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Neuer Digitalreport 2023-1 Sächsische Coronaproteste: Enttäuscht und radikalisiert

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Coronaprotest-Gruppen werden jetzt für flüchtlingsfeindliche, rassistische Mobilisierungen genutzt. (Quelle: Screenshot Telegram)

Seit über zwei Jahren wird in Sachsen montags protestiert und spaziert. Zunächst erzielte die Mobilisierung beflügelt durch die Empörung über die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie immer neue Erfolge.

Angesichts der Grundrechtseinschränkungen sahen sich viele geradezu verpflichtet, gegen die ihrer Meinung nach heraufziehenden diktatorischen Verhältnisse auf die Straße zu gehen. Doch eben diese Maßnahmen sind seit Frühjahr 2022 weitestgehend aufgehoben, die Maskenpflicht fiel in immer mehr Bereichen und auch von einer Impfpflicht ist nicht mehr die Rede. Die Proteste finden vielerorts zwar weiter statt, aber mit deutlich geringerem Zulauf.

Im vergangenen Sommer wurde dann ein „Wutwinter“ angekündigt, da neues Protestpotential aufgrund der durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine gestiegenen Gaspreise sowie der bereits in der Pandemie gestiegenen Lebensmittelpreise vorhanden zu sein schien. Die Corona-Proteste sollten in sogenannte Energieproteste umgewidmet werden. Doch der Wutwinter – schnell wurde der zunächst von links eingebrachte Begriff „heißer Herbst“ von extrem Rechten übernommen – blieb weitestgehend aus. Stattdessen schrumpften die Proteste. Diese Beobachtung lässt sich auf der Straße machen, sie lässt sich aber auch auf Telegram in den einschlägigen Kanälen und Gruppen nachvollziehen.

Dieser Abschnitt beleuchtet, wie online und innerhalb der Szene über die Proteste diskutiert wird, welche Unterschiede sich zwischen Kanälen und Gruppen zeigen sowie welche Erwartungen und Enttäuschungen kursieren.

Mobilisierungsversuche auf den Kanälen, Skepsis in den Gruppen

Telegram-Gruppen, die im Gegensatz zu Kanälen durch verschiedene Personen aktiv mit Inhalten gefüllt werden, zeichnen sich durch ein deutlich heterogeneres Meinungsbild aus als die von uns analysierten Kanäle. In lokalen Gruppen der Ortschaften, in denen montags nach wie vor „spaziert“ wird, werden auch weiterhin Teilnehmendenzahlen, Fotos und Videos der Proteste geteilt.

Zunehmend entflammten jedoch Diskussionen über die schwindende Beteiligung an den Protesten. Äußern sich Teilnehmende positiv über die Proteste und den Zusammenhalt, folgt meist direkt eine Entgegnung mit deutlich negativerer Einschätzung. So beklagten sich User*innen in der Gruppe Freidenker Crimmitschau im Oktober darüber, dass in der Woche nach einem Protest, zu dem eine Gruppe Trommler*innen eingeladen wurde, die Zahlen drastisch sanken. Ein Gruppenmitglied kritisierte daraufhin das mangelnde Durchhaltevermögen der von ihm als „Neuzeitpatrioten“ bezeichneten Menschen. Er unterstellte diesen, nur aufgrund des Eventcharakters, den eine musikalische Begleitung auf den Protesten verspricht, teilgenommen zu haben. Auch in einer Herrnhuter Gruppe wurde über die im September sinkende Beteiligung diskutiert. Daraufhin wurde hier die Mobilisierung und jegliche Kommunikation über regelmäßige Spaziergänge eingestellt.

Telegram-Kanäle, die von Einzelpersonen mit dem strategischen Interesse der Mobilisierung und  Berichterstattung über die montäglichen Proteste in Sachsen eingerichtet wurden, unterscheiden sich systematisch von diesen Gruppen. Die aktiven Kanäle bemühen sich alle um einen motivierten, teilweise euphemistischen Tonfall.

