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Jahresrückblick 2021 Schleswig-Holstein – Was rechts ist im Norden

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Die Gaststätte "Titanic", Treffpunkt der rechtsextrem orientierten Szene in Neumünster, musste 2021 ihre Räumlichkeiten aufgeben - wurde aber an einem anderen Ort in Neumünster im Dezember wiedereröffnet. (Quelle: Screenshot)

In dem Land zwischen Nord- und Ostsee ist die AfD im Landtag weiterhin die vermeintliche Alternative weit rechts von der Union. Im Kieler Landesparlament verlor sie zwar wegen internen Streitereien und anhaltenden Rechtsentwicklung im Landesverband ihren Fraktionsstatus, sie ist aber dennoch als „Zusammenschluss“ präsent. Der Ältestenrat des Parlamentes hat den drei Abgeordnete um den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Jörg Nobis diesen Status zugestimmt, sodass sie im Landtag handlungsfähiger sind. Die Herren bemühen sich, aktuelle Themen aufzugreifen und sich als „die Stimme der einfachen Leute“ und des lokalen Mittelstandes gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zu gerieren. Eine Position: „Einkaufsverbote für Ungeimpfte setzt Einzelhandel unnötig unter Druck“ oder eine weitere: „2022 ohne Grundrechte – Widerspruch bleibt aus“. Im Landtag präsentieren sie allerdings keine plakativen Verschwörungsnarrative zur Pandemie. Sie warnen jedoch: „Ungeimpfte Pflegekräfte nicht ausgrenzen!“, und beklagen „Verwirrung um tatsächliche Zahl der Impfdurchbrüche“. Ganz auf Bundesparteilinie wettern sie gegen E-Mobilität und „Gendersprache“.  Ein Konflikt beeinflusst aber die Landtagsgruppe wie den Landesverband.

Seit gut zwei Jahren ist die AfD in Schleswig-Holstein mit ihren rund 1100 Mitglieder zutiefst gespalten. Der Grund: die ehemalige Landesvorsitzende Doris von Sayn-Wittgenstein, die für die AfD mit in den Landtag zog. Bereits am 4. Dezember 2018 schloss die damalige Fraktion sie aber aus, nachdem bekannt geworden war, dass sie 2014 den von der Holocaustleugnerin  Ursula HaverbeckWetzel mitgegründeten Verein „Gedächtnisstätte e. V.“ beworben hatte. Wenige Tage später berichtetet die taz, dass ihr E-Mailverkehr weitere Vernetzungen von rechtsextremen Kulturvereinen, Freund:innen der Waffen-SS, Holocaust-Leugner:innen und Verfechter:innen einer Reichsideologie bis zum internationalen Rechtsextremismus aufweise. Der Bundesvorstand setzte gegen Widerstände aus dem Landesverband 2019 ein Parteiausschluss durch. 2021 gelang von Sayn-Wittgenstein per Klage vor dem Berliner Landgereicht den Rauswurf aufzuheben.

Bis heute ist wegen dieses Konfliktes der Landesvorsitz vakant. Die tiefe Zerstrittenheit, die der AfD den Fraktionsstatus kostete, da ein weiterer Abgeordneter die Fraktion verließ, als auch die geringe Präsens der Partei im Lande führt nach einer Umfrage aber nicht zu einem Verlust der Wähler:innengunst. Im November 2021 lag die AfD nach einer repräsentativen Insa-Wahlumfrage bei sieben Prozent. Sie gewann 1,1 Prozent mehr dazu.

Der Zuspruch könnte aus dem Spektrum der Ungeimpften kommen. Nach einer Forsa-Umfrage aus den November gaben 50 Prozent der nicht geimpften Wähler:innen an, bei der Bundestagswahl 2021 ihre Stimme für die AfD abgegeben zu haben.  In den vergangenen Monaten hatte sich die AfD bundesweit massiv gegen die staatlichen Covid-19-Regeln positioniert.

