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Mord aus der Mitte

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Am Ende, wenn die Schmerzensschreie verstummt sind, ganz am Ende, wenn selbst die eifrigsten Chronisten ihre Kalender nach dem Datum der Mordnacht befragen müssen, bricht die Zeit des Gärtners an. Vielleicht ist er der Letzte, der hier noch etwas in Ordnung bringen kann. Er macht sich gerade an den Beeten zu schaffen, als Heinz Siering aus seinem Ford Transit springt und um das Mahnmal läuft, das immer auch sein Mahnmal geblieben ist, das Langzeitgedächtnis seiner Stadt. Der Gärtner erzählt ihm, dass jemand die frisch gepflanzten Blumen herausgerissen hat, und er erzählt das in dem gelangweilten Ton eines Mannes, der zerstörte Grünflächen sieht, wo Siering an zerstörte Menschenleben denkt. Jaja, knurrt Siering, »jedes Mal derselbe Mist«.

Heinz Siering ist 58, gelernter Schweißer. In seiner Werkstatt fertigte er Tausende handtellergroße Ringe an, gravierte die Namen der Käufer ein und türmte die Ringe um ein zerbrochenes Hakenkreuz zu einem Schichtengebirge, dem Solinger Mahnmal. Er sagt: »Da hat der Scharping seinen Ring, der Biolek, die Süssmuth, und irgendwo muss auch Giordano sein.« Die ersten Ringe, die Siering anbrachte, waren noch warm von den Händen der Menschenkette, die sich durch die ganze Stadt zog. »Von hier bis hier«, sagt er und markiert mit einem Fuß die Punkte im Berg, »alles Engländer. Hier sind die Schweden. O ja, sehen Sie mal: Kalifornien.« Stundenlang könnte Siering erzählen. Nur damals, vor 15 Jahren, als er an einem Sonntagmorgen beim Frühstück das Radio einschaltete, schnitt ihm der Schauder die Sätze ab. »Nee«, sagte er zu seiner Frau, »nicht in Solingen. Nee, nee, nee.«

Die Nacht vom 29. Mai 1993

An der Unteren Wernerstraße 81 bricht in der Nacht zum 29. Mai 1993, laut Polizeibericht um 1.38 Uhr, Feuer im Windfang des Mehrfamilienhauses aus, in dem 19 Menschen wohnen. Die damals 50-jährige Türkin Mevlüde Genç ist die Älteste in der Familie, ihr Enkel Durhan noch ein Säugling. Als das Feuer die oberen Stockwerke erreicht, füllt Mevlüde Genç Eimer mit Wasser, aber sie richtet gegen die Flammen nichts aus. Sie springt aus einem Fenster und hört von draußen, wie die Kinder um ihr Leben schreien. Mevlüde Genç trägt nur ihr Nachthemd, rennt barfuß zu einem Nachbarn und klingelt, aber ihr Mund ist so trocken, dass sie keinen Laut herausbringt. Da drinnen verbrennen die Kinder, aber ihre Stimme lässt sie im Stich. Mevlüde Genç versucht, durch ihre fuchtelnden Hände zu sprechen, der Nachbar begreift und bringt ihr eine Flasche Wasser.

Als fünf Minuten später die Feuerwehrleute eintreffen, gibt es nichts mehr zu retten. Gürsün, 27 Jahre alt, hat sich brennend aus einem Fenster im Dachgeschoss gestürzt, tot. Die vierjährige Tochter, die Gürsün fest in ihre Arme geschlossen hat, überlebt den Aufprall. Hatice, 18 Jahre alt, Hitzeschock, tot. Gülistan, zwölf Jahre alt, Rauchvergiftung, tot. Hülya, neun Jahre alt, Rauchvergiftung, tot. Saime, vier Jahre alt, Rauchvergiftung, tot.

