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Kommune Thalheim im Erzgebirge „Machen statt Meckern!“

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Die Kommune Thalheim erhielt den Kommunenpreis des sächsischen Förderpreis für Demokratie 2019.

Ein Freitagabend im Oktober in Thalheim im Erzgebirge. Die Sonne geht unter, und so langsam zieht die abendliche Herbstkälte über die 6.300 Einwohner starke Stadt. Auf den Straßen und dem Bürgersteig laufen Menschen, viele bereits eingewickelt in dicke Jacken. Sie alle laufen in eine Richtung, auf einen Hügel zu. Dort steht die Grundschule von Thalheim. Heute Abend findet hier die Einwohnerversammlung von Thalheim statt. Die Sporthalle der Schule wurde bestuhlt, es wurde eine Leinwand für die Präsentation des Bürgermeisters aufgebaut, und der Handballverein des Ortes sorgt mit einem kleinen Stand, an dem es Getränke und Wurst gibt, für das leibliche Wohl der Besucher*innen. Immer mehr Bürger*innen strömen in die Turnhalle und nehmen Platz.

Wie so viele kleine sächsische Städte hat auch Thalheim vor allem mit dem Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Zusätzlich führt die zunehmende Bürokratisierung auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens auch hier zu Demokratieverdrossenheit. Trotzdem scheinen sich an diesem Abend viele Bürger*innen für das Geschehen in der Stadt zu interessieren. „Ich wollte was verändern“, erzählt Bürgermeister Nico Dittmann kurz vor Beginn einer Einwohnerversammlung. Immer wieder unterbricht er seine Ausführungen zu Thalheim und seinem Amt, um Bürger*innen freundlich zu begrüßen. „Mir hat es nicht gefallen, dass alle nur gemeckert haben“, so der junge Bürgermeister. „Mir tat es als Ur-Thalheimer weh, dass hier alles so schlecht geredet wurde. Es war ja gar nicht alles schlecht, es wurde nur alles schlecht geredet, weil es sich für viele schlecht angefühlt hat“, führt er aus. 2013 ließ sich Nico Dittmann dann ohne Parteibindung und ohne politische Erfahrung für das Amt des Bürgermeisters aufstellen und wurde gewählt. Als er die politische Bühne betrat, war der gelernte Informatiker gerade einmal 27 Jahre jung. Er war damit der jüngste Bürgermeister Sachsens. Seither krempelt Nico Dittmann mit seinem Team aus der Stadtverwaltung die Kommune um. Ihr Motto lautet: „Machen statt Meckern!“, und das nehmen viele Thalheimer*innen mittlerweile wörtlich.

Das Rathaus in Thalheim

Dittmann und sein Team störten sich daran, dass viele Menschen unter Politik etwas verstehen, was im Geheimen passiert. Es sei damals viel darüber gesprochen worden, dass „die da oben“ doch eh‘ machen, was sie wollen. Die Bürger*innen hätten den Eindruck gehabt, dass politische Entscheidungen immer hinter verschlossenen Türen getroffen würden, und so fällt es natürlich einfach, diesen Entscheidungsträger*innen die Schuld an allem Übel zu geben. „Aber bei uns in der Stadt gibt es ja keine ‘die da oben‘. Ich wohne hier, die Nachbarn wohnen hier, wir treffen uns beim Bäcker, wir treffen uns beim Sport.“ Nico Dittmann hatte genug davon, dass alle nur auf „die da oben“ schimpften. „Eigentlich sind es ja die Menschen in der Stadt, die das Leben gestalten sollen.“ Und so entwickelten Dittmann und sein Team verschiedene Pläne, um die Bürger*innen von Thalheim zum Mitmachen zu animieren.

