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Vom Straßenschläger zum NS-Idol Horst Wessel

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?Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen!? klang es im Dritten Reich allerorten. Das Lied, das heute nicht mehr gesungen werden darf, hat Horst Wessel, ein umtriebiger Berliner Sturmführer der SA, Ende der 1920er Jahre gedichtet. Heute gilt es als ?Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen? und ist damit gemäß Paragraph 86a des Strafgesetzbuchs verboten. Wer es dennoch singt, wie vor einigen Jahren ausgerechnet ein Polizeiobermeister aus Berlin-Neukölln, dem drohen hohe Geldstrafen. Nur die Mitglieder einiger rechtsextremer Kameradschaften stehen noch in Treue fest zu ihrem Horst. Nach dem Mauerfall sollen sie vereinzelt zu ?Gedenkbesuchen? an sein nur noch rudimentär erhaltenes Grab auf einem Berliner Friedhof im ehemaligen Ostteil der Stadt gepilgert sein. Dabei gab es, so die Berliner Generalstaatsanwaltschaft, keine nennenswerten Zwischenfälle. Nach wie vor ist Horst Wessel eine Symbolfigur für die extreme Rechte. Da er schon 1930 starb, ist er für die Verbrechen des Regimes zwischen 1933 und 1945 nicht unmittelbar verantwortlich zu machen. Das erleichtert die Verklärung: Wessel verkörpert für seine Anhänger den reinen und idealistischen, unbeugsamen und zugleich schlagkräftigen Nationalsozialisten. Ebenso wie Wessel sehen sich auch die heutigen Rechtsextremen als Kämpfer gegen ein übermächtiges, ihnen feindlich gegenüberstehendes Gesellschaftssystem, dominiert von einer angeblichen Allianz aus Politik, Massenmedien und Polizei.

Frühe Prägungen

Horst Wessel wurde als erstes Kind des Pfarrers Dr. Ludwig Wessel und seiner Frau Margarete am 9. Oktober 1907 in Bielefeld geboren. 1913 zog die Familie nach Berlin, wo Vater Wessel eine Pfarrstelle an der Nikolai-Kirche antrat. Während des Ersten Weltkriegs predigte er als Feldgeistlicher. Seine Kinder wuchsen in einem betont national-protestantischen Umfeld auf. Noch als Schüler kam Horst Wessel in Kontakt zu konservativen und rechtsradikalen Jugend- und Wehrverbänden. Wie viele jungen Männer auf der nationalen Rechten hatte er das Gefühl, das als positiv imaginierte ?Kriegserlebnis der Väter? versäumt und von der krisengeschüttelten Republik betrogen zu sein. Nach dem Abitur schrieb er sich an der Berliner Universität für Rechtswissenschaften ein und trat im Herbst 1926 der SA und der NSDAP bei. In den folgenden Jahren engagierte sich Wessel stark und mit zunehmendem Erfolg innerhalb der SA. Im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain, einer kommunistischen Hochburg, in der er 1929 einen SA-Trupp übernahm, soll sich unter seiner Führung in wenigen Monaten die Zahl der SA-Leute verdreifacht haben. Aus dem Trupp wurde schnell der ?Sturm 5?, berüchtigt für seine exzessiven Gewalttaten. Auch als Redner auf Parteiveranstaltungen war Wessel beliebt. Der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels wurde auf das politische Talent aufmerksam. Er attestierte ihm einen ?fabelhaften Idealismus?.

