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Innenministerkonferenz Auch eine richtig gestellte PMK heilt nicht den deutschen Antisemitismus-Diskurs

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Symbolbild, Dezember 2020, veröffentlicht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 2.0 (Quelle: flickr.com/ txmx2)

In Deutschland ist Antisemitismus vor allem eins: Das Problem der Anderen. Von links wird auf Polizeistatistiken verwiesen, die für antisemitische Vorfälle fast nur rechtsextreme Täterschaft registrieren. Für Rechte wiederum ist völlig klar, dass Linke oder „der Islam“ für Antisemitismus verantwortlich sind. Sie können sich nicht zuletzt auch auf Befragungen von Betroffenen stützen. Die politische Mitte sieht Antisemitismus als Problem der Ränder, die Ränder betonen antisemitische Einstellungen der Mitte.

Die Lösung des Disputs scheint offensichtlich: Statistiken. Im Diskurs ist die Hoheit über die Zahlen das finale Ass im Ärmel. Wer kann sie schon anzweifeln? Fakten, schwarz auf weiß? Wer sie infrage stellt, wird sofort der ideologischen Argumentation bezichtigt, die nichts mit der Realität zu tun habe. Allerdings kann tatsächlich jede Partei mindestens eine Statistik zu Antisemitismus hervorholen, die den eigenen Standpunkt untermauert. Denn so vielschichtig Antisemitismus als Phänomen ist, so kompliziert ist auch seine Erfassung.

Am Montag wurde ein Vorstoß der Innenminister Baden-Württembergs und Nordrhein-Westfalens bekannt: Die Erfassung von Antisemitismus im Rahmen der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) soll überarbeitet werden. Die Kriminalstatistik zur PMK liefert die wahrscheinlich bekanntesten Zahlen, sie stammen ja immerhin von offizieller Seite. Mehr sogar, sie galt lange als einzig wirklich belastbare Messbarmachung von Antisemitismus, da die Einordnung antisemitischer Straftaten in Phänomenbereiche wie „rechts“, „links“ oder „ausländische Ideologie“ systematisch nach klar definierten Kriterien erfolge.

Doch die PMK-Statistik hat ein Problem, auf das nun auch jene beiden Innenminister mit ihrer jüngsten Bemühung aufmerksam machen: Denn es ist schon lange bekannt, dass erfasste antisemitische Straftaten, bei denen die Täterschaft nicht klar in die Phänomenbereiche zuzuordnen war, regelmäßig von Beamt:innen einfach der Kategorie „rechts“ zugeordnet wurden. Welcher Anteil aller Vorfälle dadurch wirklich falsch zugeordnet wurde, ist nicht bekannt. Grundsätzlich ist aber eine Überschätzung rechter Täterschaft Fakt. Das Ergebnis: 2019 hatten laut PMK 93,4% der antisemitischen Straftaten rechtsextremistischen Hintergrund. Zu dieser Problematik werden schon seit Jahren Stellungnahmen veröffentlicht, Texte verfasst und die Politik angerufen. Passiert war bisher nichts.

Auf der nächsten Sitzung der Innenministerkonferenz am 16.06.2021 soll nun auf Initiative von BaWü und NRW die Anweisung zur Erfassung umformuliert werden. Die simple Änderung, die eigentlich keines Lobes verdient, sondern selbstverständlich ist: Taten sind konsequent in die Kategorie „nicht zuzuordnen“ einzuteilen, wenn keine klaren Umstände die Identifizierung der Täter:innen ermöglichen. So trivial diese Änderung erscheinen mag, umso mehr wäre sie in der Praxis also ein wichtiger Schritt, da sie der Verzerrung der zentralen statistischen Erfassung zu Antisemitismus in Deutschland entgegenwirken würde.

Klar ist, dass auch andere Erfassungsmethoden ihre Schwierigkeiten haben: Niederschwellige Meldestellen wie RIAS wurden mit dem Ziel initiiert, alltäglichen Antisemitismus offenzulegen. Judenfeindschaft beginnt eben schon vor der strafrechtlich relevanten Schwelle und sollte auch auf dieser Ebene erfasst und abgebildet werden. Probleme bei dieser Art der Erfassung sind personelle Unterbesetzung, die intensives aktives Monitoring verunmöglichen, aber auch eine in manchen Regionen extrem hohe, in manchen dafür niedrige Melde- und Fallzahl, was eine Analyse der Zahlen oftmals schwierig macht. Zudem fehlen in einigen Bundesländern bislang noch Meldestellen. Ein Dunkelfeld bleibt also auch hier bestehen.

