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Mobile Verschwörung Der Berliner „Volkslehrer“ in Lüneburg

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Nikolai N. in der ersten Reihe bei der Ratssitzung in Lüneburg. (Quelle: Alle Fotos von O. Frankenberger, A. Loges, K. Schmitt)

Nachdem sich Scharf, der seit mehr als 30 Jahren ehrenamtlich im Rat der Stadt Lüneburg tätig ist, bei allen Betroffenen entschuldigt hatte, stimmte die Ratsversammlung knapp gegen seine Abberufung.

Scharf bagatellisierte Verbrechen der Wehrmacht

Stein des Anstoßes war ein zufälliges Gespräch Gerhard Scharfs am Lüneburger Gedenkstein für die 110. Infanterie-Division, auf das er sich einige Wochen zuvor eingelassen hatte und das wenig später der Videofilmer und Berliner Grundschullehrer Nikolai N. auf seinem Youtube-Kanal „Der Volkslehrer“ veröffentlichte.

In dem aufgezeichneten Gespräch bagatellisierte Scharf nach Ansicht der Linken die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Kritisiert wurde unter anderem, dass Scharf den Massenmord an der weißrussischen Bevölkerung in Osaritschi nicht hauptsächlich den Soldaten der Lüneburger Division zuschrieb, sondern dass er von Taten von Freiwilligen sprach.

Für Historiker zählen die Taten deutscher Soldaten im Konzentrationslager von Osaritschi, das heute in Weißrussland liegt, zu den schlimmsten Verbrechen der Wehrmacht. Professor Ulf Wuggenig, Dekan der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Lüneburger Leuphana-Universität, sieht in Scharfs Worten einen Versuch, Wehrmachtssoldaten zu rehabilitieren. Ein Bürgermeister, der sich hingibt, „derart unqualifizierte Interviewaussagen zu formulieren und auch diese noch für öffentlich vertretbar hält, ist meines Erachtens für sein Amt (nicht) mehr geeignet“, zitiert die Landeszeitung aus einer achtseitigen Stellungnahme des Soziologen der Leuphana-Universität.

 

Die Ratssitzung in Lüneburg. Rechts in der ersten Reihe: Nikolai N. 

 

Youtuber Nikolai N. provoziert mit rechter Propaganda

Vor seiner Karriere als Video-Blogger sah man den 37-jährigen Lehrer gelegentlich mit auffälligen Plakaten bei Demonstrationen in Berlin. Eines dieser Plakate zeigte auf der einen Seite ein Zitat, dass dem verurteilten Holocaustleugner Horst Mahler zugerechnet wurde und auf der anderen Seite stand: „Die Geschichte des Holocaust ist eine Geschichte voller Lügen“.

In Videos propagiert N. unter anderem menschenverachtende Verschwörungstheorien. So bezeichnete er das Schulmassaker im Jahr 2013 an der Sandy Hook Elementary School, bei dem insgesamt 28 Menschen ums Leben kamen, als „falsch bis zum geht nicht mehr“. Die Eltern der ermordeten Schüler diffamierte N. als „Crisis Actors, also Drama-Darsteller“, die ihre Trauer nur gespielt hätten.

Und überall dort, wo der studierte „Volkslehrer“ in seinen Videos und Kommentaren die fehlende Souveränität der Bundesrepublik Deutschland anprangert, wo er behauptet, Deutschland sei ein besetztes Land und wo er Grundgesetzartikel und Gesetzesparagrafen nach seinem Gutdünken auslegt, zeigt sich die Sprache und Ideologie der Reichsbürger.

All dies bot der Berliner Schulverwaltung Anlass, N. bis zur Klärung des gesamten Sachverhalts von Dienst freizustellen. Außerdem erstattete sie Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft.

 

Nikolai N. mit einem Schild mit Zitat des verurteilten Holocaustleugners Horst Mahler bei der „Raus aus der Nato“-Demo im Oktober 2016.

 

Nikolai N.’s Anhänger nutzen Internet-Anonymität für Shoaleugnung

In Lüneburg wollte Nikolai N. und sein Gefolge die Verbrechen der Shoa, die Existenz von Gaskammern und Brennöfen zur Vernichtung von Menschen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern vor laufender Kamera weder bestätigen noch leugnen.

Demgegenüber stehen, im Schutze der Anonymität – über 2/3 derer, die die Videos des „Volkslehrers“ kommentieren, sind Fake-Accounts – Kommentare zu seinen Videos, in denen aus dem nicht Gesagten Worte und Sätze werden. So schreibt „Alex Gommez“: „Die Vergasung der Juden ist eine Lüge! KEIN Deutscher hat irgendeinen Juden vergast!“ Und der verurteilte Shoaleugner Gerhard Ittner kommentiert: „Was dein Gesülze von wegen ‚Holocaustleugnung‘ betrifft (nein, ich glaube tatsächlich nicht an den Scheiß!), so ist das bereits der Begrifflichkeit nach völliger Unsinn, da man nur das leugnen kann, von dessen Tatsächlichkeit man mit Sicherheit weiß oder felsenfest davon überzeugt ist. Und dass ich von der Tatsächlichkeit des ‚Holocaust‘ felsenfest oder auch nur die Spur eines klitzekleinen Kieselsteinchens überzeugt wäre, das kannst du dir abschminken“.