Märtyrer der Bewegung

Doch die Kariere des aufstrebenden, aktionistischen Parteifunktionärs und Straßenkämpfers endete jäh. Am Abend des 14. Januar 1930 wurde Wessel von einer Gruppe, deren Anführer der kommunistischen Sturmabteilung Berlin-Mitte angehörten, in seinem Zimmer unweit des Alexanderplatzes überfallen und niedergeschossen. Auslöser des Angriffs war ein Streit des jungen Nationalsozialisten mit seiner Untermieterin, doch spielten auch politische Motive eine Rolle. Ein Schuss aus nächster Nähe traf Wessel ins Gesicht und zerfetzte seinen Unterkiefer. Seine Freundin, eine ehemalige Prostituierte, war dabei Zeugin. Der Schwerverletzte starb am 23. Februar 1930 an einer Blutvergiftung, einer Folge der Schussverletzung. Er wurde nur 22 Jahre alt. Das Krankenhaus, in das er eingeliefert worden war, trug vom Sommer 1933 an ebenso seinen Namen wie der Stadtbezirk, in dem sich die Tat ereignet hatte. Wessels Sterbezimmer gestalteten die Nationalsozialisten zur Gedenkstätte um. Seine ehemalige Schule und das Haus, in dem die Familie Wessel in den zwanziger Jahren eine Pfarrwohnung bewohnt hatte, wurden mit Gedenktafeln versehen. Der Überfall erregte damals einiges Aufsehen, bedeutete er doch eine weitere Eskalation in der bürgerkriegsähnlichen Spätphase der Weimarer Republik. Die kommunistische Zeitung Rote Fahne titelte: ?SA-Führer aus Eifersucht umgelegt?. Sie nannte Wessel einen Zuhälter, der bei einer Auseinandersetzung im Milieu ums Leben gekommen sei, und bestritt jegliche Verantwortung der Kommunistischen Partei für die Tat. Die nationalsozialistische Berliner Arbeiter-Zeitung sprach dagegen von einem ?Rotmord- und Wildwest-Überfall?, der nicht unbeantwortet bleiben werde. Die Nazis drohten, die kommunistische ?Giftbrut? demnächst ?mit Stumpf und Stiel auszurotten, […] so wie man Ratten oder Wanzen vertilgt?. Nach der ?Machtergreifung? rechneten sie gnadenlos mit den ?Wessel-Mördern? ab. Der Haupttäter wurde im September 1933 von einem Hinrichtungskommando, das aus hochrangigen SA-Führern und dem Chef der neu gegründeten Geheimen Staatspolizei bestand, in einem Waldstück östlich von Berlin erschossen und verscharrt. Seine Leiche kam erst ein Jahr später wieder an die Oberfläche.

Der Horst-Wessel-Kult

Die Beerdigung Wessels nutzte der damalige Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, um den Verstorbenen zu einem ?deutschen Helden?, einem Vorbild für die Jugend und das kommende nationalsozialistische Deutschland zu stilisieren. Zwar hatte die preußische Polizei für den Tag der Beisetzung öffentliche Versammlungen und das Zeigen der Haken¬kreuz¬fahne auf der Straße verboten, doch wurde der Trauerzug von Gefolgsleuten wie Gegnern am Straßenrand beobachtet. Auf dem Bülowplatz, vor der Kommunistischen Parteizentrale, kam es zu lebhaften Protesten. Aufgebrachte Demonstranten versuchten sogar, den Sarg vom Leichenwagen zu zerren. Schwer bewaffnete Polizeibeamte schützten den Leichenzug. Auf dem Friedhof, wo sich die Nationalsozialisten versammelt hatten, hielten Goebbels und der damalige Oberste SA-Chef, Franz Pfeffer von Salomon, pathetische Ansprachen. Der ?Arbeiterapostel? und ?Christussozialist? Wessel habe sein Leben, so verkündete Goebbels mit zahlreichen Anspielungen an die Passionsgeschichte Jesu, für die ?Bewegung? und Deutschlands nationale Wiedergeburt freudig geopfert. Anwesend waren damals auch Hermann Göring und Prinz August Wilhelm von Preußen, der als ?Nazi-Prinz? bekannt war. Im Auftrag der NSDAP wurden Filmaufnahmen gemacht. Auf der Friedhofsmauer stand in weißen Lettern: ?Dem Zuhälter Wessel ein letztes Heil Hitler!? Goebbels schäumte vor Wut, spekulierte jedoch darauf, diese als Propagandaschlacht gestaltete Beerdigungszeremonie zu gewinnen: ?Draußen rast der Pöbel. Er rast und wir gewinnen. Berge von Kränzen. Volksgemeinschaft! Der noch gesund empfindende Arbeiter wendet sich mit Abscheu von dieser zynischen Rohheit.?

NS-Erinnerungskultur

Die Erfahrungen bei der Beerdigung Wessels standen ein knappes Jahr später Pate bei der Aufstellung von ?Richtlinien? für die einheitliche Ehrung getöteter SA-Männer. ?Soweit es der gute Geschmack irgendwie erlaubt?, hieß es dort bezeichnend, solle um getötete SA-Männer ein derartiger Kult getrieben werden, dass ?das Sterben für die Bewegung nahezu erstrebenswert erscheint?. Der tote SA-Mann müsse durch seinen Tod noch einmal der Bewegung nutzen. In der nationalsozialistischen Erinnerungskultur wurde die Beerdigung Wessels nach Kräften verklärt und zu einem quasireligiösen Moment im Kampf gegen die Weimarer Republik gemacht. Der Trauermarsch durch die Stadt sei, allen Anfeindungen zum Trotz, ein ?Triumphzug des nationalsozialistischen Willens? gewesen.

