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Kommentar Mit Verstand UND Herz

In der deutschen Umgangskultur gibt es etwas, das ich sehr sonderbar finde. Es ist der Umgang mit Emotionen. Individuell wie gesellschaftlich rufen sie starke Ambivalenzen hervor. Gefühle zu haben, zu äußern oder auch danach zu handeln steht hierzulande nicht sehr hoch im Kurs. Die meisten Menschen misstrauen Gefühlen, den eigenen wie denen anderer. Emotional zu sein bedeutet unsachlich sein. Gefühle

 
Foto: © Amadeu Antonio Stiftung

Wer emotional ist, ist auch schwach. Das ist die eine Seite. Die andere wird historisch begründet: die Deutschen werden unberechenbar, wenn es nach Gefühlen geht, Gefühle – vor allem die einer Gruppe von Deutschen sind gefährlich. Zu Gefühlen gehört ja auch Hass. Und die brodelnde Leidenschaft der Deutschen für Hitler und seine Vernichtungsfeldzüge hat sich ebenso wie jene zugleich ausgrenzende wie sentimentale Heimatduselei mit einem roten Ausrufezeichen tief eingegraben in das kollektive Gedächtnis. Gewiss liegen die Ursachen dafür weit vor dem Nationalsozialismus, doch hat die Begeisterung für ihn für lange Zeit den Zugang zu Emotionen in Deutschland gestört. Sie sind entweder ein Zeichen von Schwäche oder etwas sehr, sehr Gefährliches.

Aber das – so finde ich – kann und soll so nicht stehenbleiben, wenn wir eine offene und liberale und konfliktfähige Demokratie wollen. Ohne Emotionen oder im Misstrauen mit den eigenen Gefühlen, lässt sich keine Menschlichkeit leben. Emotionen sind auch in der realen Welt ein Fakt, gerade wenn wir an das Thema Rechtsextremismus und Rassismus denken, denn Rechtsextreme und Rassisten haben klare Emotionen. Davor zurückzuschrecken ist richtig, aber wichtiger noch ist dem eine eigene Emotion entgegenzuhalten. Wir hören oft, dass man auf Nazis mit klarem Sachverstand und gut recherchierten Argumenten reagieren soll. Gewiss sind das hilfreiche Instrumente, doch ohne eine Haltung, die in uns selbst liegt, sind diese Instrumente unnütz. Wir können uns freilich viel Wissen aneignen und auch üben, wann welches Argument besonders gut passt. Aber wenn es nicht auf dem eigenen Gefühl dafür basiert, was wir jeweils verabscheuen oder was uns erwärmt, dann bleibt es immer unberührtes Auswendiglernen.

Ist es aus der Mode gekommen, eine eigene Haltung zu haben?

Was sollen wir denn Leuten sagen, die gerade keine der tausend Broschüren parat haben mit den 100 besten Argumenten gegen Nazis? Dass sie, wenn ihnen gerade keiner der „Fakten“ darüber einfällt weshalb Rassismus „irrational“ ist, einfach die Klappe halten? Warum sollen sie in einem solchen Moment nicht schreien? Weshalb nicht sagen, dass sie ein rassistisches Menschenbild nur verachten können? Wie sollen sie nicht emotional sein? Auch in einer Diskussion? Ist eine emotional geführte Diskussion wirklich schlecht, so wie uns immer wieder suggeriert wird? In Talkshows heißt es ja oft: „Jetzt werden Sie aber gerade emotional!“. Gemeint ist aber: unsachlich, nicht ernst zu nehmen, außer Kontrolle. Wieso diese Verachtung und Angst vor einem leidenschaftlichen Austausch? Er soll ja Fakten nicht ersetzen, sie aber untersetzen mit den Gefühlen dafür, was richtig ist und was nicht.

Gerade beim Rechtsextremismus fehlt mir oft der emotionale Zugang. Wir sagen ja auch, dass Menschen sich engagieren sollen und gerade Jugendliche nicht indifferent bleiben sollen, wenn Nazis Leute angreifen. Aber helfen wir ihnen auch dabei, den Zugang zu ihren eigenen Emotionen zu finden? Ermutigen wir sie, auch mal ohne „Argumente“ zu sagen, was sie im Angesicht von realem Rassismus fühlen? Ist es aus der Mode gekommen, eine eigene Haltung zu haben ohne dabei ideologisch zu sein? Was können wir tun, um das zu ändern?

Diese und andere Fragen beschäftigen uns jeden Tag in der Amadeu Antonio Stiftung. Wir denken über Bildung nach, über die des Kopfes und die des Herzen und wir versuchen, dies in die Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen einzubringen. Ganz besonders wenn es um das Verhalten in den Sozialen Netzwerken geht. Wenn Sie, liebe Leser*innen uns dabei unterstützen wollen, dann diskutieren Sie mit. Mit Verstand UND Herz.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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