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IDZ-Analyse Thüringen Stichwahlen ohne AfD-Bürgermeister*innen und Landrät*innen

(Quelle: picture alliance/dpa | Martin Schutt)

In den Stichwahlen zu den Landrats- und Bürgermeister*innenwahlen konnten die Kandidat*innen rechtsextremer Parteien und Bündnisse keinen Erfolg verzeichnen. Die AfD hat damit ihr Minimalziel für die Stichwahlen am 9. Juni verfehlt. Robert Sesselmann bleibt im LK Sonneberg der einzige Landrat der AfD bundesweit. Auch bei den Bürgermeister*innen-Stichwahlen in Apolda und Zeulenroda-Triebes unterlagen die zwei AfD-Kandidaten.

Die CDU geht als klare Gewinnerin aus den Stichwahlen hervor. So gewannen alle Stichwahlkandidat*innen am 9. Juni ihre jeweiligen Entscheide. Bemerkenswert ist dabei, dass Andreas Horn (CDU) Andreas Bausewein (SPD) nach 18 Jahren als Oberbürgermeister der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt ablösen konnte. In den weiteren Stichwahlen gewannen Kandidat*innen der SPD (2), der Freien Wähler (2), der FDP (1) sowie eine Einzelkandidatin. Alle nachfolgenden Zahlen entstammen dem vorläufigen Ergebnis laut Landeswahlleiter vom 10.06.2024.

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Trotz der Niederlagen der extrem rechten Kandidat*innen zeigt sich jedoch erneut die Verschiebung der politischen Verhältnisse in Thüringen: Alle Kandidat*innen rechtsextremer Bündnisse und Parteien haben Stimmen vom 1. Wahlgang zur Stichwahl hinzugewonnen. Am geringsten fiel der Zuwachs im Landkreis (LK) Sömmerda aus: Hier konnte Stefan Schröder (AfD) in der Stichwahl immerhin 941 Stimmen mehr erlangen als im ersten Wahlgang am 26. Mai. Den stärksten Zuwachs verzeichnete Christian Bratfisch (AfD) im Saale-Holzland-Kreis, der sich von 11.797 auf 17.457, also um 5.660 Stimmen steigern konnte. Im Fokus der bundesweiten Berichterstattung stand zudem die Stichwahl im LK Hildburghausen, da hier der bundesweit bekannte und bekennende Neonazi Tommy Frenck (Bündnis Zukunft Hildburghausen) in die Stichwahl kam. Dieser konnte seine Stimmen von 8.422 auf 10.331 Stimmen steigern, auch wenn er am Ende Sven Gregor unterlag, dem Kandidaten der Freien Wähler-Landkreis Hildburghausen. Im Kreistag von Hildburghausen wird Frenck allerdings in den nächsten fünf Jahren wie bereits in der Vergangenheit einen Sitz innehaben.

Die Einordnung der Stichwahlergebnisse

Auch wenn die Stimmenzuwächse der Kandidat*innen rechtsextremer Parteien und Bündnisse nicht zum Gewinn der Stichwahlen reichten, zeigen sie, dass diese eine erfolgreiche Wähler*innenmobilisierung betrieb haben. Und das trotz der Tatsache, dass die Wahlbeteiligung bei allen Stichwahlen am 9. Juni leicht gesunken ist – anders als bei den zurückliegenden Oberbürgermeister- bzw. Landratswahlen im LK Sonneberg, in Nordhausen und im Saale-Orla-Kreis.

Der Fokus der Öffentlichkeit und eine demokratische Mobilisierung scheinen in diesem Sinne nicht gewirkt zu haben. Beispielhaft dafür steht der LK Hildburghausen, der in den vergangenen zwei Wochen ähnliche Aufmerksamkeit erfuhr wie Sonneberg oder Nordhausen und wo zwischen erstem Wahlgang und Stichwahl noch einmal eine zivilgesellschaftliche Demonstration mit 500 Teilnehmenden stattfand. Dennoch erlangte Tommy Frenck (BZH) bei nur 0,5 % geringerer Wahlbeteiligung 1.909 Stimmen mehr als im ersten Wahlgang. Insgesamt war im Verhältnis zu den vorangegangenen Stichwahlen, insbesondere in Nordhausen und im Saale-Orla-Kreis, eine relativ geringe demokratische Mobilisierung in den Landkreisen wahrzunehmen. Auch negative Schlagzeilen, beispielsweise die Strafanzeige gegen Heiko Philipp (AfD) in Altenburg eine knappe Woche vor den Stichwahlen, konnte nichts an einem verhältnismäßig knappen Wahlausgang ändern. Des Weiteren konnte die Strategie, die Kandidat*innen als rechtsextrem bzw. neonazistisch einzuordnen, deren Stimmenanteile offenbar nicht senken. Trotzdem ist diese Einordnung weiterhin notwendig, um den Selbstverharmlosungsversuchen und der weiteren Normalisierung dieser Parteien und Bündnisse entgegenzuwirken.

