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Seitenblick Eine ungewisse Zukunft – Die Situation jugendlicher Geflüchteter

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Foto: © Amadeu Antonio Stiftung

In Deutschland leben nach Angaben der Selbstorganisation jugendlicher Geflüchteter „Jugendliche ohne Grenzen“ (JOG)  ca. 170.000 Menschen (2014) mit einer Duldung oder Aufenthaltsgestattung, darunter etwa 47.000 Kinder und Jugendliche. Eine Aufenthaltsgestattung erhalten Menschen, über deren Asylantrag noch nicht entschieden wurde. Eine Duldung ist eine Aussetzung der Abschiebung; das heißt, der Asylantrag wurde bereits abgelehnt und die Person darf aus humanitären Gründen wie Krankheit, oder Bürgerkrieg im Herkunftsland, vorübergehend in Deutschland bleiben.

Wenig Kontakt zu Mitschüler*innen

Betroffene Menschen mit diesem ungesicherten Aufenthaltsstatus werden in sehr vielen Lebensbereichen, auch in der Schule und in der Ausbildung, stark beschränkt. Junge Menschen mit Duldung oder Aufenthaltsgestattung sind nicht nur von Sprachkursen, BaFöG und Berufsausbildungsbeihilfe ausgeschlossen, sondern leben in den Sammelunterkünften oft in isolierter Lage mit wenig Kontakt zu ihren Mitschüler*innen. In den überfüllten und schlecht ausgestatteten Sammelunterkünften müssen meist mehrere Menschen zusammen in einem Zimmer leben. So fehlt es an Möglichkeiten, sich in Ruhe zum Lernen oder für das Erledigen der Hausaufgaben zurückzuziehen. Aufgrund dieser beengten Wohnverhältnisse und dem Mangel an Privatsphäre sind Jugendliche in der Schule oft unkonzentriert und müde. Sie leben in ständiger Angst, jederzeit abgeschoben werden zu können; ihre Zukunft in Deutschland ist ungewiss. Die Aufmerksamkeit unter diesen Umständen auf die Schule zu richten, ist kaum möglich. Menschen mit einem ungesicherten Aufenthaltstitel haben, wie oben beschrieben, kein Anrecht auf Sprachkurse. Sprachkenntnisse sind aber eine zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und den Zugang zu Bildung.

Unüberwindbare Hürden: Kein Anspruch auf BaFöG und Berufsausbildungsbeihilfe

Gestattete und geduldete Menschen unterliegen bis auf wenige Ausnahmen außerdem einem Arbeitsverbot. Erst nach vier Jahren ist ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt erlaubt. Hierbei greift jedoch die so genannte Vorrangregelung, der zufolge der Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zuerst Deutschen, dann EU-Bürger*innen und dann Menschen mit einem sicheren Aufenthaltsstatus zusteht, bevor er an Geduldete oder Gestattete vergeben wird. Aufgrund des Arbeitsverbots und der Vorrangregelung sind junge Geflüchtete in der Regel gezwungen, statt einer beruflichen eine schulische Ausbildung zu absolvieren. Aber auch hier gibt es fast unüberwindbare Hürden: Junge Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus besitzen keinen Anspruch auf BaFöG und Berufsausbildungsbeihilfe. Wer eine Arbeitserlaubnis erhält, steht vor einem anderen Problem: Ausbildungsbetriebe gehen ein Risiko ein, wenn sie Bewerber*innen einstellen, die theoretisch jederzeit abgeschoben werden können. Deshalb entscheiden sie sich oftmals für Menschen deutscher Herkunft oder mit gesichertem Aufenthaltsstatus.