Hitler spricht

1933 erreichte der Kult um Wessel seinen Höhepunkt. Zur Einweihung des Wessel-Grabsteins auf dem Berliner Friedhof sprach Adolf Hitler. Nur wenige Tage bevor er zum Reichskanzler ernannt werden sollte, prophezeite er: ?Noch in Hunderten von Jahren, wenn vielleicht kein Stein mehr in dieser großen Stadt auf dem anderen stehe, werde die deutsche Freiheitsbewegung der Nationalsozialisten und das Andenken ihres Sängers unvergessen in der Erinnerung der Menschen sein.? Einige Monate später machte Hitler das Wessel-Lied zum verpflichtend zu singenden Appendix an das ?Lied der Deutschen? und damit de facto zu einer zweiten Nationalhymne. Der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers, dessen 1932 erschienener Wessel-Roman zur Verbreitung des Wessel-Mythos maßgeblich beitrug, produzierte einen Spielfilm über den toten Sturmführer, nicht zuletzt, um aus der veränderten politischen Lage Kapital zu schlagen. Nach Unstimmigkeiten mit dem inzwischen zum Reichspropagandaminister aufgestiegenen Goebbels kam dieser Film jedoch erst zum Jahreswechsel 1933/1934 unter dem verfremdeten Titel ?Hans Westmar. Einer von vielen. Ein deutsches Schicksal aus dem Jahr 1929? in die Kinos.

?Verkünder des Friedens?

Auch Margarete Wessel, die Mutter Horsts, sowie ihre Tochter Inge befeuerten nun, aus durchaus nicht uneigennützigen Motiven, den Kult um den toten ?Helden?. Die ersten Nationalsozialisten stilisierte Inge Wessel in einem Gedenkbuch zu Ehren ihres Bruders zu aufrechten, unverwundbaren Anhängern einer neuen Religion, deren ?Religionsstifter? Adolf Hitler gewesen sei, ?der Verkünder des Friedens zwischen Stirn und Faust, der echten ?Volksgemeinschaft?. Wie die ersten Christen, so schrieb Inge Wessel, schritten auch die ersten Nationalsozialisten angeblich ?mit dem Lächeln des Wissenden durch ein Meer von Verfolgungen, Haß, Hohn, Spott und Unverständnis? hindurch. Tatsächlich jedoch hatte der Friedrichshainer SA-Verband unter Horst Wessel vielen als brutale Schlägertruppe gegolten. Saalschlachten mit dem politischen Gegner waren damals ebenso an der Tagesordnung wie Straßenüberfälle, bei denen immer öfter auch Messer und Schusswaffen eingesetzt wurden.

Wessel-Platz, Wessel-Straße

Mitte der 1930er-Jahre gab es in beinahe jeder deutschen Stadt eine Wessel-Straße oder einen Wessel-Platz. In Bielefeld, der Geburtsstadt Wessels, errichteten Nationalsozialisten einen Gedenkstein auf den Höhen des Teutoburger Waldes. Im Weserbergland begann man in der Nähe von Hameln mit dem Bau einer überdimensionalen Wessel-Kultstätte, die nicht zuletzt den Tourismus ankurbeln sollte. Ein Segelschulschiff, ein Jagdgeschwader und später auch eine SS-Freiwilligeneinheit trugen den Namen des toten Parteifunktionärs und Lieddichters. Schon im Sommer 1933 stand der ?Wessel-Stoff? auf dem Lehrplan der dritten Klassen. Wenige Jahre später sollten junge Soldaten im Gedenken an Wessel in den Krieg um den ?Lebensraum im Osten? ziehen. Dieser sei, so verkündete SA-Stabschef Viktor Lutze 1940, ?auch heute unsichtbar im Herzen eines jeden Kämpfers allgegenwärtig?.

Nach 1945

Mit dem Untergang des Dritten Reiches endete auch der offizielle Wessel-Kult. Aus Horst-Wessel-Stadt wurde im Juni 1945 wieder der Berliner Stadtbezirk Friedrichshain. Die zahlreichen Denkmäler und das Wessel-Grab wurden geschleift und schnell vergessen. Mutter und Tochter, im Dritten Reich durchaus prominent, tauchten zunächst in der Nähe von Hannover und später am Niederrhein unter. Die Geschichte vom toten Sturmführer, der die Arbeiterschaft für die völkische Rechte gewinnen wollte, galt nun ausschließlich als Meisterstück Goebbelscher Propaganda.

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