Ein weiterer wichtiger Befund ergibt sich aus dem Vergleich der absoluten Stimmen für die AfD in den Stich- und Europawahlen in den einzelnen Landkreisen: Teilweise konnten die AfD-Kandidat*innen in den Stichwahlen deutlich mehr Stimmen verzeichnen, als die AfD im selben Landkreis in der Europawahl bekam. Im Eichsfeld bspw. nahmen 622 Personen weniger ihr Wahlrecht zur Landratswahl wahr als zur Europawahl, doch Marcel König (AfD) erhielt 1.330 Stimmen mehr als die AfD zur Europawahl. Im Wartburgkreis war dieser Unterschied sogar noch deutlicher: Hier gingen zur Landratswahl 945 Personen weniger wählen als zur Europawahl, Uwe Krell (AfD) erhielt jedoch 2.843 Stimmen mehr als die AfD zur Europawahl. Auch in allen anderen Landkreisen erhielten die Landratskandidat*innen der AfD mehr Stimmen als ihre Partei für die Europawahl, teilweise ist dies jedoch durch unterschiedliche Anzahlen von Wahlberechtigten und Wähler*innen für die Landratswahl erklärbar.

Der Befund zeigt deutlich, dass das ohnehin schon sehr hohe Landesergebnis der AfD bei der Europawahl nicht das volle Potenzial an Wähler*innen ausschöpft, die bereit sind, der AfD oder ihren Kandidat*innen die Stimme zu geben. Denn offensichtlich gibt es Wähler*innen, die AfD-Kandidat*innen gewählt, aber sich nicht für die AfD in der Europawahl entschieden haben. Dies widerspricht der These, dass die AfD-Kandidat*innen schwächer abschnitten als die Partei insgesamt. Da keine Nachwahlbefragungen zu den Stichwahlen oder thüringenspezifische Auswertungen der Nachwahlbefragungen zur Europawahl vorliegen, lässt sich allerdings keine Aussage darüber treffen, welche Parteien die Stimmen erhielten, die die AfD in den LK bei der Europawahl weniger bekam als die AfD-Kandidat*innen bei den Stichwahlen.

Auswirkungen der Stichwahlen

Auch wenn extrem rechte Parteien und Bündnisse nach den Stichwahlen keine weiteren Bürgermeister*innen und Landrät*innen stellen, lässt sich eine weitere und immer deutlichere Verschiebung der politischen Stimmenverhältnisse nach (extrem) rechts feststellen. Insbesondere die AfD konnte ihre Zustimmungswerte flächendeckend ausbauen und bei der EU-Wahl den größten Stimmenanteil in Thüringen erreichen. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass die demokratische Kultur in Thüringen massiv beschädigt ist und menschenverachtende und demokratiefeindliche Positionen eine Normalisierung erfahren, geteilt und legitimiert werden.

Über die neuen Sitzverhältnisse in den kommunalen Parlamenten können extrem rechte Parteien und Bündnisse noch stärker ihre Themen einbringen und inhaltlich Druck auf andere Parteien und Bündnisse ausüben; eine parlamentarische Zusammenarbeit ohne Einbezug der AfD wird schwerer und erfordert eine klare Abgrenzung. Die Auswirkungen der Wahlergebnisse werden sich in Thüringen vor allem auf den folgenden vier Ebenen zeigen:

  • in kommunalen Parlamenten und Verwaltungsbehörden sowie bei kommunalen Beauftragten (z. B. für Gleichstellung, Integration und Jugend)
  • bei professionellen Demokratieförderstrukturen, -organisationen und -projekten (z. B. den lokalen Partnerschaften für Demokratie) und Beratungsstellen (z. B. für Betroffene rechter Gewalt oder Antidiskriminierung)
  • bei demokratischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Bündnissen, Selbstorganisationen und Interessensvertretungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen (z. B. Migrant*innen, LSBTIQ*-Personen, Menschen mit Behinderung)
  • bei allen Menschen, die nicht in ein extrem rechtes Weltbild passen bzw. gegen deren Interessen extrem rechte Parteien und Bündnisse Politik machen (wollen) (z. B. arme und arbeitslose Menschen, Geflüchtete, gegen extrem rechts engagierte Menschen)