»Ich hab bloß das Haus angesteckt, und dabei sind welche umgekommen«

Ein Krankenwagen fährt mit Bekir fort, 15 Jahre alt. Seine Haut, wird man später bekannt geben, ist zu 38 Prozent zerstört. Von dem Heim der Familie bleibt eine in Löschwasser getauchte Ruine zurück. Der Plastikklumpen im verkohlten Wohnzimmer war der Fernsehapparat, das sieht man noch, aber die Leichen einiger Kinder sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

»Was ich gemacht hab, war doch kein Mord«, wird später einer der Brandstifter dem psychologischen Gutachter erzählen. »Ich hab bloß das Haus angesteckt, und dabei sind halt welche umgekommen.« Mitleid? »Nein. Der Staat hat doch sogar Nutzen davon, dann muss er kein Kindergeld zahlen. Weil die Türken schaffen sich doch hier in Deutschland nur so viele Kinder an, um Kindergeld zu kassieren.«

Die Überlebenden

Der Richter, der den Strafprozess leitet, wird die Zeugin Mevlüde Genç zur Person befragen. »Wie alt sind Sie?« »Ich bin jetzt 51«, wird sie antworten, und ein Dolmetscher wird simultan übersetzen, »aber mein Herz ist 90. Ich bin eine lebende Leiche.«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Ich bin die Pflegerin meines verbrannten Sohnes.«

Als die Polizei kurz nach dem Brand zwei Jugendliche und zwei junge Männer in Solingen verhaftet, einen 16-Jährigen, noch einen 16-Jährigen, einen 20-Jährigen und einen 23-Jährigen, fällt in der Stadt immer wieder ein Wort ? »unvorstellbar«. Endgültig fliegt der westdeutsche Selbstbetrug auf, dass rassistische Gewalt ein Thema des rohen Ostens sei. Die Angriffe auf Ausländer im sächsischen Hoyerswerda, die Ausschreitungen gegen Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen, dann plötzlich das Feuer in Mölln, Schleswig-Holstein, drei ermordete Türkinnen. Und jetzt Solingen: fünffacher Mord, die folgenschwerste rassistische Tat in der Geschichte der Bundesrepublik.

Mevlüde Genç, die tapfere Frau an der Spitze der Familie, bricht im Türrahmen zusammen, als sie das erste Mal ihren Sohn Bekir im Krankenhaus besucht. Sie nimmt sich vor, Mut zu fassen und sein Gesicht anzuschauen, das die Flammen zu dem Gesicht eines Fremden entstellt haben. »Ich wollte mich zu ihm hinunterbeugen und ihn küssen«, sagt sie später, »aber ich fand nirgendwo eine Stelle dafür.« Als Bekir die Lippen bewegt und ein paar Worte herausbringt, erwidert die Mutter: »Junge, du siehst ja richtig hübsch aus.« Er weint, aber sie hält ihm entschlossen ihr Lächeln entgegen. 18 Operationen hat er zu überstehen, er darf nicht verzweifeln.

Die Asylpolitik soll überall im Land zum Thema gemacht werden

Als ihm die Pfleger in der Klinik Wochen später den Verband abnehmen, fragt Bekir: »Darf ich zum Spiegel?« Aber seine Mutter bittet die Ärzte, ihm den Wunsch abzuschlagen. »Mutti, bring doch mal einen Spiegel von zu Hause mit«, sagt er, aber sie weicht ihm aus. »In den Spiegel gucken ist vielleicht Sünde.« Sie hofft, dass er den Sinn ihrer Antwort erkennt. »Mutti, warum kommen Gürsün und Hatice mich nicht besuchen?«, will Bekir nach ein paar Tagen wissen. »Die sind nach Holland gefahren, ich soll dir schöne Grüße bestellen«, sagt die Mutter und holt tief Luft. Und Hülya? Und Saime? Die wurden von den Ärzten nicht vorgelassen, die sind noch zu jung. Nein, so kann es nicht weitergehen, sie kann ihn nicht ewig täuschen. Schließlich nimmt sie alle Kraft zusammen und findet einen Satz. Der Rauch hat die anderen getötet, der Rauch.

»Es wird nie mehr so sein wie früher«, sagt Bekir, als er schließlich einen Spiegel in den Händen hält und auf die vernähte Stelle schaut, wo einmal sein Ohr war. »Es gibt für alles ein Mittel«, versucht ihn die Mutter zu trösten, aber als wieder Tränen über Bekirs vernarbtes Gesicht laufen, muss auch sie weinen.

