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Lagebericht zu Rechtsextremismus Verfassungsschutz zählt nur 350 Verdachtsfälle in Sicherheitsbehörden

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Symbolbild: In der Polizei werden immer mehr rechtsextreme Chatgruppen entdeckt.
Symbolbild: In der Polizei werden immer mehr rechtsextreme Chatgruppen entdeckt. (Quelle: Kaisa-Marysia / Unsplash)

In seinem 100 Seiten starken Lagebericht zu Rechtsextremismus zählt das Bundesamt für Verfassungsschutz lediglich 350 rechtsextreme Verdachtsfälle in den Sicherheitsbehörden. Das geht aus dem vertraulich gestempelten Bericht hervor, der erst im Oktober erscheinen soll. Das vorläufige Ergebnis liegt der Welt am Sonntag schon vor.

Der Bericht dokumentiert Verdachtsfälle der vergangenen drei Jahren, von Anfang Januar 2017 bis Ende März 2020, im Bundesnachrichtendienst, dem Militärischen Abschirmdienst (MAD), dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizei, den 16 Länderpolizeien und bei den Verfassungsschutzämtern. Insgesamt arbeiten rund 300.000 Mitarbeiter*innen bei den deutschen Sicherheitsbehörden. In einem Land, wo kaum ein Tag vergeht, ohne dass der nächste vermeintliche Einzelfall, eine weitere rechtsextreme Chatgruppe oder gar ein konspiratives Preppernetzwerk in der Polizei oder Bundeswehr auffliegt, wirkt diese Zahl überraschend niedrig.

Oppositionspolitiker*innen der Grünen und Linken kritisieren die Zahlen als veraltet und unzureichend. Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion und ehemals Polizistin, sagte der Berliner Zeitung: „Wer mit veralteten Zahlen einen Bericht zusammenstellt, scheint es mit der Aufklärung nicht allzu ernst zu nehmen“. Auch Martina Renner, Bundestagsabgeordnete der Linken und Sprecherin der Fraktion für antifaschistische Politik, fand scharfe Worte: „Ein Lagebild, das auf der Selbstauskunft von Behörden beruht, kann nur ein unzureichendes Bild über rechte Vorkommnisse in den Sicherheitsbehörden zeichnen und wird dem Ausmaß der Verbreitung entsprechender Einstellungen und Handlungen nicht gerecht“, sagte sie ebenfalls der Berliner Zeitung.

Denn tatsächlich enthält der aktuelle Bericht offenbar keine Zahlen zu den aktuellen Entwicklungen in Sachen „NSU 2.0“, sowie den zahlreichen Chatgruppen, in denen Polizist*innen und andere Beamt*innen rechtsextreme Inhalte austauschten. Alleine bei der Polizei in NRW handelt es sich um 100 Fälle, die offenbar nicht Teil der neuen Zahlen des Verfassungsschutzes sind.

Laut des Berichts wurden 30 Disziplinarverfahren in Bayern eingeleitet, die meisten davon laufen noch, aus Baden-Württemberg gab es 15 Meldungen, in Niedersachsen 26 Disziplinar- und Strafverfahren und in NRW im Berichtszeitraum lediglich 43. Die meisten Fälle wurden aus Hessen gemeldet. In den letzten drei jahren gab es 59 dienst- und arbeitsrechtliche Maßnahmen. In 50 Fällen seien Disziplinarverfahren eingeleitet worden, 29 wurden eingestellt. In elf Fällen gebe es Entlassungen oder Nichternennungen ins Beamtentum. Das hessische Innenministerium begründet das mit der erhöhten Aufmerksamkeit der Behörden seit zwei Jahren zum Thema Rechtsextremismus. Seitdem werde intensiv intern ermittelt.

Auffällig ist, dass beim MAD kein einziger Fall gemeldet wurde. 2017 wurde der MAD vom Verteidigungsministerium beauftragt, gegen rechtsextreme Tendenzen in der Bundeswehr zu ermitteln. Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung zufolge wurden mindestens acht Soldaten der immer wieder in rechtsextremen Skandale verwickelten Eliteeinheit „Kommando Spezialkräfte“ (KSK) von einem MAD-Mitarbeiter über vertrauliche Ermittlungsinterna informiert, die sie an die Truppe weitergaben. Zum 1. August 2020 wurde die zweite Kompanie des KSK aufgelöst, laut einem Papier aus dem Verteidigungsministerium hat der Rest der Einheit bis Ende Oktober Zeit, um demokratische Gesinnung unter Beweis zu stellen.

Diese Woche wurde bekannt, dass Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den MAD-Chef Christof Gramm in einstweiligen Ruhestand versetzt hat. Ein Grund könnte sein, dass Gramm Rechtsextremismus in den eigenen Reihen zu wenig bekämpft hat. Die Ministerin lobte den scheidenden Behördenchef jedoch, der „Veränderungen initiiert und begleitet und so in den vergangenen Jahren spürbare Verbesserungen in Organisation und Arbeitsweisen“ erwirkt habe. Die weitere Umsetzung der Reformen erfordere aber „zusätzliche Anstrengungen und Dynamik”.

Seit Monaten lehnt der Innen- und Heimatminister Horst Seehofer eine von vielen Seiten geforderten Studie über Rassismus in der Polizei ab. Eine seiner Begründungen war, dass der jetzt vorab veröffentlichte Lagebericht zu Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden noch erstellt werde. Obwohl oder gerade weil lediglich 350 Verdachtsfälle in diesem Bericht erfasst werden, müssen rechtsextreme und rassistische Tendenzen in den Sicherheitsbehörden dringend untersucht werden. Denn die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich deutlich höher.

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