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Kommentar zu Rostock-Lichtenhagen In guter Gesellschaft?

Beim Gedenken an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren wird ein kritischer Blick versucht – trotzdem fehlt ein entscheidender Aspekt fast immer: Dem rassistischen Mob ist es vor 20 Jahren gelungen, auf die deutsche Asylpolitik entscheidenden Einfluss zu nehmen. 

 

Der Bundespräsident sparte nicht mit Kritik. Bei der zentralen Gedenkfeier zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor zwanzig Jahren verschonte er weder die staatlichen Stellen noch die damals beteiligten Bürger. Die Frage, wo der Staat war, als Menschen mit mehrtägiger Ansage  im Feuerschein der Molotows um ihr Leben fürchten mussten, ist bis heute nicht vollständig aufgearbeitet. Verfolgte man in den vergangenen Tagen die Berichterstattung der  überregionalen Presse, so wurde dieser Aspekt von nahezu allen Redaktionen aufgegriffen. Die damaligen Opfer kamen zu Wort, und auch über die positiven Veränderungen der Rostocker Stadtgesellschaft wurde berichtet. Das ist gut so und hilft bei der Aufarbeitung.

Ein zentraler Zusammenhang kam jedoch zu kurz. Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen wurden politisch instrumentalisiert, um das frühere Grundrecht auf Asyl nahezu vollständig auszuhebeln. Eine ganz große Koalition von SPD, CDU, CSU und FDP einigte sich damals auf die Änderung des Artikel 16a des Grundgesetzes. In den Jahren zuvor waren die Zahlen der Asylsuchenden deutlich gestiegen und die Unterbringung der Flüchtlinge vor Ort überforderte viele Kommunen. Eine politische Antwort war auf dieses Problem nötig. Der de facto Abschaffung des Grundrechts haftet jedoch bis heute der Makel an, dass man damit dem Mob von Lichtenhagen nicht entgegen getreten ist, sondern seiner zentralen Forderung Recht gegeben hat. Ein selbstkritisches Wort der Parteien und Beteiligten, die dies zu verantworten haben, habe ich in den letzten Tagen vermisst. Ohne Selbstkritik in diesem Punkt bleibt jede  Betroffenheitslyrik schal.

Bei der Gelegenheit lohnt sich auch ein Blick ins Archiv. Meinungsführer wie der „Spiegel“ schürten damals Ängste vor Flüchtlingen in unsäglicher Weise. Der Mob von Lichtenhagen wusste sich thematisch in guter Gesellschaft. Ein Blick in viele Zeitung reichte, um sich in seiner Furcht und seinem Hass auf Flüchtlinge direkt oder indirekt bestätigt zu fühlen. Über diese gute Gesellschaft muss heute auch gesprochen werden, wenn wir es mit der Aufarbeitung wirklich ernst meinen. Die Rostocker Stadtgesellschaft hat einen Anfang gemacht und sich die Sache nicht einfach gemacht. Jetzt fehlen noch die selbstkritischen Töne der Parteien und Pressevertreter. Weder für den Machterhalt noch für die Auflage darf jemals wieder einem mörderischen Mob Recht gegeben werden.  Das wäre eigentlich eine selbstverständliche Lehre aus der damaligen Katastrophe. Glaubhaft ist sie nur beim öffentlichen Eingeständnis schwerer Fehler und Verfehlungen. Ich hoffe, dass dazu nicht wieder zwanzig Jahre ins Land gehen müssen.

Dr. Dierk Borstel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld.Praktisch arbeitet er zu Rechtsextremismus im Rahmen der Initiative EXIT-Deutschland. Weitere Kommentare von Dierk Borstel hier.

Mehr auf netz-gegen-nazis.de:

| „Das Problem heißt Rassismus“ – Gedenken an Rostock-Lichtenhagen

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