschutz. Für Wetzel hingegen ist Telegram genau deshalb ein perfektes Forschungsfeld: „Es ist sehr interessant, weil es unmoderierter und damit größtenteils unverfälschter ist als etwa Twitter. Und dann kann diese Freiheit auch wieder zu Verfälschungen führen, wenn etwa Bots die beobachteten Gruppen überfluten.“ Spannende Detektivarbeit, bei der technisches Interesse, inhaltliche Analysefähigkeiten und Spürsinn gefordert sind.

Diese Arbeit ist gerade in lokalen Gruppen mit viel Aktivität auch inhaltlich interessant. „Die lokalen Gruppen der Coronaleugner*innen auf Telegram bilden den Austausch vor Ort ab“, sagt Wetzel, „denn das sind keine klar rechtsextremen oder verschwörungsideologischen Gruppen, sondern da sind Menschen im Gespräch miteinander, die aus ganz unterschiedlichen Motivationen mit den Protesten in Kontakt gekommen sind. Manche hatten zeitweilig keinen Job und viel Zeit, sind aber nicht per se antidemokratisch, sondern waren eher aus pragmatischen Gründen auf der Straße. In den Gruppen debattieren sie. Das finden wir auf eindeutig rechtsextremen Plattformen wie Gab oder Gettr nicht.“

Das datengestützte Monitoring kann aber immer nur so gut sein wie die Vorarbeit, auf die es sich stützen kann. „Deswegen arbeiten wir zusammen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie Lokal- und Fachpresse. Deren Beobachtungen vor Ort lassen wir in unser Monitoring fließen: Welche (neuen) Gruppen und Akteur*innen, welche Netzwerke gibt es vor Ort?“, sagt Johannes Kiess. Für die Digital Reports werden dann Daten erhoben – und, was noch wichtiger ist: systematisch ausgewertet. „Das füllt eine Leerstelle“, betont Kiess, „denn Daten auslesen ist das eine – diese aber auch nutzbar zu machen, ist genauso wichtig.“ Der Digital Report kann einen Gegencheck bieten zu Einzelbeobachtungen: Wie relevant oder wie beunruhigend ist die beobachtete Gruppe, das Thema? Steht ein flächendeckender neuer Trend vor der Tür? Wenn also rechtsextreme Parteien oder Gruppen einen „Wutwinter“ ausrufen: Wird das auch online und über viele Gruppen hinweg aufgegriffen? Oder bleibt der Aufstand Wunschdenken einzelner Protagonist*innen?

Zentrale Ergebnisse

Aber was lässt sich durch datengestütztes Monitoring herausfinden? Einerseits, erklärt Gideon Wetzel, geht es um Zahlen: Nutzerzahlen zeigen Wachstum oder Verfall von Gruppen, Kanälen und Influencer*innen. Die Menge von Postings in einer Gruppe oder einem Kanal zeigen das Aktivitätslevel. Wenn von 152.000 Menschen im Kanal der Freien Sachsen nur 60.000 die Beiträge auch ansehen, zeigt das zumindest, dass ihre Mobilisierungsfähigkeit auch nur halb so hoch ist, wie die Zahl der Abonnent*innen vermuten ließe.

Der Anteil der geteilten und weitergeleiteten Posts zeigt Verbindungen zwischen esoterischen, neonazistischen, regionalen und bundesweiten Gruppen und Kanälen auf. „So können wir Zusammenhänge zwischen Gruppen erkennen, auch wenn sie vielleicht thematisch unterschiedlich erscheinen“, sagt Wetzel. „Wenn ich etwa eine E-Book-Empfehlungsgruppe habe, in der nur ab und zu verschwörungsideologische Inhalte geteilt werden, lässt sich hier erkennen, mit welchen Einstiegsthemen Menschen in die verschwörungsideologischen Gruppen gelockt werden sollen. Das hilft, Gegenstrategien zu entwickeln.“

Für die inhaltlichen Analysen werden dann thematische Schwerpunkte gesetzt. Das können lokal begrenzte
Analysen etwa zum Raum Mittelsachsen/Leisnig sein oder thematische Fokussetzungen auf die Themen Klima, Esoterik oder Krieg. Mit Techniken wie dem Topic Modelling, bei dem Nachrichten nach Ähnlichkeiten geclustert werden, lassen sich solche Analysen stützen und sich somit belegen, über welche Themen besonders intensiv debattiert wird – und ob sich das über die Zeit ändert. „Außerdem können wir aus dem Datensatz mit Schlüsselwörtern die passenden Beiträge leicht herausfiltern, etwa zum Ukraine-Krieg oder zur Energiekrise“, sagt Wetzel. Das ist hilfreich sowohl für wissenschaftliche als auch für journalistische Rechercheansätze.

