Die Zahl rechtsextrem motivierter Straftaten ist 2020 um 5,1 Prozent, die Zahl der Gewalttaten um 10,6 Prozent gestiegen. Das geht aus dem neuen Bericht des Bundesamt für Verfassungsschutz für 2020 hervor, den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, am Dienstag, den 15. Mai in Berlin vorstellten. Hinzu kommen zwei versuchte Tötungsdelikte und ein vollendetes – damit ist der rechtsterroristische Hanau-Anschlag gemeint, bei dem im Februar 2020 neun Menschen aus rassistischem Motiv ermordet wurden. 2019 waren es 5 versuchte und 2 vollendete Tötungsdelikte.
Insgesamt wurden 2020 23.604 Straftaten der Kategorie „Politisch-motivierte Kriminalität – rechts“ zugeordnet, im Vergleich zu 22.342 im Jahr 2019. Fast alle (22.357) wurden von den Behörden mit einem „rechtsextremistischen Hintergrund“ erfasst. Die Zahl der „Propagandadelikte“ ist von 14.247 im Vorjahr auf 13.659 gesunken. Dafür ist die Zahl der Gewalttaten gestiegen: Von 986 auf 1.092.
300 Prozent mehr rechte Brandstiftungen
Zu diesen Gewaltdelikten zählen vor allem Körperverletzungen (82,3 Prozent), doch die Zahl der Brandstiftungen ist 2020 rasant gestiegen: 2019 waren sechs Brandstiftungen erfasst, letztes Jahr waren es 25 – oder 300 Prozent mehr. Auch die Zahl rechtsextremer „fremdenfeindlicher“, also rassistischer Gewalttaten ist mit 746 Delikten gestiegen – um 7,3 Prozent im Vergleich zu 2019. Bei 690 dieser Delikten ging es um Körperverletzung. Noch größer war der Anstieg von rechtsextrem motivierten Straftaten mit einem antisemitischen Hintergrund – von 1.844 im Vorjahr auf 2.173, also um 17,8 Prozent. Die Zahl der Gewaltdelikte mit einem antisemitischen Hintergrund hingegen sank um 14,3 Prozent auf insgesamt 48 Delikte.
Aus dem Spektrum der „Reichsbürger:innen“ und „Selbstverwalter:innen“ blieben die Zahlen zu politisch motivierten Straftaten relativ konstant: 2020 wurden 772 (2019: 675) politisch motivierte Straftaten erfasst, von denen 599 (2019: 589) als „extremistisch“ eingeordnet wurden und 125 Gewalttaten (2019: 121) waren. Dazu zählten vor allem Erpressungs- (78) und Widerstandsdelikte (30). 37 der Straftaten aus diesem Spektrum wurden als antisemitisch eingeordnet.
33.300 Rechtsextreme zählt der Verfassungsschutz
2020 soll auch die Zahl der Rechtsextremen gestiegen sein: 33.300 zählt nun der Verfassungsschutz nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften – ein Anstieg von 1.220 Rechtsextremen im Vergleich zu 2019. Davon sollen 13.300 „gewaltorientiert“ sein, 300 mehr als im Vorjahr.
Rechtsextreme Parteien
Unter den rechtsextremen Parteien konnte 2020 nur die neonazistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ profitieren: mit 20 neuen Personen laut Verfassungsschutz hat die Partei nun rund 600 Mitglieder. 2020 konnte die Partei ihre Strukturen festigen und eröffnete ein neues Parteibüro im nordrhein-westfälischen Siegen. „Die Rechte“ bleibt konstant bei 550 Mitglieder, die NPD hingegen verliert weiterhin an Bedeutung für die Szene: 2020 wurden 3.500 Personen der rechtsextremen Partei zugeordnet, 2019 waren es 3.600 und 2016 noch 5.000 Mitglieder.