Kampagne „BILDUNG [S] LOS“

Die Selbstorganisation junger Geflüchteter „Jugendliche ohne Grenzen“ (JOG) hat 2012 die Kampagne „BILDUNG [S] LOS“ ins Leben gerufen, mit der sie auf die Diskriminierung junger Geflüchteter im Bildungssystem aufmerksam machen. Auf ihrer Internetseite findet sich Material zum Bestellen, aber auch zahlreiche Erfahrungsberichte Betroffener. Zum Beispiel berichten sie von Qawa Mohamed, der 1996 als Zehnjähriger mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland fliehen musste. In Deutschland konnte er zunächst die Schule besuchen und erlangte 2003 seinen Hauptschulabschluss. Anschließend fand er direkt eine Ausbildungsstelle als KfZ-Mechaniker. Weil Qawa und seine Familie nur geduldet waren, erhielten sie ein Arbeitsverbot – und ohne Arbeitserlaubnis durfte er auch keine Ausbildung beginnen. Von 2003 bis 2011 war er zur Untätigkeit gezwungen; erst jetzt, acht Jahre nach dem Hauptschulabschluss, kann er seinen Bildungsweg fortsetzen.

Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz – Der „gut integrierte Jugendliche“

Seit 2011 gibt es mit Paragraf 25a Aufenthaltsgesetz für in Deutschland geborene oder vor dem 14. Lebensjahr eingereisten „gut integrierte Jugendliche“ die Möglichkeit, unabhängig vom Status der Eltern ein Bleiberecht zu erhalten. Jugendliche sind laut Gesetz „gut integriert“, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Sechs Jahre ununterbrochener Aufenthalt in Deutschland mit Duldung, Gestattung oder Aufenthaltserlaubnis; sechs Jahre „erfolgreicher Schulbesuch“, Erlangung eines Schulabschlusses oder Nachweis eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes; keine erheblichen Straftaten und sportliche sowie ehrenamtliche soziale Aktivitäten. Der Aufenthaltstitel kann vergeben werden, „sofern gewährleistet erscheint, dass [der oder die Jugendliche] sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann“ (Aufenthaltsgesetz 2004, geändert 2011).

Junge Geflüchtete lernen nicht nur für einen guten Schulabschluss, sondern auch, um nicht abgeschoben zu werden.

Angesichts der oben geschilderten Lage, in der sich junge Flüchtlinge befinden, erscheint das Gesetz regelrecht zynisch. Die Bedingungen sind angesichts der rechtlichen Hürden wie Arbeits- und Ausbildungsverbot oder Ausschluss von Sprachkursen kaum zu erfüllen. Es ist eine Ausnahme und verdient höchsten Respekt, wenn „Integration“ trotz dieser widrigen Bedingungen gelingt. Das Zitat aus dem Gesetzestext zeigt, dass mit „Integration“ gewissermaßen eine Assimilation gefordert ist. Ein solches Gesetz bewirkt wenig, wenn die rechtlichen Regelungen den Zugang zum Bildungssystem weiterhin erschweren und das Bildungssystem den besonderen individuellen Voraussetzungen und Belangen von jungen Flüchtlingen weiterhin nicht Rechnung trägt. Das Wissen der jungen Flüchtlinge um den „erfolgreichen Schulbesuch“ als Bedingung für die Erteilung des Status §25a schafft zusätzlichen zu den schon bestehenden Ängsten und psychischen Belastungen weiteren Druck: Junge Geflüchtete lernen plötzlich nicht mehr nur für einen guten Schulabschluss, sondern, um nicht abgeschoben zu werden.

„Integrationsprognose“

Auch wenn es das Gesetz nicht explizit verlangt, fordert die Ausländerbehörde zur Erstellung der „Integrationsprognose“ mitunter auch Einschätzungen von Lehrer*innen. Diese wissen über die Situation der jungen Flüchtlinge häufig nicht Bescheid und sehen oft nur deren Unaufmerksamkeit und „Faulheit“ im Unterricht. Mit einer solchen Einschätzung können sie so ungewollt zu einer negativen „Integrationsprognose“ beitragen. Überhaupt ist das Wissen vieler Multiplikator*innen und Mitschüler*innen über Flucht, Asyl und die Lebenslagen junger Geflüchteter gering; im Unterricht und auch in der Ausbildung kommt das Thema so gut wie nicht vor. Lehrer*innen, denen das Thema wichtig ist und es gern im Unterricht besprechen möchten, schrecken mitunter vor der Komplexität, wie zum Beispiel der Aufenthaltstitel, zurück. Es gibt jedoch bereits viele gute Konzepte und Bildungsmaterial zum Thema, die zum Beispiel der Flüchtlingsrat Bremen als Übersicht zusammengestellt hat.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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