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Rammstein und das Vers-Sagen Sex, Drugs & Row Zero

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Rammstein-Konzert (Quelle: picture alliance / Gonzales Photo/Sebastian Dammark | Gonzales Photo/Sebastian Dammark)

Zwischen Aufstieg und Zerfall, gewissermaßen von A bis Z, gibt es ein paar Dutzend Buchstaben. E für „Einsatzfreude“ beispielsweise, oder H für „Hochmut“ und U für „Unfehlbarkeit“. Auf die eine oder andere Weise gleicht der Werdegang der Wunderkinder sogar einer Partitur voller vorgegebener Töne, die eingehalten werden – bis man gleichsam aus dem Takt fällt und sich ein absolutes Recht auf Improvisation gönnt.

Nun gibt es Anschuldigungen, die deutschen Bad Boys sollen etwas Schlimmes getan haben. Mädchenverführung und Menschenverachtung unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit. Wozu teure Eskortdamen, wenn es durch rohen Hype und Rohypnol billige und willige junge Frauen gibt? Andererseits waren es scheinbar eh nur Groupies, diese selbsternannten Opfer. Die „After“-Show-Party mit Multimillionären und Möchtegern-Pornostars, da geht es, nomen est omen nach hinten los. Aber jede*r weiß es vorher, oder? Weshalb dürften sie die Karrieren solcher erstklassigen Performer beenden? Und wie ist es eigentlich um die künstlerische Freiheit bestellt?

Dies ist nolens volens keine Grabrede. Nein, noch lange nicht. Denn das Biest tobt noch. Es tobt, und es denkt nicht dran, das Zeitliche in Echt zu segnen, so sehr es immer wieder mit dem Tode als Motiv liebäugelt. Man erinnere sich eventuell an die Aktion 2011 auf der O2-World, die in der Spree-Metropole vonstattenging. Da gab es eine gruselige Gruft. Ein ganzes Gebäude namens „Rammstein-Mausoleum“. Davor fand ein Prozessionszug mitsamt Totenkutsche statt. Im Inneren des Denkmals wurden Trauergäst*innen dazu animiert, sich ins Kondolenzbuch einzutragen. Danach aber gaben die vermeintlich Dahingeschiedenen unter rauschendem Applaus ein Megakonzert.

Das Spiel mit dem Feuer

Brachial vorgetragene Lieder, elektrifiziertes Eisen, grell leuchtende Nebelschwaden und knisternde Flammen. Viele knisternde Flammen vor Myriaden von Menschen. Wer solche Konzerte besucht, müsste eigentlich eine Gefahrenzulage erhalten oder wenigstens schon eine Grundausbildung in Katastrophenschutz und Brandbekämpfung absolviert haben. Denn das Sextett verballere rund 1.000 Liter Brennstoff per Show, verriet Nicolai Sabottka, der dafür verantwortliche Techniker. Aber Anhänger*innen der weltbekannten Berliner Metalband Rammstein mögen es so.

Ja, sie schwärmen davon. Vor allem von dem Privileg, die sogenannte „Feuerzone“ zu betreten. Diese ist ein abgesperrter Bereich, der sich unmittelbar vor der gigantischen Bühne befindet. Wer sich da aufhalten darf, hat dafür tief in die Tasche gegriffen und nimmt es in Kauf, anderthalb bis zwei ohrenbetäubende Stunden lang von sprühenden Funken erwischt zu werden. Ebenda vergnügen sich die Hardcore-Fans, die den sechs Musikern im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen liegen. Es sind also die Ultras unter den durchschnittlich 60.000 Verehrenden, die oft von weit und breit zu den Spektakeln hin pilgern. Das Ritual wird geradezu religiös gepflegt. „Das sind unsere Jungs“, erklären sie enthusiastisch. „Die halten zusammen, wir halten zu ihnen!“ Die „Jungs“, nun um die sechzig, spielen inzwischen seit drei ereignisreichen Dekaden immer noch in der Originalbesetzung.

Die Anfänge der Gruppe liegen in der Ostdeutschen-Punkszene der frühen 1990er Jahre in und um Prenzlauer Berg. In Teilen setzt sich die Band aus früheren Mitgliedern der Band Feeling B. zusammen. Richard Kruspe (E-Gitarre, Hintergrundgesang, Synthesizer), Paul Landers (Rhythmusgitarre, Hintergrundgesang), Oliver Riedel (Bass), Christoph Schneider (Schlagzeug, Perkussion) und Christian „Flake“ Lorenz (Synthesizer, Klavier). Die fünf suchten einen Lead Singer beziehungsweise einen Texter. In dem gebürtigen Leipziger Til Lindemann, dem Herrn mit dem rollenden R, wurden sie bald fündig.

