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Kommentar Die strategischen Lügen Martin Sellners im österreichischen Fernsehen

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Bei Rechten beliebt: Die Opfererzählung. Auch IB-Kopf Martin Sellner verbreitet sie gern. (Quelle: Screenshot)

Die vergangenen Tage dürften die nervenaufreibendsten im bisherigen politischen Leben Martin Sellners gewesen sein. Seitdem es am Abend des 25. März in seiner Wiener Wohnung zu einer Hausdurchsuchung gekommen ist (vgl. BTN, Standard), steht der 30jährige Chef der „Identitären Bewegung Österreich“ (IBÖ) im Fokus der öffentlichen Debatte über mögliche Kontakte des Rechtsterroristen von Christchurch zu europäischen Rechtsextremen – und erfährt nun internationale Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Anlass für die Razzia war eine Spende über 1.500 Euro, die der australische Attentäter Brenton Tarrant bereits zu Jahresanfang 2018 an Sellner persönlich geleistet hat, was dieser erst unmittelbar vor der Hausdurchsuchung bemerkt haben will. Es steht der Anfangsverdacht der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Raum.

Das sind in der Tat äußerst schwerwiegende Anschuldigungen, die nicht leichtfertig erhoben werden sollten. Inzwischen wird in Österreich sogar über eine Auflösung der IBÖ bzw. des sie tragenden Vereins diskutiert, obwohl ein ähnlicher Versuch erst 2018 gescheitert ist (vgl. Standard). Sollte an belastendem Material nicht mehr als die besagte Spende zur Verfügung stehen, würde ein weiterer Versuch in diese Richtung sehr wahrscheinlich erneut ins Leere laufen – was den Rechtsextremen ein weiteres Mal die Möglichkeit gäbe, sich als Opfer staatlicher „Repression“ und Helden der Meinungsfreiheit zu inszenieren. Nach ersten Ermittlungsergebnissen sind unmittelbare persönliche Kontakte von Brenton Tarrant zu österreichischen „Identitären“ tatsächlich eher unwahrscheinlich (vgl. FAZ) – und selbst wenn es solche gegeben haben sollte, ließe sich daraus nicht so ohne Weiteres eine unmittelbare Terrorunterstützung ableiten.

Muss die Frage nicht lauten: Warum eine Spende an einen kleinen Verein am anderen Ende der Welt?

Der Fokus der Aufmerksamkeit sollte daher auf anderen Aspekten als der Frage nach einer unmittelbaren Justiziabilität liegen. Die Frage sollte nicht lauten, ob Martin Sellner Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist – man muss nicht Terrorist sein, um eine gewaltaffine und rassistische Ideologie, die Menschen nach ihrem Phänotyp (und ihrer Religion) beurteilt, in die Gesellschaft zu tragen. Die Frage muss vielmehr lauten, warum ein australischer Rechtsextremer, der sich bereits auf dem Weg der Radikalisierung befindet und ein Jahr später aus rassistischen Motiven 50 Menschen brutal ermordet, einem kleinen Verein am anderen Ende der Welt bzw. dessen prominentestem Mitglied überhaupt eine größere Summe Geld spendet.

Die naheliegende Antwort ist natürlich die, dass der Spender sich mit den Zielen dieses Vereins identifiziert und ihn finanziell unterstützen will. Tatsächlich sind die ideologischen Parallelen zwischen Brenton Tarrants Manifest und dem völkisch-rassistischen Weltbild der „Identitären Bewegung“ (IB) bemerkenswert groß (vgl. ausführlich BTN, BTN; außerdem DÖW, DW). Martin Sellner, der bekannteste Kopf der IB im deutschsprachigen Raum und einer ihrer wichtigsten Propagandisten, ist aber gerade fleißig dabei, durch gezielte, strategisch durchdachte Lügen ein ganz anderes Narrativ in die Köpfe der Leute zu pflanzen. In seinen YouTube-Videos, auf Twitter und in den Medien verkauft er diese großzügige Spende als einen Versuch des Attentäters, diesem kleinen, ihm ideologisch sehr nahestehenden Verein zu schaden.

Wird die IBÖ „geopfert“?

Sellner verweist dabei auf eine Passage aus dem Manifest, in der Tarrant seine Absicht erklärt, die „politischen Feinde meines Volkes [= der Weißen]“, also die Regierungen der westlichen Welt, zu übertriebenen Repressionsmaßnahmen zu provozieren. Der Rechtsterrorist von Christchurch wolle also, so Sellner, „Repression“ gegen „Patrioten“ herbeiführen, um so eine entsprechende heftige Gegenreaktion im Sinne der rechtsextremen „patriotischen“ Sache zu erzielen. Die IBÖ sei dementsprechend nur Mittel zum Zweck und werde der höheren Sache geopfert. Dabei unterschlägt Sellner geschickt die Stelle aus dem Manifest, in der explizit auf getätigte Spenden an „viele nationalistische Gruppen“ verwiesen wird und deren Kontext nicht nahelegt, dass diese Spenden der oben beschriebenen, hinterhältigen Strategie dienen würden.

Auch stellt sich die Frage, warum Tarrant die „Identitäre Bewegung“ in seinem über 70 Seiten umfassenden Manifest nicht gleich explizit als ideologischen Stichwortgeber benennt (der die IB ja offensichtlich war). Ein solches Vorgehen wäre unzweifelhaft effektiver gewesen, schon allein deshalb, weil er so die gesamte IB in ganz Europa diskreditiert hätte – und nicht bloß den österreichischen Ableger bzw. dessen Chef.

Der wichtigste Einwand aber, auf den erstaunlicherweise in den Medien und auch in den Interviews mit Sellner nicht eingegangen wird, ergibt sich aus diesen Überlegungen: Woher hätte Tarrant eigentlich wissen sollen, dass seine Spende überhaupt an die Öffentlichkeit gelangen würde? Die Behörden wurden ja nur deshalb auf diese Spende aufmerksam, weil aktuell ein Ermittlungsverfahren wegen möglicher Finanzvergehen gegen Sellner anhängig ist und sie deshalb Einsicht in seine Kontobewegungen haben (vgl. Standard). Wie hätte Tarrant dieses Verfahren antizipieren können? Hätte er als Ausländer, der der deutschen Sprache – höchstwahrscheinlich – nicht mächtig ist, überhaupt von diesem Verfahren erfahren, wenn es zu dem Zeitpunkt denn schon anhängig war?

Es wäre schön, würde man Martin Sellner, dessen Stimme als Propaganda-Lautsprecher der „Identitären Bewegung“ interessanterweise sogar bis nach Australien reicht (vgl. HopeNotHate) und der mal wieder im Stundentakt Besuch von Journalisten aus aller Welt erhält (vgl. NYT), diese Fragen stellen und diesmal ausnahmsweise auch auf eine klare Beantwortung bestehen.

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