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Jens-Christian Wagner Wer die Wehrmacht nicht ehrt, wird angezeigt

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Die Gedenktafel in Bergen-Belsen soll an die Opfer der Verbrechen von SS und Wehrmacht erinnern. (Quelle: Flickr / Jason)

Professor. Dr. Jens-Christian Wagner ist Historiker und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Am 09. November 2020 erhielt er Post von der Staatsanwaltschaft Göttingen. In der Mitteilung steht, gegen ihn wurde aufgrund einer vorliegenden Anzeige ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Grund seien „Behauptungen ehrenrühriger Tatsachen zum Nachteil der Wehrmachtssoldaten“ bzw. „üble Nachrede“, so Wagner. 28 Seiten soll die Anzeige lang sein, die von einem Bundeswehroffizier a. D. erstattet worden sein soll, wie die Welt berichtet. Dabei geht es um den Begleitband zur Ausstellung „Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehrmacht und der Truppenübungsplatz Bergen”, die 2019 in einer ehemaligen Wehrmachtskaserne, nahe der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen eröffnet wurde. 

Nach der medialen Aufmerksamkeit und Empörung reagierte der zuständige Richter des Oberlandesgerichtes in Göttingen und verkündete nur einen Tag nach Bekanntwerden der Anzeige, die Einstellung des Verfahrens. Trotzdem ist eine Auseinandersetzung mit diesem Fall relevant.

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Wagner weist daraufhin, dass derzeit eine Debatte im Stadtrat von Bergen darüber stattfindet, ob die Verbrechen der Wehrmacht in einer gemeinsamen Erklärung der Stadt und der Gedenkstätte Bergen-Belsen erwähnt werden sollen. Es geht darum, dass die FDP nicht möchte, dass „die Wehrmacht“ in der Erklärung steht, sondern „Teile der Wehrmacht“, während die AfD die gesamte Erklärung ablehnt. Wagner erklärt, dass dies „semantischer Unsinn“ ist, da mit dieser Formulierung nicht jeder Wehrmachtssoldat gemeint sei, sondern es vielmehr um die Wehrmacht als Institution gehe. Neben dem Konzentrationslager in Bergen-Belsen, in dem unter anderem Anne Frank ermordet wurde, kamen in einem weiteren Lager etwa 20.000 sowjetische Soldaten unter der Verantwortung der Wehrmacht ums Leben. Die Verwendung der Formulierung sei historisch völlig korrekt und gehöre seit den 1990er Jahren – nach dem langen Diskurs um die Wehrmachtsausstellung – zum geschichtspolitischen und wissenschaftlichen Konsens, so Wagner. 

Der Historiker erklärt, dass die Wehrmacht 1944/45 über die Hälfte der Wachmannschaften in den Konzentrationslagern gestellt hat und dass sie am Ende des Zweiten Weltkrieges außerdem den Befehl hatte, Gefangene „gleich zu erledigen“ und damit nicht mehr zu deportieren, sondern zu töten. Sie war damit eine erhebliche logistische Hilfe für das NS-Regime und ihre Soldaten waren an Massenerschießungen beteiligt. Unter anderem deswegen ist es mittlerweile nicht mehr abstreitbar, dass die Wehrmacht als Institution maßgeblich an den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg beteiligt und von der NS-Ideologie und -Praxis durchdrungen war.

Umgang mit dem Abstreiten der Verbrechen

Wenn der Stiftungsleiter auf Aussagen wie „Mein Opa war aber nicht an der Massenvernichtung beteiligt, obwohl er bei der Wehrmacht war“ stößt, dann argumentiert er so: Hitler kam damals durch freie Wahlen an die Macht, ihm wurde freiwillig entgegen gearbeitet, die gesamte Gesellschaft war von 1933 bis 1945 nazifiziert. Die Bevölkerung war indoktriniert von dem Gedanken, dass es ihr als Gesamtheit besser gehen würde, wenn bestimmte Gruppen von Menschen ausgelöscht werden würden, sodass sie dem System nicht mehr zur Last fallen würden. Nur sehr wenige Menschen haben in der radikal-rassistischen Gesellschaft eine (innere) Distanz aufgewiesen und diese auch geäußert.