»Irgendwelche Idioten haben wieder zugeschlagen.«

Heinz Siering merkt sofort, dass etwas nicht stimmt, als er vor dem kleinen Gedenkstein stehen bleibt, der oberhalb des Hangs eingelassen wurde, an dem früher das Haus der Familie Genç stand. Er sagt: »Irgendwelche Idioten haben wieder zugeschlagen.« Porphyr hatte Siering beschafft, Vulkangestein, hart wie Granit. In Beton gegossen wurde der Stein, versehen mit einer fünf Millimeter starken Bronzeplatte, die man abschmirgeln kann, für den Fall, dass jemand sie zerkratzen sollte. Da wurde Farbe draufgekippt, da hat einer mit einem schwarzen Edding herumgekritzelt, da hat einer was herausgebrochen, und immer ruft der Büroleiter des Bürgermeisters bei Heinz Siering an. »Wären Sie noch mal so nett, Herr Siering?« Und Siering bessert aus.

»Warum sprechen die eigentlich immer mich an?«, fragt er, geht das nur mich etwas an? Kann nicht irgendein Nachbar, der den Fleck sieht, mit einem Schrubber kommen? Würde das der Nachbar bei sich zu Hause nicht auch tun? Oder ist das Drama von Solingen, fragt Siering, inzwischen meine private Angelegenheit? Bin ich jetzt der Schrubber, weil ich schon früher, schon bevor hier Türken umgebracht wurden, überall die Hakenkreuze übermalt habe? Bin ich ein Spezialist, weil ich sogar über Mauern in Fabriken eingestiegen bin, sobald ich dort ein Hakenkreuz entdeckte? »Ich hatte immer meinen Farbeimer bei mir«, sagt Siering, »das ist doch klar. Das ist doch eine Kostbarkeit, die Demokratie. Da muss man doch für einstehen.«

Der Prozess

Felix Köhnen, ein schlaksiger 16-jähriger Junge, später verurteilt zu zehn Jahren Jugendstrafe wegen mehrfachen Mordes, kommt in der Nacht des 29. Mai 1993 mit Freunden von einem Polterabend, sie haben viel getrunken. Ob einer in der dunklen Senke Bärenloch wirklich den Satz sagt: »Lass uns doch das Türkenhaus abfackeln«, wird man später nicht mehr feststellen können. Es wird ein Geständnis geben, das plötzlich zurückgezogen wird, drei der vier Täter werden sich für unschuldig erklären und bis zum Urteil hoffen, dass man sie freispricht, das Gericht aber wird keinen von ihnen entkommen lassen, und die Eltern der Verurteilten werden aufheulen vor Wut.

Das Verfahren wird 125 Prozesstage dauern und sich auf Indizien stützen, 276 Zeugen werden auftreten, die Urteilsbegründung wird 128 Seiten lang sein, über die »Wahrheit von Solingen« wird das Fernsehen zwei Dokumentationen zeigen, Verteidiger werden Mandate niederlegen, Kommissare werden Kommissare im Gerichtssaal beschimpfen, der sozialdemokratische Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag wird die lange Untersuchungshaft der Beschuldigten »Folter« nennen, ein in den Fall verwickelter Spitzel des Verfassungsschutzes wird den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen zu einer öffentlichen Stellungnahme zwingen, Mevlüde Genç wird nach dem Ende des Strafprozesses das Bundesverdienstkreuz bekommen und sich nach ihren Verdiensten fragen, die Wahrheiten werden sich verdrehen und verknoten, aber wenn man den Film an den Anfang zurückspult, dann sieht man Felix Köhnen, einen schüchternen Jungen, der seine Hilflosigkeit in einer Bomberjacke verpackt, sich den Schädel rasiert und die »linken Spießer« besiegen will, die Eltern.

»Zwei von ihnen stammen aus der Mitte der Gesellschaft.«

Sein Vater: Dr. med. Köhnen, Mitglied in der Initiative »Ärzte gegen den Atomkrieg«. Seine Mutter: studierte Architektin, eine Kämpferin für den Umweltschutz. Auf dem Dach des Elternhauses ein Sonnenkollektor, die Schule für Felix muss eine Montessorischule sein. Er scheitert dort, er ist nicht der Intelligenteste, er entzieht sich den Eltern, er schließt sich einer Clique an, die auf die Reichskriegsflagge schwört. Sie hören die Musik der Böhzen Onkels und von Störkraft. Ihr Gefühl, Rache nehmen zu müssen für irgendwas, verbindet die Täter: den Arztsohn Felix mit dem Heimkind Christian Reher aus einer zerrütteten Familie, mit Christian Buchholz aus einer Reihenhaussiedlung, der durch Ritalin ruhiggestellt wird, mit dem aggressiven Außenseiter Markus Gartmann, über den die Mädchen lachen.

