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Israels radikale Rechte Von den Siedlungen in die Knesset

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Ein Unruhestifter am rechten Rand: Itamar Ben-Gvir
Ein Unruhestifter am rechten Rand: Itamar Ben-Gvir (Quelle: picture alliance/EPA/Abir Sultan)

Die Explosionen an zwei Bushaltestellen in Jerusalem in den frühen Morgenstunden am Mittwoch rufen für viele Israelis Erinnerungen an die zweite Intifada wach. Terror in dieser Intensität hat es lange nicht mehr gegeben: Die Nagelbomben töteten den 15-jährigen Yeshiva-Studenten Aryeh Schupak, 22 weitere Pendler*innen wurden verletzt, manche schwer. Ein 50-Jähriger ringt noch um sein Leben auf der Intensivstation. Die israelische Gesellschaft trauert, die Hamas jubelt. Für die radikale Rechte im Land, die aus der letzten Wahl am 1. November erstarkt hervorging, ist es eine Chance.

Kurze Zeit nach dem Anschlag steht der rechtsradikale Politiker Itamar Ben-Gvir an einem der Tatorte. „Wir müssen so schnell wie möglich eine Regierung bilden“, sagt der leidenschaftliche Redner in die Kameras, „der Terror wird nicht warten.“ Auch das Rechtsaußen-Knessetmitglied Bezalel Smotrich gibt vor Ort ein Statement ab: „Der mörderische arabische Terror klopft an unsere Tür. Wir müssen sofort eine Regierung bilden!“ Eine „rechte Regierung“, „die die Sicherheit der Bürger Israels wiederherstellt.“

Damit meint er nicht nur die Anschläge in Jerusalem: Am Tag zuvor entführten bewaffnete Palästinenser den 18-jährigen israelischen Drusen Tiran Fero aus einem Krankenhaus in Jenin in der Westbank. Fero war schwerverletzt nach einem Autounfall eingeliefert worden und wurde künstlich beatmet. Er starb, nachdem die Terroristen die künstliche Beatmung abgebrochen hatten (siehe Jerusalem Post). Die Entführer forderten die Freilassung inhaftierter Palästinenser oder die Rückgabe von Körpern getöteter Attentäter im Austausch für Feros Leichnam. Insgeamt 30 Menschen sind bislang dieses Jahr in Israel und der Westbank bei palästinensischen Terrorattacken ermordet worden.

Ben-Gvir und Smotrich genießen zurzeit das Rampenlicht der israelischen Politik. Seit der Wahl am 1. November – die fünfte innerhalb vier Jahre – sind aber Benjamin „Bibi“ Netanjahus (Likud) Koalitionsverhandlungen mit ihrer rechtsradikalen Wahlliste „Religiöser Zionismus“ (HaTzionut HaDatit) teilweise ins Stocken geraten. Die Liste ist überhaupt Netanjahu zu verdanken: Aus strategischen Gründen überredete er vor der vergangenen Wahl im März 2021 Smotrich von der „Religiös-Zionistischen Partei“ und Ben-Gvir von der „Otzma Yehudit“ („Jüdische Macht“), sich zusammenzuschließen, um über die 3,25-Prozent-Hürde zu kommen. Mit Erfolg: Im März 2021 erhielt die Liste noch 5,1 Prozent der Stimmen und damit sechs Sitze in der Knesset (im März 2020 erreichte „Otzma Yehudit“ lediglich 0,42 Prozent).

Aber der Pakt rächt sich nun für Netanjahu: Im November errang „Religiöser Zionismus“ mit 10,8 Prozent ganze 14 Mandate und wurde drittstärkste Kraft im Parlament. Die Unruhestifter von Rechtsaußen wollen Schlüsselministerien wie Verteidigung, Finanzen oder innere Sicherheit. Und sie könnten Netanjahu viele Probleme bereiten – im Inland wie im Ausland.