Welchen Namen sollte die neue Band tragen? Neutrale, geradezu harmlose Optionen wie „Erde“, „Milch und „Mutter“ waren tatsächlich im Rennen. Doch schließlich wählten sie eine Massentragödie. Paul Landers erinnert sich: „Wir hatten den an die Wand von unserem LO [LKW aus der Baureihe der Zittauer Robur-Werke] geschrieben: Rammstein Flugschau. Doof, wie wir waren, schrieben wir Rammstein gleich mit zwei M, weil wir nicht wussten, dass der Ort Ramstein nur ein M hat.“

Für mich persönlich war und ist es nach wie vor irgendwie Sakrileg. Horror als Gag? Als Kind einer US-Militärfamilie war Ramstein Airbase in Rheinland-Pfalz nämlich mein Tor zu Deutschland gewesen, und ich war auch Jahre später in der Nähe, als 1988 ebendort das Flugtag-Unglück mit 70 Todesopfern und mehr als 1.000 Verletzten geschah. Aber eins ist sicher: Ungeachtet der Rechtschreibkenntnisse der Band, blieb der Bandname im Gedächtnis kleben.

Bei dem ersten gemeinsamen Auftritt spielte Rammstein vor einem Publikum, das aus knapp fünfzehn Anwesenden bestand. Heutzutage brauchen sie gut fünfzehn große Sattelzugkraftfahrzeuge schon alleine für ihren Bühnenbau. Achtzehn davon, genauer genommen, und hinzukommen mindestens zwei XXL-Kräne, die dafür eingesetzt werden, die Kilometer langen Kabel zu legen und die monumentalen, wie Mikado-Stäbchen ausgelegten Stahlträger in die Luft zu heben und an die richtige Stelle zu bringen.

Patriarchalische Provokationen

Gigantomanie und germanisches Gebrüll. Zwei globale Kennzeichen von Rammstein. Mittlerweile hat Rammstein mehr als zwanzig Millionen Tonträger verkauft. Das sind die taffen Kerle, die musikalisch von Anfang an zu der Neuen Deutschen Härte zugerechnet wurden. Ihre Bühnenshow und ihre Videos strotzen nur so vor einer Bildästhetik, die unweigerlich an die Schöpfungen von Richard Wagner und Albert Speer erinnern. Von Leni Riefenstahl ganz zu schweigen. Aber weshalb sollte man über die Lieblingsregisseurin des zweitletzten Reichskanzlers schweigen?

Riefenstahl, die 2003 mit 101 Jahren starb, wäre bestimmt stolz gewesen, die Widerspiegelung ihres Stiles und ja ihrer Schnitte in dem visuellen Repertoire Rammsteins zu erblicken. Fakt ist, Rammstein verwendete 1998 im Musikvideo zum Cover des Depeche-Mode-Songs Stripped Filmmaterial aus Riefenstahls sechzig Jahre früher uraufgeführtem Werk Olympia. Es wurde zum ersten Video der Band, das die Ehre genoss, auf einer Playlist-Rotation von MTV eingesetzt zu werden.

Lindemann, im wahren Leben ein seit 1996 ausgebildeter Pyrotechniker, wusste auch, weiterhin für Brisanz zu sorgen. Wohl mit Themen, die Rammstein keinen Gastauftritt im ZDF-Fernsehgarten bescheren: Inzest, Kannibalismus, Nekrophilie und ja Politik.

2019 beim Video zur Single-Auskoppelung des Liedes Deutschland inszenierten sich Lindemann und seine Kollegen Landers, Lorenz und Riedel, als KZ-Häftlinge in gestreiften Uniformen und jeweils mit einem Galgenstrick um den Hals. Umringt wurden sie von Nazi-Soldaten. Ruby Commy, eine Afrodeutsche, spielt ohne White-Face die Germania. Im Kreißsaal bringt sie Schäferhunde zur Welt, und vor dem Ende des knapp 10-minütigen Videos schneidet sie Lindemann sogar das Haupt ab. Provokationen, welche die Kritikaster*innen sich die Köpfe heißer reden lassen, während die Kassen lauter klingeln und die Klickzahlen höher steigen.

