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Kommentar Bedient man sich nach Belieben?

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Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Seit Sarrazin ein Fass aufgemacht hat, von dessen Inhalt wir zwar eine Ahnung hatten, aber es eigentlich nicht so genau wissen wollten, haben wir doch einiges gelernt. Ob die Debatte das alte Gesicht des „hässlichen Deutschen“ wiedererstehen lässt, oder am Ende doch nur kreischender Abgesang auf die Idee einer blutsdeutschen, völkischen Nation ist, ist noch nicht entschieden. Vielleicht ist es beides. Dem Rassismus – nennen wir es mal beim Namen – in der deutschen Gesellschaft, wie er sich jetzt wieder zeigt, muss endlich ins Auge geschaut werden. Und: im Grunde weiß es jeder – in einer globalisierten Welt kann es sich kein demokratisch konstituiertes Industrieland leisten, auf Einwanderung zu verzichten. Es müsste, um sich hier ein Umdenken zu ersparen, eines von beidem aufgeben: entweder die Demokratie oder den Wohlstand. So einfach ist das.

Symbol einer deutschen Perversion

Doch der Weg zur Erkenntnis ist lang und oft sehr hässlich. Im Moment versuchen Populisten es erstmal mit einem besonders widerlichen Manöver: sie kategorisieren die in Deutschland lebenden Minderheiten in gute und schlechte, in kluge und dumme, in integrierte und integrationsunwillige und wie zum Symbol einer besonderen deutschen Perversion – in Juden und Muslime. Das kommt gerade recht zum 9. November, dem Gedenktag zu Erinnerung an das, wozu Deutsche fähig waren: das industrielle Morden an den Juden Europas. Und nun, 65 Jahre nach dem Ende dieser Barbarei, nehmen deutsche Politiker die Juden in Anschlag um mit einer angeblich christlich-jüdischen Kultur gegen den Islam zu schießen. Mit den „Klugen“ gegen die „Dummen“, mit den „Zivilisierten“ gegen die „Unzivilisierten“, mit den „Ordentlichen“ gegen die „Schmarotzer“. Das klang vor 70 Jahren genauso – nur waren mit dem Bösen damals die Juden gemeint, während die Nazis im arabischen Raum mit dem Islam kokettierten. Also bedient man sich hier ganz nach Belieben?

Ist die Mehrheit liberal?

Und wie kommen Politiker wie Seehofer auf die Idee, den Juden könnte das gefallen? Vielleicht interessiert es sie auch keine Bohne, was die jeweiligen Minderheiten denken oder dabei empfinden. Aber wenn doch? Der schmerzvollste Kampf der Juden in den letzten Jahren bestand darin, sich eines Antisemitismus zu erwehren, der aus einem erneuerten, breiten Antiimperialismus sickert. Die zentrale Projektionsfläche darin ist Israel mit den USA als dessen Kolonie und umgekehrt. Auf dieser Fläche wurde auch der Antisemitismus aus muslimischen Milieus jahrelang ignoriert, geduldet oder sogar benutzt – ganz gleich ob er sich auf Israel bezog oder nicht. Die Juden waren deshalb gezwungen genauso inständig die Selbstverständlichkeit einzuräumen, dass man Israel durchaus kritisieren dürfe wie die Muslime sich dauernd erklären mussten, dass sie nicht alle Terroristen und Frauenhasser seien. Eine Mehrheitsgesellschaft, die Minderheiten derart nötigt, kann kaum als offen, liberal und am Grundgesetz werteorientiert bezeichnet werden. Beide Nötigungen sind geschichtsvergessen, verletzend und zeigen auf die harte Tour, wie mitleidslos Ausgrenzung noch immer sein kann.

Wir werden darüber reden müssen

Dieses Jahr (2010) haben die Aktionswochen gegen Antisemitismus den Schwerpunkt Israelfeindschaft, denn das gibt es in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Und unter Muslimen. Doch ich für meinen Teil und den der Amadeu Antonio Stiftung lasse nicht zu, dass die Tatsache, dass Antisemitismus auch in muslimischen Milieus weit verbreitet ist, mein Urteilsvermögen beeinträchtigt oder meine Haltung zum Rassismus gegenüber den Muslimen und allen anderen Einwanderern aufweicht. Wir werden in diesen Novemberwochen, in denen wir an die Pogrome von damals erinnern, darüber reden müssen. Um Pogrome in der Zukunft zu verhindern – und nicht zuletzt um den wahren Intelligenztest zu bestehen: Mit uns gibt es kein „Teile und Herrsche“ zwischen Minderheiten. Wir sind doch nicht blöd!

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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