Ein stolzer Homohasser

Smotrich ist bereits ein bekanntes Gesicht in der Regierung, er diente als Verkehrsminister unter Netanjahu von Juni 2019 bis Mai 2020. Allein das ist schon ein Skandal: Der nationalreligiöse Siedler bezeichnet sich selbst als „stolzen Homophoben“, vergleicht Palästinenser*innen mit Mücken, deren Sumpf man austrocknen müsse. Im Oktober 2021 sagte er in Richtung arabischer Abgeordneter in der Knesset: „Sie sind aus Versehen hier, es ist ein Fehler, dass Ben-Gurion die Arbeit nicht beendet und Sie 1948 nicht rausgeworfen hat.“

Erst am Montag dieser Woche behauptete Smotrich, Menschenrechtsorganisationen stellten eine existenzielle Bedrohung für Israel dar, wie Haaretz berichtet. Die neue Regierung müsse „ihre Gelder beschlagnahmen“ und sie mit rechtlichen Mitteln und Sicherheitsmaßnahmen bekämpfen. Dass er ausgerechnet Verteidigungsminister werden will – was zunehmend unwahrscheinlich aussieht –, macht den engen Israel-Verbündeten USA nervös.

Aber vor allem ein Ministerposten für Ben-Gvir wäre ein Dammbruch in der israelischen Politik. Richard Jacobs, ein prominenter Reform-Rabbi in den USA, sagte der israelischen Nachrichtenseite Ynet am Sonntag: Ben-Gvir zum Minister zu ernennen, sei wie David Duke, Ex-Chef des Ku-Klux-Klan, zum Generalstaatsanwalt der USA zu machen. Der orthodoxe Ultranationalist Ben-Gvir stammt aus einer irakisch-kurdischen Familie. Er wurde stark von der ersten Intifada geprägt, wohnt heute in einer Siedlung in Hebron in der Westbank und gehört zur nationalreligiösen, teilweise rechtsextremen Siedler-Bewegung. Seinen Fans gilt er als charismatischer Provokateur – ein mizrachischer „Man of the People“. Seinen Kritikern dagegen als rechtsextremer Hardliner, der die israelische Demokratie gefährdet.

Vorbild: Meir Kahane

Schon als Jugendlicher machte Ben-Gvir seine ersten Erfahrungen mit Polizei und Justiz. Mit 18 verkleidete er sich als Baruch Goldstein, der 1994 ein Massaker in einer Hebroner Moschee anrichtete: 29 Muslim*innen wurden ermordet und 125 weitere verletzt. Bis 2019 hing noch ein Bild von Goldstein in seinem Haus, erst nach kritischen Medienberichten 2019 wurde es entfernt. Goldstein lebte in Kirjat Arba, Ben-Gvirs Siedlung in Hebron, und ist auch dort begraben.

Besonders eine Szene aus Ben-Gvirs Jugend ist erschütternd: Mit 19 hält der junge Mann ein Auto-Emblem in die Fernsehkameras. Es stammt vom Cadillac des damaligen Premierministers und Architekt des Oslo-Friedensprozesses, Yitzhak Rabin. „So wie wir bis zu seinem Wagen kommen konnten, so werden wir auch ihn kriegen“, ruft Ben-Gvir. Drei Wochen später ist Rabin tot, und damit auch der Friedensprozess. Der Täter: ein rechtsradikaler Siedler.

Der womöglich zukünftige Minister hat eine dicke Polizeiakte: Als junger Mann wurde er unter anderem wegen Anstachelung zu Rassismus gegen Araber*innen verurteilt. Und auch wegen Unterstützung einer Terrororganisation: Er verehrte den radikalen Rabbi Meir Kahane, der Nichtjuden die israelische Staatsbürgerschaft entziehen, Beziehungen zwischen Arabern und Juden verbieten wollte und an die Überlegenheit des jüdischen Volkes glaubte, wie der Spiegel berichtet. Er war auch in der Jugendorganisation von Kahanes „Kach“-Partei. Die israelischen Streitkräfte IDF hielten auch deshalb den 18-jährigen Ben-Gvir für zu radikal und zogen ihn nicht zum Wehrdienst ein.