Es wird konsequent mobilisiert und meist werden auch Teilnehmendenzahlen genannt. Allerdings werden gerade bei sinkenden Zahlen immer wieder Formulierungen wie beispielsweise „solide vierstellig“ genutzt, vermutlich um den Optimismus aufrechtzuerhalten und nicht benennen zu müssen, dass von ehemals 8.000 Demonstrant*innen nur noch ein Bruchteil übrig ist. Auffällig ist zudem, dass auch in Kanälen, die nicht den Freien Sachsen zuzurechnen sind, für die Berichterstattung zu den jeweiligen Protesten meist Beiträge aus dem Hauptkanal Freie Sachsen geteilt werden. Diese dominieren nach wie vor die szeneinterne Berichterstattung (mit konkreten Zahlen, die nicht verifiziert werden können) und suggerieren durch immer wiederkehrende Auflistungen zahlreicher Ortschaften, in denen Proteste stattfinden sollen, dass sich der Erfolg der Proteste fortschreibt. Nicht zuletzt die Reflexionsprozesse über die Proteste innerhalb einzelner Telegram-Gruppen zeichnen jedoch ein anderes Bild.

Radikalisierung, Befindlichkeiten und Spaltung

In der Gruppe „Dresden vereint Pirnaischer Platz Montagsdemonstration“ wurde sich besonders ausführlich mit der sinkenden Beteiligung befasst. Anfang Januar wurden dort mögliche Gründe für das Fernbleiben vieler Demonstrant*innen diskutiert. Die These eines Gruppenmitgliedes, dass das Wiederaufkommen von PEGIDA, aber auch ein Querdenken-Comeback Demonstrant*innen weg von ihrem Protest und hin zu den anderen Protesten gelockt haben soll, stieß in der Diskussion auf Zustimmung.

Überwiegend wird jedoch die Auffassung vertreten, dass im Herbst die Zahlen eigentlich wieder stiegen – bis zum „Knall“, wie ein User schreibt: Die Organisator*innen des ursprünglichen Protests von „Dresden vereint“ luden im Herbst einen AfD-Politiker auf ihre Bühne ein. Dieser Auftritt hatte die endgültige Spaltung des Protests in Dresden zufolge. Im Kanal „Dresden vereint – das Original“ wird seitdem als Treffpunkt zur Torwirtschaft geladen, im Kanal „Dresden vereint“ wird zum Pirnaischen Platz mobilisiert.

Innerhalb des Organisationsteams des Dresdner Protests gab es bereits seit Sommer Konflikte. Im Statement jener „Dresden vereint – das Original“-Organisator*innen wurden Vorwürfe laut, sie wären bereits seit Monaten systematisch ausgeschlossen worden. Hinter ihrem Rücken sei ein Verein gegründet und administrative Rechte zu Social-Media-Kanälen seien ihnen entzogen worden. Diese Streitereien scheinen den allgemein beobachtbaren Abwärtstrend in Dresden tendenziell zu beschleunigen. Auch unter den, laut Selbstaussage, noch aktiven Demonstrant*innen, die sich in mehreren Telegram-Gruppen äußern, lässt sich im Verlauf weder eine Einigung noch ein Lösungsansatz erkennen, um den zersplitterten Protest wieder zu vereinen. Ein Gruppenmitglied schließt eine Diskussion darüber, wer die Verantwortung für die Teilung des Protests trage, mit dem Statement, dass alle, die sich nicht am Treffpunkt „Pirnaischer Platz“ einfinden wollen, für sie nicht Teil von „Dresden vereint“ seien.

Der Konflikt besteht demnach nicht nur innerhalb der Gruppe von Organisator*innen. Auch Demonstrant*innen halten daran fest, mit Menschen, die sich dem Protest der nun abgespaltenen Organisationsgruppe anschließen, nicht demonstrieren zu wollen. Der Streit und die Spaltung der Demonstrationsgruppen in Dresden stellen keinen Einzelfall dar. In Leipzig haben Diskussionen über Inhalte, die auf den Demonstrationen vertreten werden, wie eine Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine, dazu geführt, dass inzwischen drei unterschiedliche Demonstrationszüge montags durch die Stadt ziehen, die nicht bereit sind, sich einander wieder anzuschließen.