Wie rechtsextreme Parteien und Bündnisse einerseits versuchen können, demokratische Verfahren und Verwaltungsabläufe zu verlangsamen und einzuschränken, haben wir in unserer Kurzanalyse zu den Kommunalwahlen am 26. Mai 2024 ausführlicher beschrieben. Dort gehen wir u.a. darauf ein, dass Personen sich durch die Wahlergebnisse nun in ihren menschenfeindlichen Haltungen bestätigt sehen können und die Gefahr von Bedrohungen und Angriffen gegen die oben genannten Gruppen und Personen weiter steigt. Die Wahlergebnisse führen folglich zu massiven Verunsicherungen und Ängsten bei vielen in Thüringen lebenden Menschen und beeinflussen schlussendlich das alltägliche Zusammenleben im Freistaat. Kommunikationsformen und das demokratische Miteinander verändern sich; es entstehen Diskriminierungs-, Bedrohungs- und Angsträume.

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Wie oben beschrieben, hielten die prodemokratischen Mobilisierungsversuche Wähler*innen offensichtlich nicht davon, extrem rechte Parteien und Kandidat*innen zu wählen. Allerdings können sie Menschen für die Wahl demokratischer Kandidat*innen bestärkt haben. Zudem vernetzten die Kampagnen und Demonstrationen verschiedene demokratische Akteur*innen und schafften landes- und teilweise sogar bundesweite Aufmerksamkeit für die Situation vor Ort. Insofern bilden sie wichtige demokratische Möglichkeitsräume, die auch über die Wahlen hinaus genutzt und ausgebaut werden können.

Die neu gewählten demokratischen Landrät*innen und Bürgermeister*innen sehen sich nun landesweit großen Fraktionen der AfD in den Kreis-, Stadt- und Gemeinderäten gegenüber. Dazu kommen weitere extrem rechte Parteien und Bündnisse. Zudem ist eine Vielzahl an Wähler*innenbündnissen in diesen Gremien vertreten, bei denen oftmals noch nicht klar ist, ob und inwiefern sie sich von extrem rechten Positionen und Akteur*innen abgrenzen werden. Für eine demokratische und menschenrechtsorientierte Politik wird es entscheidend sein, dass alle demokratischen Parteien und Bündnisse jegliche Zusammenarbeit mit extrem rechten Strukturen beenden und keine neuen Formen der Zusammenarbeit aufnehmen.

Dass das eine große Herausforderung sein wird, zeigt das Beispiel des Saale-Holzland-Kreises: Der neugewählte Landrat Johann Waschnewski (CDU) lehnte vor den Kommunalwahlen „Brandmauern“ im LK ab und sagte in einem Interview: „Im Kreistag werden Entscheidungen für das Gemeinwohl getroffen, da geht es nicht um Brandmauern. Die Kreisverwaltung muss mit allen Fraktionen zusammenarbeiten. Ich finde es richtig, dass sich alle Fraktionen in den kommunalen Gremien einbringen. Dabei muss die Sacharbeit im Vordergrund stehen.“ Nun steht bereits am 19. Juni eine lange und hitzige debattierte Entscheidung im Kreistag an: ein Vergabebeschluss für einen geplanten Verwaltungsneubau von ca. 30 Millionen Euro. Der bisherige Kreistag konnte sich nicht einigen. Waschnewski und die CDU-Fraktion, die nur 13 der 46 Kreistagssitze innehaben, müssen folglich nach Mehrheiten suchen. Rein rechnerisch böte sich dabei eine Zusammenarbeit mit der Kreistagsfraktion der AfD (12 Sitze) an – alle anderen Fraktionen verfügen über fünf Sitze oder weniger. Die bisherige AfD-Fraktion inkl. des AfD-Landratskandidaten haben sich bisher nicht klar zum Neubau geäußert und könnten der CDU für die Zustimmung zum Neubau Kompromisse bei anderen Fragen abringen. Doch auch wenn die Suche nach Mehrheiten eine große Herausforderung darstellt, ist eine klare Abgrenzung von rechtsextremen Parteien und Bündnissen auch bei sogenannten „Sachthemen“ entscheidend, um deren Positionen und Ideologie nicht weiter zu normalisieren.

Neben der klaren Abgrenzung ist ein aktives Einstehen für den Erhalt demokratischer Institutionen und (Diskurs-)Räume notwendig. Die demokratischen Amtsträger*innen in den Landkreisen wurden auch von Personen gewählt, die entgegen ihrer eigenen Parteipräferenz abstimmten, um rechtsextreme Gegenkandidat*innen zu verhindern. Mit diesen Wahlen ist somit ein Auftrag für eine pluralistische Politik verbunden, die sich nicht von extrem rechten Akteur*innen vorantreiben lässt, sondern eigene Inhalte und Themen bürger*innennah und partizipativ entwickelt.

 

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