Unter „Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien“ zählt der Verfassungsschutz ungeändert 8.600 Personen – hier werden unter anderem Mitglieder der „Jungen Alternative“ (JA), der Jugendorganisation der AfD, sowie des inzwischen offiziell aufgelösten rechtsextremen „Flügel“ innerhalb der Alternative für Deutschland gezählt. Der Verfassungsschütz rechnet nach Eigenaussagen der Partei mindestens 20 bis 30 Prozent der AfD-Mitglieder dem „Flügel“ zu, die weiterhin in der Gesamtpartei aktiv sind.
Neu im Bericht: die sogenannten „neuen Rechten“
Den größten Anstieg gibt es in der Kategorie „parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen“ mit 7.800 Personen (2019: 6.600). Dazu zählt der Verfassungsschutz die insgesamt 1.000 rechtsextremen „Reichsbürger:innen“ und „Selbstverwalter:innen“ in festen Strukturen. Insgesamt geht der Verfassungsschutz allerdings von 20.000 „Reichsbürger:innen“ und „Selbstverwalter:innen“ aus (2019: 19.000), 2.000 von ihnen sollen „gewaltorientiert“ sein. In dieser Oberkategorie werden auch Personen aus dem Umfeld von „Ein Prozent e.V.“ (Verdachtsfall), der „Identitären Bewegung Deutschland“, dem „Institut für Staatspolitik“ (Verdachtsfall) und Compact Magazin (Verdachtsfall) erfasst, die alle vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Im neuen Bericht werden die sogenannten „neuen Rechten“ zum ersten Mal überhaupt aufgeführt.
Die größte Gruppe im Bericht bleibt allerdings laut Verfassungsschutz weiterhin „Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial“: 2020 waren 13.700 Personen dieser Kategorie zugeordnet, im Vergleich zu 13.500 2019. Hierzu zählt zum Beispiel 1.000 unorganisierte rechtsextreme Reichsbürger:innen“ und „Selbstverwalter:innen“.
Nazis in der Pandemie
2020 hinterließ die Covid-19-Pandemie auch in der rechtsextremen Szene Spuren: Zwar stieg die Zahl der „von Rechtsextremen maßgeblich beeinflussten Kundgebungen“ um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – doch die Teilnehmer:innenzahl sank mit rund 14.640 um 30 Prozent. Der Verfassungsschutz erwähnt zwar in seinem Bericht, dass Rechtsextreme an Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen teilgenommen haben, die die Sicherheitsbehörde als „weit überwiegend demokratische Proteste“ bezeichnet. Ob hierzu aber auch Proteste aus dem verschwörungsideologischen „Querdenken“-Spektrum gezählt werden, an denen Rechtsextreme immer wieder zahlreich teilnahmen und mitprägten, ist unklar.
Rechtsextreme Kampfsportevents, wie der „Kampf der Nibelungen“, der zum Höhepunkt 2018 rund 850 Menschen mobilisieren konnte, fiel 2020 pandemiebedingt aus, doch bereits im Vorjahr wurde die Veranstaltung behördlich untersagt. Von den großen Rechtsrock-Festivals war 2020 nichts zu hören: Laut Verfassungsschutz fanden keine Musikveranstaltungen aus dem Spektrum „mit einer hohen dreistelligen oder gar vierstelligen Teilnehmerzahl“ statt. 2017 konnte „Rock gegen Überfremdung“ noch rund 6.000 Nazis aus ganz Europa nach Themar in Thüringen locken. Aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen konnten 2020 aber nur 141 Rechtsrock-Konzerte stattfinden, im Vergleich zu 311 im Jahr 2019.
Was nicht drin steht
Was im Bericht des Verfassungsschutzes fehlt: Eine detaillierte Erfassung von den demokratiefeindlichen und zutiefst antisemitischen Protesten aus dem „Querdenken“-Spektrum und die genaue Rolle der extremen Rechten. Auch eine statistische Analyse des Phänomens Rechtsterrorismus im Online-Bereich wäre bitter nötig: Denn immer mehr Rechtsextreme organisieren sich international und weitgehend anonym in informellen Chatgruppen und Online-Foren – und stellen eine ernstzunehmende Gefahr dar, wie die Anschläge von Halle über Christchurch bis Utøya schmerzhaft zeigen.