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Krieg in Europa Wie geht es den Menschen in Kiew? 

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Am Kiew Hauptbahnhof: Ukrainische Soldaten stehen bereit, während Zivilist:innen fliehen
Am Kiew Hauptbahnhof: Ukrainische Soldaten stehen bereit, während Zivilist:innen fliehen (Quelle: picture alliance/Associated Press/Emilio Morenatti)

Kyrylo Tkachenko ist Historiker, Autor und Publizist. Er forscht an der Europa-Universität Viadrina zur sozialen und politischen Geschichte der Donbas-Region in der Ostukraine. Er ist Fellow der ZEIT-Stiftung, Herausgeber des Sammelbandes „20 Jahre Kapitalismus in der Ukraine“ sowie Mitbegründer der ukrainischen Zeitschrift der Sozialen Kritik „Spilne“. Der 41-Jährige lebt mit seiner Familie in Kiew.

Belltower.News: Herr Tkachenko, Sie sind gerade in Kiew. Wie ist die Stimmung dort?
Kyrylo Tkachenko: Wir bereiten uns vor, in Luftschutzkeller fliehen zu müssen. Wir bringen Wasser und Stühle dahin, wir kaufen Lebensmittel ein. Vor den Supermärkten bilden sich lange Schlangen, die Menschen sind verzweifelt.

Gibt es eine starke Friedensbewegung im Land?
Friedensbewegung? Unsere Friedensbewegung ist die ukrainische Armee und unsere Luftabwehrsysteme. Das ist das einzige, was uns vor dem Krieg schützen kann. Gerade vor einer Stunde wurde hier eine russische Drohne abgeschossen. Das ist Frieden. Das ist das, was uns verteidigt. Denn wenn unsere Luftabwehrsysteme nicht funktionieren, fallen hier Bomben. Oder meinen Sie, dass die ukrainische Armee aufgeben und Fähnchen schwenken sollte?

Es ist nur so schwer, plötzlich mit dem Gedanken an Krieg in Europa klarzukommen. Was macht der Einmarsch russischer Soldaten mit der ukrainischen Zivilgesellschaft?
Es gibt Zusammenhalt, aber auch Wut. Und vor allem gibt es eine Bereitschaft zu kämpfen. Viele Leute überweisen Geld für die Armee. Sie helfen einander, sie kaufen Waffen, schreiben sich für den Landschutz ein oder melden sich bei der Armee.

Die Rolle der extremen Rechte in der Ukraine wird von Russland strategisch übertrieben, dafür aber in der Ukraine und im Westen auch gerne heruntergespielt. Was meinen Sie, welche Rolle spielt sie tatsächlich im Konflikt?
Ich finde diese Frage komisch. Sobald es um die Ukraine geht und Russland einen klaren imperialen Anspruch äußert, fängt man in Deutschland an, über ukrainische Neonazis zu reden. Ich finde die Reaktion unerhört. Und es sagt sehr viel über die deutsche Gesellschaft aus.

Aber Neonazis gibt es in der Ukraine tatsächlich, zum Beispiel im „Regiment Asow“, das gegen prorussische Separatisten und russische Streitkräfte gekämpft hat…
Es geht hier um einen Krieg gegen die Ukraine. Da ruft mich jemand aus Deutschland an und will jetzt über die Nazis in der Ukraine reden. Entschuldigung, aber das erscheint mir wie Whataboutism. Mit Russland haben wir es mit einer rechtsextremen Diktatur zu tun, die gerade Grenzen in Europa mit Gewalt ändern will. Schauen Sie sich Definitionen von Faschismus an und fragen Sie sich, ob nicht das Regime von Putin diesen genau entspricht. Wir müssen hier um den Angriffskrieg eines rechtsextremen Regimes reden.

Würden Sie Putin als Faschisten bezeichnen?
Das Label ist mir egal. Ich brauche hier keine Hitler-Vergleiche, um zu sehen, dass das, was Putin macht, absoluter Wahnsinn ist.

Auch auf der russischen Seite kämpfen Neonazis – wie etwa die „Russische Imperialbewegung“. Welche Rolle spielen sie?
Ich erzähle Ihnen mal eine Anekdote: In einer Fabrik verdächtigt der Chef, dass ein Arbeiter jeden Abend etwas klaut, weil er immer ein Fass nach Hause rollt. Der Chef fängt also an, ihn jeden Abend zu kontrollieren und ganz genau in sein Fass zu gucken. Nichts. Es dauert lange, bis der Chef kapiert, dass der Arbeiter Fässer klaut. Auch bei den Russen ergibt es wenig Sinn, einzelne Nazis anzuschauen, um das russische Vorgehen zu verurteilen. Das Putin-Regime verfolgt eine faschistische, chauvinistische Ideologie und hat imperiale Ambitionen. Es geht nicht um die Überzeugungen der einzelnen Soldaten.

Es tobt aktuell auch ein Desinformationskrieg: Putin verbreitet Falschinformationen, um die Situation zu destabilisieren. Wie einflussreich sind russische Staatsmedien in der Ukraine?
Ob ein vermeintliches Nazi-Regime in Kiew, ein „Völkermord“ in Donbas oder die angeblichen Bestrebungen der Ukraine, sich mit Atomwaffen auszurüsten, gibt es alles Mögliche an Desinformationen und Verschwörungsnarrative von russischer Seite. Aber mein Eindruck ist, dass sie in Deutschland mehr Einfluss haben als in der Ukraine. Denn ich merke, dass es in den Kommentaren jeder großen deutschen Zeitung Putinversteher gibt. Putins Desinformation fällt in Deutschland auf fruchtbaren Boden.

Warum eigentlich?
Das ist immer noch die gleiche Denkweise, die Molotow und Ribbentrop mit ihrem Nichtangriffspakt ermöglicht haben: Es gibt die großen Nationen wie Deutschland und Russland, und dann die kleinen Völker wie die Ukraine, die nicht so wichtig sind. Im deutschen historischen Bewusstsein steckt immer noch das Bild, dass man damals Russland überfallen hat, dass es hinter Polen nur ein großes, differenzloses Russland gibt. Nicht Russland wurde überfallen, sondern die Sowjetunion. Die Nationalsozialisten sind zunächst in die Ukraine einmarschiert, auch in Belarus und die baltischen Republiken. Die Ukraine wurde von den Nationalsozialisten zu 100 Prozent besetzt, Russland nicht mal zu zehn Prozent. Die Ukraine hat viele Opfer davongetragen, Tausende Dörfer wurden niedergebrannt. Aber es gibt eine starke Tendenz, die Ukrainer damals nur als Nazi-Kollaborateure zu sehen.

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