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IDZ-Analyse EU-Wahlen Thüringen Rechtsextremismus? Kein Grund nicht AfD zu wählen

Die AfD-Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla bei einer Pressekonferenz nach der Europawahl. (Quelle: picture alliance/dpa | Kay Nietfeld)

Bei den Europawahlen geht in Thüringen die AfD neben dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als klare Gewinnerin hervor. Die AfD konnte ihre Stimmenanteile im Vergleich zur Europawahl 2019 um 8,2 % auf nun 30,7 % steigern und liegt damit im bundesweiten Trend der gestiegenen AfD-Ergebnisse etwa auf Höhe der anderen ostdeutschen Bundesländer (Sachsen 31,8 %, Sachsen-Anhalt 30,5 %, Brandenburg 27,5 %, Mecklenburg-Vorpommern 28,3 %).

Das BSW erreicht nur 5 Monate nach seiner Gründung 15,0 % der Stimmen. Daneben konnte keine andere Partei 1 % Zuwachs oder mehr im Vergleich zu 2019 verzeichnen. CDU (-1,5 %), SPD (-2,8 %), Grüne (-4,4 %) und insbesondere DIE LINKE (-8,1 %) haben – ganz im Bundestrend – in Thüringen verloren. Die HEIMAT (früher NPD) hat im Vergleich zu 2019 0,7 % verloren und nun 0,3 % in Thüringen erzielt.

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Die AfD konnte in allen Wahlkreisen Thüringens bei der EU-Wahl an Stimmen im Vergleich zu 2019 hinzugewinnen. Es gibt jedoch deutliche Unterschiede nach Städten und Regionen. Einerseits fallen die Ergebnisse in drei kreisfreien Städten (Jena: 14,4 %; Weimar: 18,0 %; Erfurt: 20,6 %) vergleichsweise niedrig aus und senken somit leicht den Landesschnitt. In diesen drei Städten leben jedoch nur knapp 300.000 der knapp 1,7 Millionen Thüringer Wahlberechtigten zur Europawahl. In zehn LK erhielt die AfD hingegen 33 % oder mehr. In Sonneberg erzielte sie mit 38,4 % das höchste Ergebnis in Thüringen. In acht weiteren LK liegt die AfD überdurchschnittlich zwischen 30,5 % und 32,9 %. Das Eichsfeld ist der einzige LK, in dem die AfD mit 26,9 % unter dem Landesschnitt bleibt. Die Europawahl zeigt dementsprechend kein klares Stadt-Land-Gefälle, aber ein deutliches Gefälle zwischen den drei kreisfreien Städten Jena, Weimar, Erfurt und den anderen Landkreisen und kreisfreien Städten (Gera: 33,0 %; Suhl: 31,1 %).

Das BSW konnte bei den Europawahlen in Thüringen 15,0 % erreichen. Damit hat es sich weit über dem gesamtdeutschen Ergebnis (6,2 %) platziert, liegt aber im Trend der ostdeutschen Bundesländer (12,6 % in Sachsen, 13,8 % in Brandenburg, 15,0 % in Sachsen-Anhalt, 16,4 % in Mecklenburg-Vorpommern). Das BSW hat damit die hohen Umfragewerte bestätigt und gleichzeitig aufgezeigt, dass es bei den Landtagswahlen am 1. September eine entscheidende Rolle spielen kann.

Die Einordnung der Europawahlergebnisse

Für Thüringen stehen keine spezifischen Nachwahlbefragungen zur Verfügung, die Rückschlüsse auf Wahlmotivation und die demografische Zusammensetzung von Wähler*innengruppen geben. Mit Hinweis auf die eingeschränkte Übertragbarkeit lassen sich jedoch aus den bundesweiten Nachwahlbefragungen Schlüsse für das Wahlverhalten in Thüringen ableiten:

Die kurz vor der EU-Wahl veröffentlichten „U18-Wahlen“ sorgten teils für starke Medienresonanz, da die AfD in einigen Landkreisen sehr hohe Zustimmungswerte der Jugendlichen verzeichnete. Die U18-Wahlen stehen jedoch für ihre Erhebungsmethoden in starker Kritik. Allerdings zeigen auch die Nachwahlbefragungen: Die AfD wurde zweitstärkste Partei bei den unter 25-Jährigen (16 % laut infratest dimap) und liegt mit diesem Ergebnis im bundesweiten Schnitt aller Altersgruppen (15,9 %). Bemerkenswert ist dabei vor allem der Zuwachs der Stimmenanteile bei den 16- bis 24-Jährigen. So wählten in dieser Alterskohorte 2019 nur 5 % die AfD; nun hat sich der Stimmenanteil mehr als verdreifacht auf 16 %. Bündnis 90/Die Grünen verlieren bei dieser Altersgruppe hingegen enorm und fallen von 34 % auf 11 %. Das zeigt, dass es gerade bei jungen Wähler*innen eine starke Verschiebung der politischen Präferenzen gegeben hat. Beachtenswert ist zudem, dass die Jugendlichen mit insgesamt 28 % vergleichsweise häufig „Sonstige“ Parteien wählten.