Die Relevanz der AfD hat im hohen Norden der Akzeptanz der NPD weiter geschadet. Den Verband um Mark Proch verließen stetig Mitglieder. 2008 hatte die NPD 240 Parteihänger:innen, heute soll sie rund 100 Parteifreund:innen vereinen. Die älteste rechtsextreme Partei Deutschland ist dennoch aktiv. Ihr Hotspot: Neumünster. In der Stadt ist Mark Prock zusammen mit Horst Micheel Stadtrat. Bei der Kommunalwahl 2018 erreichte die NPD 3,8 Prozent.

Die wichtigen Akteur:innen der antidemokratischen Szene

In Neumünster ist die NPD durch eine Besonderheit auch ein relevanter Akteur. Seit Jahren betreibt Horst Micheel die Gaststätte „Titanic“. Sie ist der Szenetreff von NPD über Freie Kräfte bis zur Rocker-Szene. Dem zivilgesellschaftlichen Druck dürfte geschuldet sein, dass die „Titanic“ 2021 ihre Räumlichkeiten nahe dem Bahnhof in der Innenstadt aufgeben musste. Das Team um den NPD-Ratsherr konnte aber im Stadtteil Faldera die „Titanic“ schon Anfang Dezember wiedereröffnen. Die Besitzer des Gebäudes, eine Immobilienfirma, wollte von dem politischen Hintergrund nichts gewusst haben. Bisher störten sie die neuen Nutzer:innen auch nicht, sagte die Firma der taz. Nichts gewusst? Schwer vorstellbar, die „Titanic“ hat wegen der rechten Veranstaltungen und Rechtsrockabende immer wieder für mediale Resonanz gesorgt. Aber auch weil die Kampagne „Titanic versenken“ regelmäßig auf die Szene-Gaststätte hinweist. Denn schon eine frühere Kneipe „Club 88“ im Stadtteil Gadeland führte zur Etablierung und Stabilisierung der Szene vor Ort. Hier entstand ein bis heute bestehende Mischszene von Rechtsextremen und Rockern.

Die Bedrohung durch diese Mischszene offenbarte sich im Oktober 2021. Die Polizei ging gegen den „Berserker Clan“ in vier Bundesländer vor. Mehrere Razzien erfolgten in Schleswig-Holstein. Die Ermittelnden suchten in Elmshorn, Brunsbüttel, Marne Barmstedt, Hadenfeld und Windbergen Objekte auf und stellten Schusswaffen, Munition, Hieb- und Stichwaffen, Datenträger aber auch Betäubungs- und Dopingmittel sicher.  Der Clan steht im Verdacht, sich auf einen „Tag X“ vorbereitet zu haben – für einen bewaffneten Aufstand gegen die bestehenden Strukturen der Bundesrepublik.

Eine militante Gruppe agiert zudem in der Region Bad Segeberg. Der mehrfach verurteile Rechtsextreme Bernd Tödter führt in seiner Geburtsstadt den „Aryan Circle Germany“ an. Im Juli 2021 verurteile das Amtsgericht ihn unter anderen wegen Körperverletzung zu fünf Monaten Haft.  Aus dem „Circle“ wurden Unterstützer:innen des Klimastreit-Bewegung bedroht, zwei Personen, die Aufkleber mit rechten Parolen entfernen wollten, wurden angegriffen.