Das gläserne Rathaus – Für mehr Transparenz und Vertrauen in die Politik

Als erste Aktion wurde das „Gläserne Rathaus“ ins Leben gerufen. Es geht um Transparenz und darum, dass die Bürger*innen nicht nur sehen, was entschieden wurde, sondern auch, warum wie entschieden wurde. Und auch auf der Einwohnerversammlung beginnt Dittmann seine Präsentation mit Zahlen und Fakten zur Stadt. Er benennt das Haushaltsvolumen und die aktuellen Schulden. Er führt aus, dass derzeit 3.219 Frauen in Thalheim leben und 3.108 Männer, wie viel Gewerbe in Thalheim gemeldet ist und wie viele Tourist*innen in Thalheim übernachtet haben. Bis Oktober wurden 2019 bereits 41 Kinder geboren, 2014 waren es im gesamten Jahr 41 Geburten. „Wir neigen dazu, alles etwas negativer zu sehen, als es tatsächlich ist“, sagt Dittmann mit Blick auf die Zahlen zu den Thalheimer*innen.

Nico Dittmann auf der Einwohnerversammlung

Doch nicht nur die Einwohnerversammlung ist ein Beispiel der Transparenz der Stadt. Generell hat sich die Kommunikation der Gemeinde in den letzten Jahren massiv gewandelt. Weg von einer Ein-Wege-Kommunikation, in der alle entscheidenden Informationen nur an der Anschlagtafel am Rathaus ausgehängt wurden, hin zu einer Multi-Kanal-Kommunikation. Wesentlicher Bestandteil dabei sind die Sozialen Medien, wie Facebook und ein WhatsApp-Newsletter der Stadt. In einem frei zugänglichen Bürgerinformationssystem bietet die Stadt den Thalheimer*innen und allen Interessierten Informationen auf der Website an. Dort kann jeder alle öffentlichen Unterlagen einsehen. Das umfasst Tagesordnungen, Entscheidungs- und Beschlussvorlagen, inklusive Begründungen für die Beschlüsse, außerdem die Protokolle vergangener Sitzungen. Wer keinen Internetzugang hat, kann ganz klassisch ins Rathaus kommen und sich über alles informieren.

„Demokratie bedeutet auch harte Arbeit und Mitmachen“

Doch man kann so viel Transparenz wie möglich schaffen – wenn die Bürger*innen nicht abgeholt werden, bringt auch das durchsichtigste Rathaus nichts. Und so entwickelte die Stadtverwaltung zahlreiche Mitmach-Aktionen. „Demokratie bedeutet ja nicht, dass man alle vier Jahre mal wählen geht. Demokratie bedeutet auch harte Arbeit und Mitmachen“, so Dittmann.

Auf der Einwohnerversammlung

Für Wiebke Arnold bedeutet Demokratie auch eine „unmittelbare Art der Beteiligung“. Die aufgeweckte junge Frau arbeitet in der Stadtverwaltung im Bereich Öffentlichkeit, Tourismus und Kultur. „Die Leute müssen wissen, was wir hier machen.“ Genau wie Dittmann ist auch Arnold gebürtige Thalheimerin. Nach ihrem Abitur reiste sie ins Ausland und studierten dann in Zittau, bis sie sich entschied, zurück in ihre alte Heimat zu kommen. Sie hatte genug davon, dass alle wegziehen und nur meckern. Sowohl Dittmann als auch Arnold sind keine großen Fans von übertriebener Bürokratie. Sie setzen auf Vereinfachung. „Wir wollen Prozesse so einfach wie möglich gestalten und so viel Transparenz wie möglich schaffen“, erklärt Wiebke Arnold.

Bürger*innen in die Verantwortung bringen

Gemeinsam überlegte man in der Stadtverwaltung, wie man die Leute vom Meckern wegbewegen könne und wie man sie selbst in Verantwortung bringen kann. Den Bürger*innen soll verständlich gemacht werden, wie das politische Geschäft funktioniert. Demokratie bedeutet ja eben nicht nur, alle vier Jahre einen Zettel mit einer Wahlentscheidung in eine Urne zu werfen. Die Thalheimer*innen sollen selbst über ihre Stadt entscheiden.