Auffällig ist, wie in vorangegangenen Wahlen, dass es deutliche Geschlechterunterschiede bei der Wahl für die AfD gibt. Bei Frauen liegt der Anteil der AfD-Wähler*innen bundesweit bei 12 %, bei Männern bei 19 %, die größte Differenz unter allen Parteien. Dieses Ergebnis kann in Zusammenhang mit den unterschiedlichen AfD-Wahlergebnissen nach ost- und westdeutschen Bundesländern gestellt werden: So fand insbesondere in der Zeit nach der Wiedervereinigung eine starke Abwanderung von jungen Frauen aus ostdeutschen ländlichen Räumen statt, die zu einem sehr stark männlich geprägten Geschlechterungleichgewicht führten, das bis heute nachwirkt. Dies erklärt natürlich nicht allein die Stärke der AfD in ostdeutschen Bundesländern, sollte aber bei der Analyse und Ursachenforschung der Wahlergebnisse unbedingt mit einbezogen werden.

Zu „wichtigsten Problemen der Europäischen Union“ (Forschungsgruppe Wahlen) und zur Frage „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die größte Rolle?“ (infratest dimap) wurden die Wähler*innen ebenfalls befragt. Bei beiden Befragungsinstituten spielten „Ukraine/Russland/Sicherheitspolitik“ 32 % und „Friedenssicherung“ 26 % die wichtigste Rolle „Flucht/Asyl/Zuwanderung“ liegt bei der Forschungsgruppe Wahlen mit 31 % knapp auf Platz 2, „Zuwanderung“ bei infratest dimap mit 17 % auf Platz 3. Vergleichsweise gering wurde „Klimawandel/Klima/Energie“ 19 % bei der Forschungsgruppe Wahlen und „Klima- und Umweltschutz“ 14 % bei infratest dimap angegeben. Das zeichnete sich bereits vor den Wahlen ab, wie eine aktuelle Analyse des Projekts Digital Awareness am IDZ Jena zeigt.

Laut infratest dimap halten bundesweit 71 % der AfD-Wähler*innen die Partei für „eine rechtsextreme Partei“ und 82 % sagen „Es ist mir egal, dass sie [die AfD] in Teilen rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen verändern will.“ Das bestätigt den oben dargestellten Befund, dass die Abschreckungsstrategie, die die AfD durch die Titulierung als „rechtsextrem/neonazistisch“ darstellt, deren Wahlergebnisse nicht schmälert.

Der letzte Befund betrifft die Wähler*innenwanderung von der AfD zum BSW. Hierbei wurde in den vergangenen Monaten häufig die These aufgestellt, das BSW könne das „Protestpotenzial“ der AfD abgreifen und derer Stimmen bekommen. Die Nachwahlbefragung lässt diesen Schluss für die Bundesebene nicht zu. Hier sind nur 4 % der BSW-Wähler*innen von der AfD zugewandert. Wesentlich mehr Stimmen konnte das BSW bundesweit von LINKE (18 %), CDU/CSU (10 %), SPD (9 %), GRÜNE (7 %) übernehmen. Diese Wähler*innenwanderung lässt sich für das Thüringer Europawahlergebnis aber nur bedingt übertragen – ebenso wenig wie auf die Landtagswahlprognose, da das BSW in Thüringen fast dreimal so viele Stimmen erhielt wie im Bundesschnitt, das BSW-Landtagswahlprogramm für Thüringen noch nicht veröffentlicht ist und vermutlich bis zur Landtagswahl einige (prominente) BSW-Mitglieder in Thüringen hinzukommen werden. Die Wähler*innen des BSW entschieden sich zu 64 % aufgrund von Bundes- statt von Europapolitik und zu 46 % aus Enttäuschung über andere Parteien für ihre Wahl. Der Aussage „Bei der Europawahl hat die Bundesregierung einen Denkzettel verdient“ stimmten entsprechend 71 % der BSW-Wähler*innen zu. Dieser Wert wird nur von den AfD-Wähler*innen (87 %) übertroffen. Bei den Wähler*innen der stärksten Oppositionspartei im Bundestag, der Union, stimmten hingegen vergleichsweise geringe 50 % zu.

Auswirkungen der EU-Wahlen

Die Ergebnisse der EU-Wahlen werden für die Menschen in Thüringen vermutlich nicht so direkt zu spüren sein wie die der Kommunalwahlen. Dennoch haben sie Auswirkungen auf die demokratische Kultur in Thüringen: Insbesondere die AfD und ihre Sympathisant*innen werden sich durch die hohe Zustimmung in Thüringen und anderen Bundesländern bestärkt sehen und diese Bestärkung in den Wahlkampf zu den Landtagswahlen am 1. September mitnehmen.