Unter Dresdner Demonstrant*innen herrscht Enttäuschung über die Spaltung, aber auch Ablehnung gegenüber den jeweils „Anderen“

Fehlende Beteiligung, Frust und Erklärungsversuche

Die in den Dresdner Gruppen immer wieder aufflammenden Diskussionen über die schrumpfenden Teilnehmendenzahlen fördern allerdings interessante und teilweise recht plausible Gesamteinschätzungen der Beteiligten zutage, die sich auch in Diskussionen anderer sächsischer Telegram-Gruppen wiederfinden. In verschiedenen Gruppen rund um die montags stattfindenden Proteste werden dieselben Beobachtungen mit Unmut geteilt. Ein Großteil der Demonstrant*innen, die sich bis Frühjahr2022 beteiligten, fehlt nun. Trotz der kurzfristig erfolg reichen Mobilisierung im September (unter anderem durch die Freien Sachsen) zu den Energieprotesten, die einen Auftakt für den „heißen Herbst“ darstellen sollten, blieb ebendieser heiße Herbst danach weitgehend aus.

User*innen teilen online die Wahrnehmung, die sich auch von außen aufdrängt. Bei Überlegungen, wieso die Beteiligung seit mindestens Oktober in weiten Teilen der sächsischen Protestlandschaft ausbleibt, äußert eine Userin: „Der Rest war Großteils wegen Corona da. Als die allgemeine Impfpflicht weg war waren die auch weg“. Corona, die damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen, Masken- sowie einrichtungsbezogenen Impfpflichten betrafen und mobilisierten weitaus mehr Menschen, als die steigenden Gaspreise und weitere Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine es nun tun.

Protstler*innen versuchen, Erklärungen zu finden, wieso die Beteiligung an den Protesten ausbleibt.

Innerhalb der schrumpfenden Gruppen finden sich immer wieder Beiträge, in denen sich einer radikaleren Wortwahl bedient wird und Verschwörungserzählungen verbreitet werden. Die sinkende Beteiligung an den Protesten lässt die radikalisierte Einstellung einzelner Gruppenmitglieder offensichtlicher werden.

Wenn der Großteil als Problem der letzten drei Jahre „nur“ die Coronaschutzverordnungen und den politischen Umgang mit der Pandemie im Allgemeinen sah, bleiben jetzt Demonstrant*innen übrig, die einen großen Plan hinter den geopolitischen Ereignissen der letzten Jahre wähnen. Die Frage, ob diese Radikalisierung Grund für das Fernbleiben vieler Demonstrant*innen von den Protesten ist oder ob durch das Fernbleiben die übrigen Demonstrant*innen sich in der gesellschaftlich isolierten Rolle bestätigt fühlen und darum immer radikalere Erklärungen suchen, bleibt offen: Jene, die in den Gruppen selbst Stellung dazu beziehen, wieso sie nicht mehr zu den Protesten erscheinen, nennen eher anderweitige Verpflichtungen als Gründe. Es wird hingegen keine Kritik an der Radikalisierung geübt. Aggressiver auftretende Gruppenmitglieder hingegen kritisieren häufig, dass viele nicht den Bogen zu größeren Zusammenhängen oder Verschwörungen sehen wollten, die sie hinter dem Krieg in der Ukraine, politischen Entscheidungen, die sie nicht befürworten, oder Fluchtbewegungen vermuten. Wie eine Userin, die ihren Frust über die sinkende Beteiligung mithilfe ihrer verschwörungsideologischen Problembeschreibung von „wirklichen Feinde[n] des Menschen“ und „Fremdsteuerung“, die es zu bekämpfe gelte, äußert.

„C“ fordert Zusammenhalt, um gegen die von ihr ausgemachten Feinde des Menschen, die für „Fremdsteuerung in der besten BRD“ verantwortlich seien, zu rebellieren.

Auffällig ist aber die thematische Bandbreite. Denn abgesehen von Behauptungen einer allumfassenden Verschwörung gibt es kein Thema mehr, das alle potenziellen Demonstrationsteilnehmenden gleichermaßen mobilisiert. Posts mit verschwörungsideologischen und menschenverachtenden Inhalten aus größeren Kanälen oder anderen Gruppen werden in den Diskussionen immer noch häufig geteilt.