Und so wurden verschiedene Aktionen ins Leben gerufen. Es werden Patenschaften für bestimmte Grünflächen vergeben, um die sich die Paten dann kümmern, es werden Workshops angeboten, in denen die Bürger*innen lernen, wie eine Grünfläche gepflegt werden muss. Im Sommer 2019 entstand die Idee der Blumenfahrräder. Die Idee hatte Grit Köhler. Die Thalheimerin hatte solche Räder bei einem Besuch in Mecklenburg-Vorpommern gesehen und dem Bürgermeister vorgeschlagen, auch so etwas aufzustellen. Die Stadt möchte die Bürger*innen dazu anregen, mitzumachen und Blumenfahrräder aufzustellen. Auch Handwagen oder Metallwannen können dafür verwendet werden. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. An der Seniorenresidenz gibt es einen bepflanzten Rollator. „Aktionen wie diese fördern den Zusammenhalt in Thalheim“, erklärt Wiebke Arnold. Es müsse den Menschen wieder bewusstwerden, dass ihre Stimme wichtig ist, dass ihre Meinung gehört wird und dass sie einen Einfluss auf das Leben vor Ort hat. „Nur das wird auch zukünftig dafür sorgen, dass Bürger*innen sich engagieren wollen“, so Arnold. Viele dieser Mitmach-Aktionen tragen den Namen Subbotnik, ein Begriff aus der Sowjetunion für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag (russisch Subbota). Auch in der DDR wurde diese Idee verwendet.

Wiebke Arnold

Kinderbürgermeisterinnen: Von Beginn an Demokratie lernen

„Wir Entscheidungsträger sind ja alle nur Menschen, und Menschen haben immer einen begrenzten Horizont. Der eine ist sportlich, der andere mag lieber gutes Essen oder eben beides“, so Nico Dittmann am Abend der Einwohnerversammlung. „Allerdings ist es unmöglich, für alle immer alles richtig zu entscheiden. Wie sollte das auch gehen?“ Solche Anmaßungen seien vollkommen unrealistisch, findet der Bürgermeister. „Wen fragt man denn, wenn man einen Spielplatz baut? Na – die, die den Spielplatz nutzen. Das ist doch eigentlich ganz simpel.“

Mit etwas Stolz erzählen sowohl Nico Dittmann als auch Wiebke Arnold von ihren Kinderbürgermeistern. 2018 wählten Schülerinnen und Schüler der zweiten bis vierten Klasse ihre Kinderbürgermeisterin, Nikita Ihle, und ihre Stellvertreterin Josy Mohr. Gemeinsam wollen sie die Kinderthemen in der Stadt zur Sprache bringen. Die Kinder sollen so in demokratische Prozess vor Ort von Beginn an mit einbezogen werden. Aber auch an die älteren Bürger*innen wird gedacht. Im September 2019 wurde erstmals zum Seniorenbeirat geladen, um der Generation 65 plus eine Plattform zu schaffen, ihre Interessen in der Kommunalpolitik zu vertreten. „Alles wird immer anonymer, aber eigentlich brauchen wir an jedem Ort oder an jeder Position Menschen, die aktiv sind. Wir brauchen mehr demokratische Multiplikatoren“, so der Bürgermeister.

Am Abend der Einwohnerversammlung sind überraschend viele junge Menschen gekommen, meint Sylvia Schlicke, Quartiersmanagerin von Thalheim. Sie fungiert als Vermittlerin zwischen den Interessen der Kinder und denen der Stadtverwaltung. Das bedeutet vor allem Übersetzungsarbeit: Da Verwaltungsstrukturen für junge Menschen schwer zugänglich und unvertraut sind, muss Sylvia Schlicke diese in ein kindgerechtes Format bringen. Dazu gehört es beispielsweise, komplizierte Bauanträge in eine kindgerechte Sprache zu übersetzen und so verständlich zu machen. Sie steht in einer Pause während des Vortrags des Bürgermeisters mit einem Kaffee in der Sporthalle und erzählt, dass sie nicht allzu lange bleiben kann, da sie am nächsten Tag mit den Kinderbürgermeisterinnen und ihren Freunden Bäume pflanzen wird. Auch Herr Reichel aus dem Seniorenbeirat und die junge Stadträtin Johanna Stampfer werden kommen, um den Kindern unter die Arme zu greifen.