Ihr »Hass auf die Kanacken« ist keine Krankheit aus Solingen, der Stadt mit der roten Tradition, in der die Gastarbeiter aus der Türkei brav in Klingenfabriken und Gießereien gehen. Hier liegt nicht das Zentrum einer deutschen Depression, hier prügeln sich die Grauen Wölfe nicht mit den Kurden, das passiert erst später, nach dem Feuer, als radikale Türken und Autonome nach Solingen reisen, Schaufenster zerschlagen und auf Polizisten losgehen.

Hier hat eine Stadt nicht weggeschaut, die reflexhafte Erklärung läuft wieder ins Leere. Die Antifa in Solingen ist stark, Kirchengemeinden kümmern sich um gefährdete Jugendliche. Es gibt eine wache Jugendpolitik. Drei der vier Täter, die später das Haus der Familie Genç anzünden, nehmen nachmittags an Projekten teil, in der Sozialpädagogen sie betreuen. »Akzeptierende Jugendarbeit mit rechten Cliquen«. Als Helmut Kohls Kanzleramt im Solinger Rathaus anruft, um sich nach den »sozialen Verhältnissen« der Täter zu erkundigen, gibt ein Dezernent die irritierende Antwort: »Zwei von ihnen stammen aus der Mitte der Gesellschaft.« Ist in der Mitte etwas nicht in Ordnung?

Anderthalb Jahre zuvor, im September 1991, hat Volker Rühe, der Generalsekretär der CDU, an die Parteifreunde überall im Land ein Papier geschickt, das sich mit einer »besorgniserregenden Entwicklung« befasst, der Zahl der Asylbewerber. Rühe will die Einzelfallprüfung, die das Grundgesetz vorsieht, beenden und Bewerber schneller abschieben können. »Ich bitte Sie daher«, schreibt er den Funktionären, »die Asylpolitik zum Thema zu machen.« Seinem Brief legt er Mustervorlagen für die Argumentation bei, die die Debatte in jeden Gemeinde- und Stadtrat, jeden Kreis- und Landtag tragen sollen.

Der »Kanzler der Einheit« verweigert jede Geste des Beileids

Das Thema zieht, überall im Land. Den neuen Kampfbegriff haben Politiker der großen Parteien miterfunden: »Asylant«. Der Asylkompromiss, der das Grundrecht einschränkt und dem die SPD zustimmt, ist auch das Werk ihres starken Mannes Oskar Lafontaine. Es wäre billig, die Parteien für Gewalttaten mitverantwortlich zu machen, aber es fällt auf, dass sich die Ereignisse kreuzen. Das Gerede über »Schmarotzer« und »Asylanten«. Die Debatten im Bundestag. Die vielen Attentate des Jahres 1993, die es auf keine Titelseite schaffen. Die beiden Brände im Haus einer marokkanischen Familie bei Mönchengladbach. Die Anschläge auf Wohnungen von Türken in Köln, im badischen Mülheim, in Stockdorf bei München und in der Oberpfalz. Die Axthiebe auf Türken in Berlin. Die Flammen in türkischen Läden, in einem Dorf in Mecklenburg, in Ludwigshafen. Die immergleichen Brandzeichen der Täter, die Hakenkreuze auf den Hausmauern. »Aus ihrer Sicht hätten die Angeklagten durchaus den Eindruck gewinnen können, die radikale Spitze einer breiten Bewegung zu sein«, urteilt das Oberlandesgericht Schleswig über die rechtsradikalen Attentäter von Mölln.

Wenn die vier jungen Mörder, die Solingen in ein Symbol verwandeln, gemeinsam von etwas überzeugt sind, dann nicht, dass ein neuer Hitler aufmarschieren müsse, sondern dass ihre ziellose Wut jemanden verletzen soll und dass es eine Logik habe, wenn es bei den Türken endlich brennt.