In Schleswig-Holstein stellte ZEBRA (Zentrum für Betroffene rechter Angriffe e.V.) fest, dass der gesellschaftliche Stillstand durch die staatlichen Pandemie-Maßnahmen kaum zur Senkung von rassistischen oder rechtsextremen Angriffen geführt habe. Weiterhin fänden viele Beratungsarbeiten statt, bei denen es um rassistische Vorfälle an Schulen oder Betrieben geht. Mitschüler:innen mit Migrationshintergrund werden zum Teil massiv diskriminiert. In WhatsApp-Gruppen von Schüler:innen wurde immer wieder der Nationalsozialismus verherrlicht und gegen Geflüchtete und auch gegen Mitschüler:innen gehetzt. Antisemitische Vorfälle, beobachtete LIDA (Landesweite Information- & Dokumentationsstelle Antisemitismus), vor allem im Kontext der Proteste gegen die Covid-19-Maßnahmen. Schon 2020 wies LIDA darauf hin, dass auch weniger Fälle von Orten gemeldet wurden, deren Nutzung durch die Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt waren, wie Kultur- oder Sportveranstaltungen. Von einer Entspannung kann während der Pandemie dennoch keine Rede sein, so ZEBRA.

Schon 2020 erfolgt am Rande einer Parteiveranstaltung der AfD am 17. Oktober in Henstedt-Ulzburg ein gezielter Angriff mit einem Auto auf Gegendemonstrant:innen. Erst nachdem Betroffene in der taz den Verlauf schilderten, sprachen die Ermittelnden nicht mehr von einem „Verkehrsunfall“. Bis heute ist das Verfahren gegen den bekannten Fahrer nicht vor Gericht eröffnet worden.

Die verschwörungsideologische Szene

In Zeiten der Pandemie sind die öffentlichen Aktivitäten des gesamten Szene mit ihren heterogenen Akteur:innen zurück gegangen. Die idealtypische Trennung zwischen rechtsextreme Szene und verschwörungsideologischen Spektrum hebt sich alleine bei den antisemitischen Narrativen auf.

Die Proteste gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen tragen ein sehr heterogenes Milieu. Die Akteur:innen kamen aus der bürgerlichen Mitte, sie pflegten auch einen alternativen Habitus. Der Protest im hohen Norden bildete bei einer Allianz keine Ausnahme zum Bundesgebiet: sich einreihende Rechtsextreme wurden nicht gebeten zu gehen. In Kiel bemühte sich die „Identitäre Bewegung“ (IB), die eng mit der „IB“ in Dänemark zusammenarbeitet, einzelne Aktionen zu unterstützen. In der „Compact – Magazin für Souveränität“ hatte der führende Kader der „Identitären Bewegung“ in Österreich und Deutschland, Martin Sellner, im September 2020 auch aufgerufen, dass die „Patrioten“ die „Corona-Rebellen“ unterstützen sollten. Die Bewegung könnte zu einer „patriotischen Notwehr des Volkes“ werden, schrieb er in dem rechtsextremen Magazin.

In Kiel, Flensburg, Lübeck, Eckernförde und Neumünster fanden Aktionen gegen die Covid-19-Maßnahmen – vom Testen bis zum Impfen – statt. Mit Beginn der Proteste warnten die Regionalen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus in Schleswig-Holstein gegen die virulenten Verschwörungsnarrative. Bei den Aktionen wurde früh verkündet, kein „Sklave von Bill Gates und Co.“ zu sein. Die Beratungsteams wiesen gleich auf den Zulauf aus der NPD, „Aryan Circle“ und „PEGIDA“-Ableger hin.

Die „Zuerst! Deutsches Nachrichtenmagazin“ befeuert auch über ihr Online-Portal die Verschwörungsvorstellungen, greift Kritiken wie „Hinter ‚Corona‘ stecken Gates, Schwab und Konsorten“ auf. In Martensrade in der Nähe der  Landeshauptstadt sitzt der Verlag „Zuerst! Deutsches Nachrichtenmagazin“ der zu „Lesen & Schenken GmBH“ um Dietmar Munier gehört. Eine der einflussreichsten Verlagsgruppe im rechten Milieu. Die Hetze wirkt! Im Jahr 2021 mussten die Beratungsteams gegen Rechtsextremismus eine Zunahme von Hass, Bedrohung und Gewalt gegenüber Mandatsträger:innen festgestellt.

 

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