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Rassismus in Kinderbüchern Die Welt, wie sie wem gefällt?

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Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf im Film. 1968
Michaela Dudley beschäftigt sich in ihrer aktuellen Kolumne mit Rassismus in Kinderbüchern. Pipi Langstrumpf, Winnetou und Co. – Zensur oder Sensibilisierung? (Quelle: Gemeinfrei)

„Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen“, so die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907 – 2002). Wenn eine wusste, wie die eigenen Vorstellungen mit Spaß und Spannung umzusetzen sind, während sie selbst lesefaule Heranwachsende bezauberte, dann war es Lindgren. Mit einer Gesamtauflage von gut 165 Millionen Exemplaren, die in nicht weniger als 106 Sprachen übersetzt wurden, zählt Lindgren zu den populärsten Autor*innen von Kinderbüchern weltweit.

Auch hier in Deutschland ist Lindgren sehr beliebt. Generationen von Deutschen, auch in der DDR, sind mit den aus Lindgrens Feder stammenden Erzählungen wie Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter und den Kindern von Bullerbü sowie mit deren Verfilmungen groß geworden, um nur einige Werke zu nennen. 1978 erhielt sie als erste Kinderbuchautorin den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. So wundert es nicht, dass am International Children’s Book Day am 2. April Lindgren hierzulande in den sozialen Medien thematisiert wurde. So weit, so gut. Allerdings hatten selbst einige ÖRR-Profile offensichtlich ihre Fangirl-Momente und lobten Lindgren gleichsam posthum in den Himmel, und zwar, meines Erachtens, weitgehend unreflektiert.

Gerade deshalb habe ich mich als PoC-Autorin bei einigen Posts darum bemüht, auf problematische, an und für sich rassistische Stellen in den Büchern von Lindgren hinzuweisen. Meine Kritik stieß einerseits auf viel Resonanz, rief aber andererseits ziemlich wütende Reaktionen auf den Plan. Dass ich mich als Schwarze erdreistete, eine großartige europäische Literatin, die sich ja nicht mehr verteidigen könne, nun durch den Kakao ziehen würde, wurde kommentiert.

„Dieses ganze Rassismus-Geschwafel“ sei von mir lediglich Selbstzweck, denn nur wer in allem Rassismus finde, sei der wirkliche Rassist, erwiderte einer. Ein Stadtrat schrieb in der Kommentarspalte dazu: „Es muss nicht alles woke sein.“ Aber warum eigentlich nicht? Warum nicht lieber erwacht, statt unter der Schlafmütze erstarrt? Na ja, ich verstehe diesen tendenziösen Reflex, alles, was nach politischen Korrektheit riecht, pauschal und spontan zu verurteilen. Viele Gegner*innen des Wokeness schaffen es aber nicht einmal, den in afroamerikanischen Kreisen entstandenen Begriff zu definieren. Da ist zum Glück der Duden wesentlich weiter. Demnach bedeute woke „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“.

Aber ist das die richtige Einstellung zum Lesen von Büchern, die in erster Linie zwecks Unterhaltung geschrieben und veröffentlicht wurden? Müssten sie politically correct sein? Der kommentierende Stadtrat fügte hinzu: „Außerdem muss man Literatur immer im historischen Kontext betrachten.“ Letzterer Punkt stimmt wohl auch.

Kontext zwischen Kolonialismus und Korrektheit

Doch inwieweit genau dürfte der geschichtliche Zusammenhang als Freifahrtschein für die Fortsetzung unkritisches Denkens fungieren? Und wie viele sozialpolitische Sachlichkeit sollten fiktionale Erzählungen aufweisen? Die Fragen gilt nicht lediglich für Astrid Lindgren. Beim deutschen Schriftsteller und ehemaligen Zuchthausinsassen Karl May (1842 – 1912) drängt sich die Frage ebenfalls auf. May, der ja den Häuptling des Mescalero-Stammes erfand, nahm es mit der Wahrheit sowieso nicht so genau. Trotzdem ist sein Einfluss über die Literatur hinaus nicht zu leugnen. Mehr als zwei Dutzend ab 1920 gedrehte Filme werden ihm als Ideengeber zugeschrieben. Heißt das nun, dass Karl Mays Bücher und die Verfilmung dieser also verboten werden sollen? Nein, überhaupt nicht. Eine Indizierung der von Kitsch und Klischees übersättigten Werke wäre nicht verfassungskonform, und ein Autodafé, das öffentliche Verbrennung unerwünschter Werke, würde zu Recht umso erbittertere Streite aufflammen lassen.