Keine Geschenke

Die Ruine des Hauses wird abgerissen. Kastanien werden gepflanzt, fünf Bäume für fünf Mordopfer. Die Familie Genç zieht in ein neues Haus, am anderen Ende von Solingen, geschützt wie ein Hochsicherheitstrakt, ausgestattet mit Fenstern, die sich bei Feuer automatisch öffnen, finanziert aus Spenden und beschafft von der Stadt. Es wird viel getan für die Opfer, und schon setzt auf der Straße das hämische Getuschel ein, gegen das sich die Familie nicht wehren kann. Der Staat habe den Türken einen kleinen Palast mit einem eigenen Schwimmbad gebaut, heißt es plötzlich, und die Familie Genç müsse im Supermarkt nicht mehr bezahlen. Ob die Türken vielleicht doch, ihr eigenes Haus, damals, na, könnte das nicht sein?

Das Einzige, was sie jetzt wirklich geschenkt bekommen, ist die deutsche Staatsbürgerschaft.

Keine Reise ins Glück

Auf dem Sofa im neuen Wohnzimmer der Familie Genç nehmen Imame Platz, stellen tastende Fragen, blicken hilflos in vernarbte Gesichter. Reporter kommen, Pfarrer, Psychologen, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau. Weil das Geschehene die Besucher sprachlos macht, flüchten sie sich oft in weniger schmerzhafte Lebensabschnitte. Mevlüde Genç erzählt die Geschichte ihres Mannes, der in einer Solinger Fabrik Autofelgen vom Fließband lud. Sie erzählt, dass eine Blaskapelle am Düsseldorfer Flughafen spielte, als ihr Mann gemeinsam mit 300 anderen türkischen Arbeitern nach Deutschland kam. Sie erzählt, dass sie sich weinend zu Hause im türkischen Dorf Mercimek einschloss, als ihr Mann in die Fremde aufgebrochen war, und dass sie sich mit dem Gedanken beruhigte, seine Reise werde alle ins Glück führen und die Armut überwinden. Sie erzählt von ihrem halbherzigen Entschluss, ihrem Mann nach Deutschland zu folgen, von ihren ersten Besuchen in einem Solinger Lebensmittelladen ? wie sie zu gackern und zu summen begann, als sie Eier und Honig kaufen wollte. Eine Fremde ringt das Gefühl der Fremdheit nieder. Ihre Geschichten sind Parabeln auf ihren zerbrechlichen Mut.

Dem mächtigsten deutschen Politiker kann sie ihre Geschichten nie erzählen. Nicht einmal zur Beerdigungsfeier in der Türkei ist Bundeskanzler Helmut Kohl geflogen, weil er sich dem »Beileidstourismus« verweigern wollte. Kohl hat noch oft Gelegenheit, seine Distanz aufzuheben, aber er bleibt Solingen fern. Er hält sich das Drama vom Leib. In seinen Erinnerungen räumt er dem Mordanschlag 23 Zeilen ein und betont als Erstes die »Belastung im Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei«.

Heinz Siering möchte noch zu der Stelle laufen, wo in Solingen früher das Barackenlager stand, in dem die Nazis 1943 die Sinti umbrachten. Zwei rote Tränen aus amerikanischem Bullseye-Glas fertigte er für das unscheinbare Mahnmal an, aber als die Gläser zersplittert im Gras lagen, ersetzte er sie durch Kupfer und presste die Tränen in einen Rahmen aus Stahl. »Jetzt schauen Sie mal«, sagt er, »hier ist schon wieder was lose.« Einmal hat er Kinder erwischt, die mit Steinen auf die Tränen warfen, zwei Jungs, der eine acht, der andere neun. Natürlich dachten die sich nichts dabei, sagt Siering. Aber warum dachten sie sich nichts? Haben ihnen die Eltern gar nichts erklärt? Der eine Junge, der sich nichts dabei dachte, ist ein Deutscher, der andere ein Türke.

Dieser Text erschien erstmals bei ZEIT-online am 26. Mai 2008 und wurde uns freundlicherweise von der Redaktion zur Verfügung gestellt.

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