Ebenfalls beliebt zur Messbarmachung von Antisemitismus sind Einstellungsstudien wie die in Deutschland bekannten „Mitte-Studien“. Diese lieferten zuletzt ein interessantes Ergebnis: Antisemitische Einstellungen seien auf dem Rückzug. Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 stellt langfristig einen starken Rückgang der Zahl von Befragten mit „geschlossen antisemitischem Weltbild“ von 9,3% anfang der 2000er auf 4,5% 2018 fest. Auch die Neuauflage 2020 erörterte einen “Rückgang antisemitischer Einstellungen” (bei gleichzeitiger Zunahme antisemitischer Gewalt). Dem Tenor von Medien und Politik widerspricht das diametral.

Deshalb ist es gut, noch eine vierte Art der Statistik hinzuzuziehen: Befragungen von Betroffenen ermöglichen den Wechsel zur eigentlich relevanten Perspektive, die wiederum eindeutig ist: Über 80% der Jüdinnen:Juden gaben in einer EU-weiten Studie an, dass Antisemitismus als Problem zugenommen habe. Daneben ist noch eine Erkenntnis sichtbar: Am häufigsten wurden Täter:innen als arabisch beschrieben und der erfahrene Antisemitismus als muslimisch oder auf Israel bezogen klassifiziert. Auch eine Umfrage der Universität Bielefeld zeigt dieses Bild: Opfer von Antisemitismus benennen als arabisch wahrgenommene Täter:innen als größte Gruppe, noch weit vor Rechts- und Linksextremist:innen. Das widerspricht wiederum allen zuvor genannten Statistiken.

Und hier beginnt neben der Vielzahl an Messbarmachungen, die alle verschiedene Probleme bei ihrer Methodik aufweisen, ein zentraler Haken. Der hat weniger mit Statistiken zu tun, sondern mit deren Nutzung in der Debatte. Denn in den letzten Tagen und Wochen hat sich wiederholt offenbart, dass für die nichtjüdische deutsche politische Auseinandersetzung Antisemitismus nicht mehr als ein Vehikel ist. Er ist der Spielball, der mit ebenso großer Inbrunst wie Unkenntnis durch Twitter geschlagen wird. Die herausgesuchten Zahlen als Schläger, das positive Echo der eigenen Blase als Punktgewinn. „Konservative antisemitisch? Das kann gar nicht sein, Antisemitismus ist doch eindeutig importiert.“ – „Linke antisemitisch? Das kann gar nicht sein, der Antisemitismus von rechts ist offensichtlich der virulenteste.“

Die für manche Diskutant:innen scheinbar ausweglose Frage nach dem eigentlich relevanten Antisemitismus und nach der richtigen Statistik lässt nicht nur jede inhaltliche Qualität erodieren, die die deutsche Antisemitismusdebatte 2021 vielleicht noch innehatte. Sie ist auch wenig zielführend, weil die Frage eine Dichotomie eröffnet von einem Antisemitismus, der es wert ist, ihn zu bekämpfen und einem Antisemitismus, der ja eigentlich „gar nicht so groß“ sei.

Vor allem ist diese Diskussion ein perfides Spiel auf dem Rücken aller Jüdinnen:Juden, die tagtäglich Feindschaft gegenüber ihrer schieren Existenz erleben. Sie ist ein Ausnutzen von Anfeindungen und Gewalttaten zur Selbstlegitimierung und Schuldabwehr, ohne inhaltliche Denkarbeit leisten zu müssen. Und diese Art der Debatte ist am Ende das weitaus größere Problem, als die Frage nach sinnvoller Messbarmachung von Antisemitismus.

Ein guter erster Schritt ist, sich bewusst zu machen, welche Methodik dabei welche Probleme haben könnte und ob Zahlen tatsächlich nicht auch manchmal verzerren. Grundsätzlich ist es aber an der Zeit, aufzuhören, Antisemitismus konstant als ein Problem der Anderen zu sehen und ihn als argumentativen Gebrauchsgegenstand, anstatt als gesamtgesellschaftliches und wandelbares Phänomen in verschiedenen Ausprägungen anzusehen – das wäre der notwendige zweite Schritt.

 

Das Titelfoto wird veröffentlicht unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 2.0.

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