Es scheint unbegreiflich, wieso einige Menschen heutzutage gekränkt sind, wenn Wissenschaftler*innen nicht positiv über die Verbrechen des Dritten Reiches schreiben oder sprechen. Dass die Gesellschaft Traurigkeit und Wut empfindet, wenn es um das Nazi-Regime geht, ist ein Zeichen von Menschlichkeit. Nun sind bestimmte Teile der Gesellschaft aber nicht mehr über die Taten der Nationalsozialist*innen traurig und wütend, sondern darüber, wie unsere heutige Gesellschaft die Zeit aufarbeitet, um ein präventives Bewusstsein dafür zu schaffen, damit so etwas nie wieder passiert. Gesellschaft und Staat sollten sich die Frage stellen, wieso sich Menschen mit rechtem Gedankengut dahingehend gestärkt fühlen, die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges in dieser relativierenden Art zu hinterfragen und öffentlich anzuprangern.

Wagner sagt, bei der Anzeige handle es sich zwar um einen Einzelfall, jedoch füge sie sich in das Gesellschaftsbild ein. Er kann eine klare Verschiebung nach rechts erkennen, was die Debatten- und Aufarbeitungskultur betrifft. Zwar handelt es sich auch hier um einen kleinen Teil der Besucher*innen, doch auch bei ihnen vernimmt Wagner einen Hang zur Radikalisierung: Die provokante bis aggressive Anzweiflung der Ausstellung und ihr Versuch der Relativierung häufen sich. Oft werden die NS-Verbrechen mit dem Stalinismus oder der Sklaverei in den USA verglichen, auch festige sich das Narrativ, das Massensterben in den Konzentrationslagern geschah, weil die Alliierten Transportwege bombardiert hätten und somit keine Lebensmittel befördert werden konnten. 

Wagner: neue Verschwörungserzählungen haben antisemitischen Kern

Mit dem Einsetzen der Corona-Pandemie bekamen rechtsextreme und geschichtsrevisionistische Meinungen einen Auftrieb, so Wagner. Der Umgang mit der Pandemie und den daraus resultierenden Einschränkungen werden mit dem NS-Regime gleichgesetzt. Antisemitische Vergleiche werden bei den „Querdenken“-Demonstrationen und in Partien eingesetzt: die AfD im Landtag Schleswig-Holstein vergleicht die Maßnahmen der Bundesregierung mit der antisemitischen Politik aus dem Dritten Reich, bei einer „Querdenken“-Demonstration in Karlsruhe spricht eine Elfjährige auf einer Bühne und erzählt, sie habe sich an ihrem Geburtstag gefühlt „wie Anne Frank im Hinterhaus“. Der AfD-Kreisverband Salzgitter hat in diversen Telegram-Gruppen eine Fotomontage von einem Tor mit der Inschrift „Arbeit macht frei“ geteilt, wie man sie aus den Konzentrationslagern in Dachau, Auschwitz und Sachsenhausen kennt – nur an die heutige Zeit angepasst: „Impfung macht frei“ (vgl. Süddeutsche Zeitung). All diese Beispiele führen von Verharmlosung bis hin zur Leugnung des Holocausts und nationalsozialistischen Verbrechen.

Es darf kein Verbrechen sein, realitätsgetreue Aussagen über Menschen zu treffen, die ehrenrührige Dinge getan haben. Nicht Wagner hat hier die Ehre von Wehrmachtssoldaten verletzt, die Wehrmacht handelte selbst „ehrenrührig“, indem sie den Nationalsozialisten mit Beteiligung an ihren Massenmorden diente. Wissenschaftliche Tatsachenbeschreibung kann keine Ehren verletzen, sondern hat die Aufgabe aufzuklären und zu beschreiben, zu was Menschen aufgrund eines indoktrinierten Weltbildes fähig sind, wenn die Mehrheit einer Gesellschaft und staatliche Institutionen im Sinne einer faschistischen Ideologie konzipiert sind und dementsprechend agieren. Der Kampf gegen Antisemitismus und Radikalisierung und stattdessen für demokratische Werte, Toleranz und Akzeptanz wird umso schwieriger, je weniger Zeitzeug*innen noch leben, die persönlich von den Gräueltaten der Nazis berichten können. Hier sieht Wagner die Aufgabe der Aufklärung und Aufarbeitung insbesondere bei den Gedenkstätten. Die Bereitstellung von historischen Informationen und Geschichtsvermittlung und eine deutliche Positionierung sind heute wichtiger denn je. Denn die Gedenkstätten können am besten Aufzeigen, wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft rassistisch und demokratiefeindlich argumentiert.

Das Artikelbild wurde unter der Lizenz CC BY-NC-SA 2.0 veröffentlicht.

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