Das Eis ist Stück für Stück gebrochen

Bevor Sylvia Schlicke für die Stadt arbeitete, war sie Leiterin des Erzgebirgsbads, einem ehemaligen Spaßbad in Thalheim. 2014 wurde es unter lautem Protest aus Kostengründen durch Nico Dittmann geschlossen. 2015 diente es als Notaufnahme für Geflüchtete. Im Zuge dessen kam es zu Protesten vor dem Bad. „Die Stimmung damals war unberechenbar“, erinnert sich Sylvia Schlicke. Zu größeren Ausschreitungen kam es damals glücklicherweise nicht. Im Stadtanzeiger hieß es: „Es ist für die Stadt, den Freistaat und das gesamte Land eine besondere Herausforderung, die wir nur gemeinsam meistern können. Auch Thalheim leistet deshalb seinen Beitrag und hilft bei der Unterbringung von Asylsuchenden.“

Trotz der aufgeladenen Stimmung damals fand sich eine Gruppe Engagierter zusammen, die sich auch von den flüchtlingsfeindlichen Protesten nicht einschüchtern ließ. Diese „Asylhilfegruppe“ traf sich regelmäßig jeden Donnerstag im Vereinshaus. Hier wurden Deutschkurse angeboten, Menschen bei Problemen unterstützt, Behördengänge organisiert und vieles mehr. Auch dienen diese Gruppe und der Treff als Begegnungsstätte zwischen Geflüchteten und den Alteingesessenen der Stadt Thalheim. Federführend für diese Vernetzung war und ist die Rentnerin Barbara Queißner.

Seit Sommer 2014 wurden Geflüchtete in Privatunterkünfte in Thalheim untergebracht, erinnert sie sich. Ende des Jahres trat Frau Queißner dann mit Bürgermeister Dittmann in Kontakt. „Es war eine unkomplizierte Zusammenarbeit. Wir haben uns zugespielt“, so Barbara Queißner. Informationen liefen über die Stadt. Unteranderem wurde ein Kontakt-Telefon eingerichtet. Immer wenn Wohnungen in Thalheim an Geflüchtete vergeben werden sollten, wurden die Nachbar*innen zu einem gemeinsamen Gespräch eingeladen. „Am Anfang war es etwas erschreckend“, erzählt sie. Diffuse Ängste bestimmten zu Beginn die Debatte. Menschen fragten beispielsweise, ob Frauen nun noch alleine auf die Straßen gehen könnten. „Zu Beginn herrschte eine angespannte Stimmung, doch die Ängste und Befürchtungen sind ganz schnell abgeflacht.“ Barbara Queißner erinnert sich an das letzte Nachbarschaftsgespräch, das dauerte nur noch zehn Minuten, dann waren bereits alle Bedenken beseitigt und alle Fragen zu den neuen Nachbar*innen geklärt. „Thalheim ist ein kleiner Ort, hier kennt man sich untereinander“, erzählt die Frau, die viele Berufsjahre in der Sozialarbeit hinter sich hat. „Man hat sich aneinander ‘rangetastet, und durch Begegnungen ist das Eis Stück für Stück gebrochen.“ Es seien immer Menschen da gewesen, die man ansprechen und fragen konnte. So wurden den Bürger*innen ihre zum Teil irrationalen Ängste genommen. Patenschaften für Geflüchtete wurden vergeben. Mittlerweile leben noch fünf Familien und ein paar Einzelpersonen in Thalheim, die zunächst als Geflüchtete gekommen sind. Ein irakischer Geflüchtete arbeitet in einer Gaststätte, und ab und zu findet hier ein arabischer Abend statt. „Hier sind ganz viele kleine Dinge passiert. Ich finde, das ist eine tolle Entwicklung.“

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