Die bundesweite Aufmerksamkeit vor der Europawahl lag vor allem bei der AfD und den Bestechungsskandalen um die beiden Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron, die am Montag nach der Europawahl zum Ausschluss Krahs aus der AfD-Delegation im Europaparlament führten. Ein Nebeneffekt dieser Skandale ist der Bedeutungsgewinn René Austs. Dieser ist aufgrund des Auftrittsverbots von Krah und Bystron vom Listenplatz drei zum De facto-Spitzenkandidaten der AfD vor der Europawahl und zum Delegationsführer der AfD nach der Europawahl aufgestiegen. Aust ist Thüringer Vize-Landesparteichef der AfD, bisher Landtagsabgeordneter und gilt als Vertrauter Björn Höckes. Mit Aust als AfD-Delegationsführer im Europaparlament gelangen der Thüringer Landesverband und auch Björn Höcke somit zu mehr Einfluss. Es wird interessant sein zu sehen, inwiefern sich der Sitz von René Aust im EU-Parlament in Thüringen widerspiegelt. So gehen mit dem Parlamentssitz Ressourcen, Aufmerksamkeit und eine wahrgenommene Legitimation einher, die der AfD im Wahlkampf zu den Landtagswahlen in Thüringen zuträglich sein könnten.

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Daneben hat die Europawahl verdeutlicht, dass die AfD elektorale Erfolge erzielen kann – trotz diverser Skandale, Problematisierungen und enormen Medienecho. Das weist auf eine große, mittlerweile gefestigte Stammwähler*innenschaft hin. Der Vergleich der Ergebnisse der Europawahlen in den ostdeutschen Bundesländern zeigt, dass die Erfolge der AfD nicht allein über das Agieren der Landesregierungen und Ministerpräsident*innen zu erklären sind. Beispielsweise vertritt in Sachsen Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) beim zentralen Thema für die Wähler*innen, der Friedenspolitik (siehe oben), einen deutlich anderen Kurs als Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) in Thüringen. Zu einem geringeren AfD-Wahlergebnis hat dies bei der Europawahl nicht geführt.

Bedeutung der Ergebnisse für die Landtagswahlen

Die Ergebnisse der Europawahl in Thüringen lassen sich nur bedingt auf die Landtagswahl übertragen. Die Wahlergebnisse beeinflussen nicht nur andere Konkurrenzverhältnisse durch Parteien, die nicht auf allen parlamentarischen Ebenen antreten, andere inhaltliche Themensetzungen sowie die Popularität konkreter Kandidat*innen („Ramelow-Effekt“). Politische Verhältnisse können sich außerdem schnell ändern und es wäre falsch, nun einer deterministischen Annahme zu verfallen. Gleichwohl geben die EU-Wahlergebnisse eine Orientierung für die Wahl am 1. September. Auch decken sich die Ergebnisse, insbesondere der AfD und des BSW, erstaunlich mit den jüngsten Umfragewerten zu den Landtagswahlen in Thüringen. Daher lassen sich einige Rückschlüsse ziehen:

  • Die rechtsextreme AfD wird trotz diverser Skandale, großer Medienaufmerksamkeit und der Einordnung als rechtsextrem bzw. rechtsextremistisch in Thüringen flächendeckend gewählt. Ferner scheint die Mobilisierung der demokratischen Zivilgesellschaft AfD-Wähler*innen nicht zu demobilisieren.
  • Die AfD hat realistische Chancen, nach dem 1. September über ein Drittel der Landtagssitze einzunehmen. Das ist auch mit weniger als 33,3 % der Stimmenanteile möglich, wenn andere Parteien die 5-Prozent-Hürde nicht passieren. Wenn eine Partei über eine solche Sperrminorität verfügt, kann sie starken Einfluss auf verschiedene demokratische Verfahren nehmen bzw. diese blockieren.
  • Die Nachwahlbefragungen auf Bundesebene haben gezeigt, dass das BSW als Hoffnungsträger*in für von den etablierten Parteien Enttäuschte fungiert. Das BSW hat somit im September gute Chancen, eine relevante Größe im Thüringer Landtag zu werden. Dadurch verschieben sich die Möglichkeiten der Koalitionsbildung. Wie zum Beispiel Martin Debes hervorhebt, wäre eine „Mehrheitsregierung aus CDU, BSW und SPD“ auf Grundlage der EU-Wahlergebnisse „rechnerisch möglich“.
  • Bündnis 90/DIE GRÜNEN und die FDP könnten hingegen unter 5 % landen und damit nicht mehr im Landtag vertreten seien. Die LINKE hat ebenfalls starke Stimmenverluste bei den EU-Wahlen zu verzeichnen.

Prognosen für die Landtagswahlen sind dennoch sehr vage, da bspw. das BSW sein Wahlprogramm noch nicht veröffentlicht und die Aufnahme von (prominenten) Mitgliedern erst begonnen hat. Außerdem ist die Werteunion mit ihrem prominentesten Vertreter Hans-Georg Maaßen bei der Europawahl nicht angetreten und somit ist nicht abschätzbar, wie sie die Stimmenverteilung bei den Landtagswahlen beeinflussen wird.

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