Dr. Scharf entschuldigt sich in überfüllter Ratssitzung

Zur Sitzung des Rates der Hansestadt Lüneburg erschienen neben dem rechten Youtuber auch rund 50 seiner Sympathisanten. Bevor N. die überfüllte Schulaula in Lüneburg zur Ratsversammlung betrat, zeigte sich am Eingang ein ehemaliger Freund von seinem Auftritt angewidert und enttäuscht. „Du willst wohl das politische Erbe deines Vaters …“, wird N. von der Seite angeraunzt. „Gegen das kämpfst du hier. Und sonst nix. Als Selbstdarsteller.“

Für Nikolai N., der sichtlich die Aufmerksamkeit genoss, hatten seine Kameraden einen Platz in der ersten Reihe reserviert.

Die eigentliche Versammlung eröffnete der Sitzungsleiter mit einer Ermahnung an das Publikum, jegliche Zwischenrufe und Beifallsbekundungen zu unterlassen und wies auf medienrechtliche Aspekte hin. Nur akkreditierten Journalisten sei es erlaubt, Film- und Tonaufnahmen anzufertigen. Ein Hinweis nicht ohne Grund. Im zurückliegenden Halbjahr störte N. in Berlin mehrere Veranstaltungen mit Politikern und prominenten Zeitzeugen. Er rief dazwischen, machte die Anwesenden verächtlich und konfrontierte sie mit Topoi der Reichsbürger. Die Videos seiner Aktionen veröffentlichte er auf seinem Kanal „Der Volkslehrer”.

Vor dem Tagesordnungspunkt „Abberufung des stellvertretenden Bürgermeisters“ gab Dr. Scharf eine persönliche Erklärung ab. In dieser entschuldigte er sich bei den Abgeordneten, bei den Bürgern der Hansestadt und den Initiativen, die sich für die Aufarbeitung der NS-Geschichte einsetzten. Er machte deutlich, dass er „den Andeutungen, die schließlich eindeutig aus der politisch rechten Ecke kamen, unmissverständlich und vehement [hätte] widersprechen müssen“. Der Lüneburger Geschichtswerkstatt und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) bescheinigte Scharf in seiner Rede, eine absolut anerkennenswerte und wertvolle Arbeit für die Gesellschaft zu leisten.

Abberufung scheitert trotz Forderungen aus den Parteien

Trotz seiner Erklärung übten die meisten Parteienvertreter in ihren Stellungnahmen deutliche Kritik an den Worten und dem Verhalten ihres stellvertretenden Bürgermeisters und plädierten für seine Abberufung. So sagte der Vertreter von Bündnis‘90/Die Grünen: „Es kommt nun hier zu einer Abstimmung über einen Vorgang, der nach unserer Auffassung eigentlich eindeutig ist und überhaupt keinen Spielraum zur Interpretation zulässt. Herr Dr. Scharf kann nicht länger Bürgermeister in Lüneburg sein. Seine Glaubwürdigkeit ist irreparabel beschädigt.“

In geheimer Wahl stimmten die Mitglieder der Ratssitzung nach der Aussprache über die Abberufung des stellvertretenden Bürgermeisters ab. Das Ergebnis: 20 Abgeordnete waren gegen und 17 für die Amtsenthebung. Kaum war das Ergebnis verlesen, entbrannte Beifall unter den Fans des YouTube-Bloggers, dessen Kanal als Kommunikationsplattform für Holocaustleugner dient.

Suspendierter Grundschullehrer kündigt Teilnahme an Aufmarsch von Shoaleugner an

Nach Unterbrechung der Sitzung des Rates leerte sich die Schulaula der Christiani-Oberschule am Lüneburger Kreideberg rasch. Bevor er und sein Tross in der Dunkelheit des Abends verschwand, stellte sich der suspendierte Grundschullehrer vor der Tür noch den Fragen der Medien und bedankte sich bei seinen Anhängern.

Während Dr. Scharf an diesem Abend um Haaresbreite dem Ende seiner politischen Karriere entging, bereitet sich der „Volkslehrer” auf seinen nächsten öffentlichen Auftritt vor. In Dresden wird er in gut einer Woche an einem Aufmarsch teilnehmen, zu dem der Shoaleugner Gerhard Ittner einlädt. Zusammen mit Neonazis will man im Stadtzentrum den Opfern des britischen Luftangriffs vor 73 Jahren „gedenken”. In den vergangenen Jahren war bei diesen Demonstrationen, die nach Ansicht von Nikolai N. „einen wichtigen Beitrag zum wahren Gedenken und zur wahren Geschichte” darstellen, immer wieder die Rede vom „Bombenholocaust”, der sich nicht widerlegen ließe. Folglich heißt es in der via eMail verbreiteten Ankündigung des „Volkslehrers”: Zeigt, „dass wir uns nicht vorschreiben lassen, wie wir unsere Geschichte zu ‘bewältigen’ haben. Diese Zeiten sind vorbei.”

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