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Kommentar Vertane Chance

Angesichts der Umbrüche im Nahen Osten bestand die Hoffnung, mal nicht über jüdische Weltverschwörung reden zu müssen. Doch während sich der Rest der Welt verändert, geht hier alles seinen behäbigen, deutschen, selbstbezogenen und obsessiven Gang.

 
Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Manchmal bekommen wir im behäbigen Deutschland eine Ahnung von der Dynamik unserer Zeit. Der Schub, die Beschleunigung, die wir seit Beginn des Jahres erleben, macht uns zu Zeugen der Globalisierung, die freilich hier nur indirekt zu spüren ist. Dennoch bringt sie Tempo in die Nachrichtenwelt, hebelt Gewissheiten aus und rüttelt an erstarrten politischen Prinzipien. Das kann gefährlich sein – wie die Haltung Deutschlands in der Libyenfrage zeigt. Die Regierung geht eine Allianz mit China und Russland ein und macht Geschäfte mit dem Iran. So offen despotenfreundlich war Deutschland lange nicht. Die Leute auf der Straße und in den Kaffees beschäftigt dies indes wenig, es ändert nichts an ihrem Leben oder ihrer Meinung. Und gegen Atomkraft waren sowieso alle schon immer. Genauso wie gegen Israel.

Den Blick wirklich auf Freiheitsrechte richten

Angesichts der Ereignisse in der arabischen Welt hatte ich gehofft, die deutsche – und europäische – Obsession mit Israel würde vielleicht eine Pause einlegen und wir müssten uns für eine Weile nicht mit Antisemitismus im Gewandt der Israelfeindschaft beschäftigen. Immer diese nervenden Diskussionen um Juden, Weltverschwörung und die Rolle Israels dabei, das ist doch langweilig! Jetzt wäre der Moment, den Blick wirklich und ganz real auf die Freiheitsrechte der Muslime in unserer Nachbarschaft zu lenken. Der Nahe Osten ist tatsächlich nah und den muslimischen Einwanderern in Deutschland könnten die Aufstände gegen Tyrannei und Despotismus ein wichtiges Beispiel sein, über eigene Fesseln nachzudenken. Dabei bräuchten sie Unterstützung und Ermutigung. Was jedoch geschieht stattdessen?

An dieser Stelle möchte ich Ihnen erklären, weshalb der Newsletter der Amadeu Antonio Stiftung erst am 4. April bei Ihnen ist und nicht wie sonst, genau am Anfang des Monats. Die Antwort: weil wir verhindern wollten, dass Sie denken es würde sich um einen Aprilscherz handeln, wenn Sie Folgendes lesen: Laut Verfassungsschutzbericht des Landes Brandenburg wissen wir jetzt, dass die Region zwischen Uckermark und Dahme-Spreewald ein Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen ist. Deren Ziel das Brandenburger System umzustürzen teilen sie, mit unterschiedlichen Motiven zwar, mit dem alternativen Verein „MittenDrin“ in Neuruppin. Bei denen hat der Verfassungsschutz sichere Anzeichen dafür gefunden, dass dort Punkmusik gehört wird und einige der 16-Jährigen gegen den Kapitalismus sind. Islamistische Terroristen halten nichts von Punkmusik, daher ist hier eine Querfrontbildung nicht zu befürchten. Wir können an diesem Punkt also aufatmen.

Friedensfreunde

Doch die Gefahr kommt nicht allein aus dem Osten, auch im Westen – einschließlich Berlins – gehen ungeheure Dinge vor. In Bremen provozierte eine Supermarkskette die Friedensfreunde, denen das Schicksal der unterdrückten Araber, besonders das der Palästinenser unentwegt am Herzen liegt. Sie verkauften Waren aus Israel. Deshalb demonstrierten viele Linke vor den Geschäften und forderten die Kunden auf, keine Produkte aus Israel zu kaufen und sogar den Laden zu boykottieren, in dem derart provokantes Obst im Angebot ist. Die Begründungen waren die alten: Israel sei ein Apartheidstaat und die Juden an dem und jenem Schuld. Ganz Bremen war in Aufregung, man diskutierte dass ein solcher Boykott doch nicht antisemitisch sei, wie manche Juden unterstellen würden und die Diskutanten beriefen sich dabei auf die Leeren aus der Geschichte. In Berlin verlief sich eine weitere Veranstaltung zu einem vergleichbaren Thema weniger spektakulär ab. Am Hauptbahnhof versammelten sich Anti-Apartheidaktivisten um gegen ein Projekt der Deutschen Bahn in Israel zu protestieren, das ohnehin von der Bahn nicht gebaut wird. Das Trauma der Deportationsdienste von Juden nach Auschwitz war wohl noch zu frisch, als dass man sich dort wieder an etwas derart Problematisches wie der Bau einer Bahntrasse ausgerechnet im jüdischen Staat heranwagen wollte.

Unvernunft und Unkenntnis

Der Bundesinnenminister meint, der Islam gehöre nicht zu Deutschland und der eine Wutbürger regt sich über Israels Juden auf. Der Bundesaußenminister lässt die Libyer im Stich und der andere Wutbürger hält Muslime generell für doof und gefährlich. Sie sehen, es ist viel Unvernunft und Unkenntnis unterwegs, beides wohl Voraussetzungen für die Fixierung auf Israel und die Juden. Und während sich der Rest der Welt gerade verändert, geht hier alles seinen behäbigen, deutschen, selbstbezogenen und obsessiven Gang. Was für eine Chance wird hier vertan!

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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