„Wer den Holocaust zu Marketingzwecken missbraucht, handelt verwerflich und unmoralisch“, ermahnte Josef Schuster als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Andere meinten dahingegen, Rammsteins Grenzüberschreitungen seien doch die hohe Kunst der historischen Aufarbeitung. Schon 2010, also noch vor jenem Video, beteuerte sogar der linke Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek beschwichtigend gegenüber der taz: „So wie Charlie Chaplin in Der große Diktator Hitler zwischen Gebrabbel nur ,Apfelstrudel’ und ,Wiener Schnitzel’ sagen lässt, so sabotiert Rammstein auf obszöne Weise die faschistische Utopie.“

Zudem weisen viele Rammstein-Versteher*innen auf den vermeintlich entlastenden Text aus dem Lied Deutschland hin. Ihre Exegese stürzt bzw. stützt sich auf die Strophen: Deutschland, deine Liebe ist Fluch und Segen, / Deutschland, meine Liebe kann ich dir nicht geben!“

Ich habe mich mit einigen Fans der Gruppe unterhalten, die sich als eher politisch rechts outen. Halb so wild, sagen sie. Denn sie können eine Multikulti-Mutter und die bunte Republik auch nicht lieben. Wiederum sehen und begrüßen linke Fans in demselben Text eine avantgardistische, wenngleich authentisch anmutende Absage an das Vaterland.

Verse sagen und das Versagen

Mit dem Lied Pussy vom Album Liebe ist für alle da (2009) thematisierte Rammstein den Sextourismus, und das wäre eine Gelegenheit gewesen, über das Übel Menschenhandel aufzuklären. Aber das dazugehörige Video, teils in einem Charlottenburger Puff aufgenommen, erweckt eher den Eindruck, das Thema voyeuristisch und mit Macho-Macker-Gaze ausschlachten zu wollen: „Schönes Fräulein, Lust auf mehr, Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr“. Auf Pornokanälen kann man das sehr explizite Video in unzensierter Form sehen. In dem zeitnah erschienen Single Ich tu dir weh heißt es: Du blutest für mein Seelenheil / Ein kleiner Schnitt und du wirst geil / Der Körper schon total entstellt / Egal, erlaubt ist, was gefällt. Das ganze Album wurde als jugendgefährdend indiziert.

Jugendgefährdend ist wohl auch „Zero Row“. Hier geht es nicht um einen Tonträger, sondern um die Reihe Null vor der Bühne. Da, wo die heißbegehrten Sitze sind, können Frauen mehr als das Absengen ihrer Augenbrauen erleben. In den letzten Tagen erlangte die Feuerzone eine unrühmliche Bedeutung, als die 24-jährigen Irin Shelby Lynn nach ihrem Besuch eines Rammstein-Konzertes in der litauischen Hauptstadt Vilnius schwere Anschuldigungen gegen Lindemann erhob. Inzwischen überschlagen sich die Ereignisse, als weitere Frauen sich mit ähnlichen Vorwürfen melden. Von systematischen Sex-Castings und heimlichen verabreichten Betäubungen im Backstagebereich ist die Rede.

Der Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch (KiWi), der 2013 Lindemanns Lyrikband 100 Gedichte veröffentlicht hatte, trennt sich nun von ihm nach der Kenntnisnahme eines neuen Pornovideos, in dem er – oder sein lyrisches ich – misogyne Gewalt zelebriert. Blöd nur, dass den Text „Wenn du schläfst“ in jenem Buch erscheint: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. (…) Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst. (…) Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas). Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.“  Nach zehn Jahren hat der Verlag es wahrgenommen.

Von den Vorwürfen gibt sich die Band „sehr getroffen“ und warnt zugleich gegen Vorverurteilungen. Scheinbar versteht sie die Welt nicht mehr. Aber wie viel hat die Welt bei diesem Unfall mit Ansage wirklich verstanden.

Die Verse, die Vergewaltigung verherrlichen, waren der Welt längst zugänglich, und das Versagen fand auf vielen Ebenen statt. Fakt ist, die Bad Boys gehören zur Bourgeoisie, wie es auch der Fall bei Hip-Hop und Gangster Rap ist. Es ist Big Business. Derweil Rammstein und das Publikum voreinander auf die Knie gehen, machen die Veranstaltenden den Kotau vor dem Kapitalismus. Und was sagte die Politik händeringend dazu? Row Zero und Aware-Teams einsetzen.

Solch vermeintlich philanthropischen Präventivmaßnahmen beinhalten im Grunde genommen, darauf zu hoffen, dass das strukturelle Problem der Feuerzone wie Schall und Rauch verschwindet. Es ist naiv und zugleich heuchlerisch. Natürlich gilt in dubio pro reo, und noch nichts wurde bewiesen. Wenn die Verdachtsmomente sich erhärten, müssen Täter:innen das Handwerk gelegt werden. Das gelte auch für eine lang überbewertete und bedenklich mit der NS-Ästhetik spielende Band mitsamt ihrer Komplizenschaft.

 

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