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Kommentar Eine neue Perspektive

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Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Neulich waren wir in Szczecin. Das liegt in Polen. Szczecin ist mit etwa 400.000 Einwohnern eine der größeren Städte Polens und die größte in der Region. Polen ist von Deutschland objektiv gesehen genauso weit entfernt wie Frankreich; zumindest teilt man eine Grenze. Szczecin hieß früher Stettin und war eine deutsche Hansestadt. Im Krieg wurde sie fast vollständig zerstört. Weniger als 5 Prozent der Bevölkerung hat schon immer hier gelebt. Alle anderen kamen erst nach dem Krieg. Die meisten wurden hierher zwangsumgesiedelt. Der Krieg. In Deutschland mögen manche auf hohem Niveau über „ritualisiertes Gedenken” maulen und dass Erinnern doch wohl eher Privatsache sein sollte. In Polen haben die Leute keine Wahl. Die Folgen des Krieges begleiten sie in jeder Stunde ihres Alltags. Sie können es sich nicht aussuchen. Jede einzelne Familie in Szczecin ist noch vom Krieg gezeichnet. Ein Fuß nur hinter der Grenze und die selbstgefällige Debatte in Deutschland über das Erinnern und all diesen Kram, erscheint gespenstisch, realitätsfern und zynisch. Und wie zum Hohn: Aus einer neuen Studie des Allenbach Instituts kann man entnehmen, wie herablassend und vorurteilsvoll das Bild der Polen in Deutschland noch immer ist.

Keine Invasion

Inzwischen gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit, vor der die NPD entlang der Grenze ständig warnt. Auf dem Weg nach Szczecin habe ich mich in ein Feld gesetzt und mit einem Fernrohr den Horizont nach der befürchteten Polenwelle abgesucht. Die Uckermark auf der deutschen Seite aber blieb weiter leer. In einigen Ortschaften wohnen jetzt vereinzelte polnische Familien; sie haben leerstehende Häuser gekauft, aber die arbeiten in Szczecin. Keine Invasion also, außer die von Vorurteilen. Man glaubt in Deutschland nicht, dass Polen demokratisch sein können, dass es eine wachsende Wirtschaft gibt und dass etwas anderes als Kriminalität und Korruption das Land beherrscht. Also packte ich mein Fernglas wieder ein, denn solche Dinge sind mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Auch nicht mit einem Feldstecher aus echter deutscher Wertarbeit.

Eine grenzüberschreitende Republik

In Szczecin trafen wir Künstler, die von einer grenzüberschreitenden Republik eines ökologischen Kunstutopia träumten, eine Reihe von NGOs, die uns über den Dritten Sektor in Polen informierten und schließlich den Vertreter der ukrainischen Minderheit in Polen, der uns in sein multikulturelles Institut einlud. Er erzählte uns, wie schwer es die Ukrainer in Polen, besonders an der Westgrenze, hatten. Nach dem Krieg waren sie aus der Bukowiner Gegend, die damals zu Polen gehörte nach Szczecin deportiert worden. Und das mit Schimpf und Schande, weil viele Ukrainer mit den Nazis kolaboriert hatten. Bis heute wird ihnen misstraut und es finden sich Schmierereien an ihren Häusern. Gewiss hatte der Mann in seinen 50ern nicht teilgenommen an all den Gräuel in der Ukraine, die besonders die dort lebenden Juden betraf. Doch sein Wunsch, ein multikulturelles Haus zu führen, rührte von den vergangenen Grausamkeiten. Er wollte, dass sich alle Minderheiten dort treffen: die wenigen Griechen, die Litauer, die vereinzelten Russen und wenn es geht auch die übrig geblieben Juden und Roma.

Immer noch

Auch für die Polen aus dem Osten des Landes, der nach Ende des Krieges der Sowjetunion zugeschlagen worden war, sollte dieser Ort eine Heimat sein. Szczecin als Chance, als Neubeginn für alle und das jetzt mehr als 70 Jahre danach. Diese 70 Jahre dauern noch an. Nach der Zerstörung, nach der Teilung des Landes, nach Neubesiedlung, nach Vertreibung der Juden zum Ende der 60er Jahre, nach sozialistischer Diktatur. Nach all dem ist es eben noch immer das Jetzt.

Es wird Zeit, dass in Deutschland verstanden wird, dass Krieg und Verbrechen nicht in vergessener Vorzeit liegen, sondern nur wenige Meter hinter der Grenze Gegenwart sind. Es ist Zeit, eine neue Perspektive einzunehmen und den Charakter dieser Nachbarschaft zu begreifen. Dazu gehört aber eine neue Art der Erinnerung, die bis in die Gegenwart reicht.

Perspektywa heißt das neue Projekt, das die Kollegen von der RAA Mecklenburg-Vorpommern und die der Amadeu Antonio Stiftung nach Szczecin geführt hatte, polenfeindliche Ressentiments abzubauen, ist sein Ziel. Ich freue mich und bin dankbar, dass wir am Neustart teilnehmen können. Und der Zynismus des deutschen Feullietons kann mir mal gestohlen bleiben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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