Der Umgang mit Covid-19 und Impfungen ist nach wie vor, wenn auch nur noch vereinzelt Thema. Besprochen wird darüber hinaus der Klimaaktivismus der Letzten Generation , es gibt rassistische Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit angeblich illegaler Migration im Zuge der Fluchtbewegung aus der Ukraine und die rassistische mediale Berichterstattung über Fälle von Vergewaltigung, die ausschließlich von nicht-deutschen Männern ausgehen soll, wird ausgeschlachtet. Der immerwährende Hass auf Abgeordnete und Minister*innen, die nicht im Sinne der Protestler*innen handeln, äußert sich darin, dass sie mindestens diffamiert und lächerlich gemacht werden, wenn nicht sogar Gewalt- und Mordandrohungen gegen sie geäußert werden. So lässt sich zwar ein radikaler Kern ausmachen, der immer wieder Zustimmung erfährt, er verfügt aber nicht mehr über das eine mitreißende Thema.

Die Krise der Mobilisierung

Offenbar ist für die erfolgreiche Mobilisierung eine glaubhafte und greifbare Krise zumindest nützlich. Die Erzählung von einem sich zur Diktatur entwickelnden politischen System, einer krisenhaften Demokratie und willkürlichen Anordnungen durch „die Eliten“ gab den Menschen das Gefühl, zum Widerstand verpflichtet zu sein, und brachte sie auf die Straße. Diese Krisenwahrnehmung ist für viele offenbar nicht mehr so relevant wie noch vor einem Jahr. Dass die Szene in einer Motivations- und Mobilisierungskrise steckt, zeigt sich auch daran, dass Telegram-Kanäle und -Gruppen, deren Name direkt Bezug auf die Proteste nimmt, wie „Montagsdemo Görlitz“ oder „Spaziergänger Herrnhut“, inzwischen keine Informationen zu den Protesten mehr teilen.

Eine besorgniserregende Entwicklung bezüglich der thematischen Umwidmung dieser Plattformen ist, dass in einigen Telegram-Kanälen und -Gruppen zu asylfeindlichen Protesten gegen die Errichtung von Unterkünften für Geflüchtete mobilisiert wird. In Naunhof wurde unter dem Slogan „Naunhof protestiert“ und mit der Benennung der mutmaßlichen Herkunft der Geflüchteten, die dort untergebracht werden sollen, mobilisiert. Damit und auch anhand der Reaktion eines Gruppenmitglieds, dass er teilnehme, um „Frauen/Mädels“ zu unterstützen, wird die rassistische Motivation deutlich und das Narrativ verbreitet, dass nichteuropäische Geflüchtete eine besondere Gefahr für Frauen darstellen würden.

Die Freien Sachsen nutzen hier ihre Reichweite, um die Ankündigungen rassistisch motivierter Proteste unter die Aufforderung zu mischen, sich den montäglichen Protesten anzuschließen. Ihre Posts dazu werden zahlreich geteilt. Bekannte extrem rechte Akteure, für die die Covid-19-Pandemie eher eine Gelegenheit als ein eigenes Anliegen war, finden also zu ihren eigentlichen Themen zurück. In anderen Fällen führt die Suche nach neuen Aufregerthemen vom Ressentiment gegen Demokratie und Moderne zum Ressentiment gegen Schwache, Marginalisierte und Schutzlose, weil sich hier zumindest die vorhandenen autoritären Aggressionen ausleben lassen.

Eine ursprünglich für die Mobilisierung zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen gegründete Gruppe wird für rassistische Mobilisierung gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Naunhof genutzt.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Digitalreport 2023-1 des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig und der Amadeu Antonio Stiftung. Der Digitalreport betrachtet seit 2022 die Entwicklung antidemokratischer Mobilisierung und Vernetzung im Telegram-Kosmos sächsischer Coronaprotestler*innen. Den gesamten Report finden Sie hier:

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