Die Ergebnisse der Analysen werden in Digital Reports wie diesem veröffentlicht, fließen in wissenschaftliche Publikationen ein oder werden auf Fachtagen und in Vorträgen an Interessierte aus Zivilgesellschaft und Medien vermittelt. Denn die sollen sich gern auch mit ihren Recherchefragen an das Team des Digital Reports wenden. „Da sehen wir noch Potenzial“, sagt Johannes Kiess, „wir sind ansprechbar! Also wer wissen möchte: Wie sieht die Mobilisierung mit Gender-Themen in Sachsen aus? In welcher Gruppe funktioniert welches Thema? Da können wir mit unserem Datensatz und Know-How helfen.“

Auch Medienanfragen werden gern ans Projekt gestellt. Die meisten möchten wissen: Wie funktioniert
die Mobilisierung überhaupt? Warum sind die Menschen auf der Straße? Wie ist die Dynamik? Wer sind diese Leute? „Es sind Menschen, die eine hohe politische Enttäuschung verspüren und deshalb besonders stark auf alles Krisenhafte reagieren“, sagt Johannes Kiess, „und sie meinen zu wissen, wer schuld ist an ihren Ängsten: Die Regierung und ‚die Eliten‘. Online-Diskurse verstärken diesen Eindruck. Allerdings sind die Gruppen, die auf die Straße gehen, auch brüchig, zerfallen etwa an der Frage, wie radikal die Gruppe agieren will. Sie zerfallen, können aber jederzeit wieder zusammenkommen, wenn es einen neuen Anreiz und eine simple Losung gibt. Wie Pegida. Und Corona.“

Lehren aus dem Online-Monitoring

Und was hat das Team des Digital Reports selbst im Laufe des vergangenen Jahres gelernt? „Ich finde sehr spannend, das sich im Jahresverlauf ablesen lässt, wie sich die Themen allmählich ablösen und überlagern“, sagt Gideon Wetzel. „Als wir anfingen, war das Hauptthema Corona, dann kam der Krieg, dann die Energiekrise. Im Sommer, als nichts anderes drängte, war Zeit für Debatten über den Klimawandel, um dann wieder vom ‚heißen Herbst‘ abgelöst zu werden. Was dagegen kontinuierlich auftaucht in den Gruppen: Rassismus.“

Johannes Kiess ergänzt: „Ich habe untersuchen und verstehen können, welche große Rolle die lokalen Diskussionsgruppen auf Telegram spielen. Hier können wir sehen, dass sich die politische Öffentlichkeit mit den sozialen Medien völlig verändert hat. Die Menschen schwirren auf der Suche nach Sinn allerdings nicht irgendwo durch den digitalen Raum – sie sind durchaus verankert in ihren lokalen digitalen Gruppen und zugleich offline vor Ort. Das wirft die Frage auf: Wie kommen wir in geschlossene Räume mit dieser rechten Dominanz noch hinein – online und offline? Und was bedeutet das für unsere Demokratie?“ Um Gegenstrategien gegen die Demokratieablehnung und politische Enttäuschung zu entwickeln, können die Erkenntnisse aus den Telegram-Gruppen helfen. „Im digitalen Kleinraum gibt es ganz andere Beziehungen und Interessengemeinschaften, die bisher kaum jemand betrachtet“, sagt Gideon Wetzel. Auf den großen Kanälen werde eher gesendet und konsumiert. „In den Gruppen gibt es aber auch heterogene Meinungen, die persönlich und nicht auf Massenwirkung formuliert sind, und mehr Diskussionen. So lässt sich sehen, was die Menschen wirklich beschäftigt.“ Zumindest Teile der online organisierten Menschen können mittelfristig so doch noch erreicht werden – ein Plädoyer dafür, weiter auf kreative politische Bildungsarbeit der Zivilgesellschaft vor Ort zu setzen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Digitalreport 2023-1 des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig und der Amadeu Antonio Stiftung. Der Digitalreport betrachtet seit 2022 die Entwicklung antidemokratischer Mobilisierung und Vernetzung im Telegram-Kosmos sächsischer Coronaprotestler*innen. Den gesamten Report finden Sie hier:

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