Kahanes „Kach“-Partei gewann 1984 einen Sitz, bevor sie vom Obersten Gericht wegen Rassismus verboten wurde. Damals verließ selbst der äußerst rechte Likud-Premier Jizchak Shamir mit seiner Fraktion den Saal, wenn Kahane eine Rede in der Knesset hielt. Aber Ben-Gvir hat geschafft, was der weitgehend isolierte Kahane nie konnte: Er ist im Mainstream angekommen.

Provokation mit Pistole

Der heutige Ben-Gvir, 46 Jahre alt, behauptet, moderater zu sein, sich vom Extremismus seiner Jugend distanziert zu haben. Dafür spricht aber wenig. Viele sehen seine Partei als Nachfolger der „Kach“ an. Und Ben-Gvir will heute zwar arabischen Israelis nicht mehr die Staatsbürgerschaft entziehen, dafür aber „illoyalen“ Bürger*innen. Er will zudem die Westbank annektieren, ohne Palästinenser*innen hinter der grünen Linie zu Staatsbürger*innen zu machen.

Vor allem weiß aber Ben-Gvir ganz genau, wie er mediale Aufmerksamkeit erzeugen kann. Mit provokanten Aktionen sorgt er für Schlagzeilen: Im Februar 2022 eröffnete er ein Pop-Up-„Büro“ in Sheikh Jarrah, einem Ostjerusalemer Stadtteil. Im Mai 2021 war es in dem Viertel nach einem langen Rechtsstreit und Zwangsräumungen von Palästinenser*innen zu Spannungen und Ausschreitungen gekommen. Zusammen mit anderen Faktoren führten sie zum Israel-Gaza-Konflikt 2021. Im Oktober bei einem Besuch im Viertel zückte er eine Pistole, nachdem es zu Steinwürfen zwischen Palästinenser*innen und jüdischen Israelis gekommen war (siehe The Times of Israel).

Teile und herrsche

Kaum hatten die Koalitionsverhandlungen nach der jüngsten Wahl begonnen, hat sich die Liste „Religiöser Zionismus“ allerdings schon wieder zersplittert: Die gleichnamige Partei „Religiöser Zionismus“ unter Smotrich hat jetzt nur noch sieben Sitze, Ben-Gvirs „Otzma Yehudit“ hat sechs, und die kleine, queerfeindliche „Noam“-Fraktion einen. Sie führen getrennte Koalitionsgespräche mit Netanjahu. Und das spielt dem machiavellischen „Bibi“ in die Hände. Denn Smotrich und Ben-Gvir sind plötzlich nicht mehr die Königsmacher von Jerusalem. Diese Rolle dürfte nun Arje Deri zufallen, dessen ultraorthodoxe „Shas“-Partei jetzt die zweitgrößte im „Bibi-Block“ ist – dem breiten Bündnis rechter und religiöser Parteien um Netanjahu.

Am heutigen Freitagmorgen, zwei Tage nach dem Terroranschlag in Jerusalem, gab es aber zumindest einen Durchbruch in den Koalitionsgesprächen: Ben-Gvir soll „Minister für nationale Sicherheit“ werden – eine neue, erweiterte Rolle. Damit untersteht ihm die Grenzpolizei in der Westbank. Seine Partei „Otzma Yehudit“ bekommt zudem zwei weitere kleinere Ministerien. Verhandlungen mit den anderen Parteien dauern noch an, dafür hat Netanjahu laut Gesetz nur noch bis zum 11. Dezember Zeit, eine zweiwöchige Verlängerung ist möglich. Aber nach den jüngsten Attacken steht vor allem ein Thema ganz oben auf der politischen Agenda, von dem die radikale Rechte derzeit profitiert und das die Verhandlungen beschleunigen könnte: Sicherheit.

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