Die neue entdeckte Winnetou-Liebe fungiert als eine mikroaggressive Attacke auf das Woke-Sein. Ähnlich ist es bei der Causa Pippi Langstrumpf. Klassiker der europäischen Kultur werden gerne wieder aufgegriffen, diesmal zur Abwehr gegen die „Überfremdung“ und die „Übersensibilisierung“.

Aber was spräche wirklich dagegen, die in puncto Rassismus problematischen Stellen der Bücher beispielsweise im Rahmen des Schulunterrichtes zu kommentieren? Dafür muss man solche Stellen allerdings zuerst identifizieren, und diese Aufgabe ginge eben nicht durch den White Gaze (die Perspektive weißer Menschen). Nicht der weiße Blick, sondern die Perspektiven der BIPoC-Communitys sollten diesbezüglich ausschlaggebend sein.

Die jüngst entbrannte Debatte zur Einführung des 1951 erschienenen Romans Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen als Abi-Lektüre zeigt deutlich, wie wichtig es ist, die Beschwerden der Betroffenen zu berücksichtigen. In dem Buch kommt das N-Wort in verschiedenen Formen mehr als einhundert Male vor, häufig bei Begegnungen zwischen afroamerikanischen Soldaten und dem deutschen Bürgertum der Adenauer-Ära. Die engagierte Ulmer Lehrerin Jasmin Blunt, selbst eine Person of Color, weigert sich, das Buch im Unterricht zu verwenden. In dem Begriff erkennt Blunt eine Waffe und meint, man könne den Rassismus nicht effektiv aufarbeiten, wenn man eine rassistische Sprache ins Klassenzimmer holt.

Das sehe ich differenzierter und ja dezidierter, so nachvollziehbar Frau Blunts konsequente Haltung auch sei. Hier eine Offenbarung: Ich habe in den sozialen Medien keine „Stopp-das N-Wort“-Videos gemacht, und ich habe es auch nicht vor. Bei mir persönlich geht es nicht darum, das N-Wort aufzuzählen und zu streichen.

Ja, auch und gerade als Schwarze reagiere ich erstaunlich gelassen darauf. Das fünfstellige N-Wort steht übrigens auf meiner 1961 in den USA ausgestellten Geburtsurkunde. Race: Negro. Anno dazumal war es sogar eine geläufige Selbstbezeichnung innerhalb der afroamerikanischen Community. Sogar das sechsstellige N-Wort verwende ich mehrmals in meinem Essayband Race Relations (2022), ganz ohne Triggerwarnungen und ganz ohne Sternchen, obwohl ich dabei ausschließlich Weiße zitiere. Ich will weder mir noch anderen, ob Weißen oder Schwarzen, ob Historiker*innen, Hysteriker*innen oder Hip-Hop*erinnen – im kulturellen bzw. künstlerischen Kontext – das Wort verbieten. Gleichwohl begrüße ich ausdrücklich, dass die Verwendung des Begriffes je nach den obwaltenden Umständen beispielsweise als Beleidigung (§ 185 StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB) oder verhetzende Beleidigung (§ 192a StGB) strafrechtlich geahndet werden darf. Das ist kein Widerspruch. Denn beim Content muss es auch immer um den Kontext gehen.

Mittlerweile wurde das N-Wort seitens der betroffenen Verlage freiwillig aus den Neuausgaben von Lindgrens Werken gestrichen. Damit kann ich auch leben. Doch auch das alleine kann keine nachhaltig messbare Wirkung erzielen. Wesentlich wichtiger fände ich eine zum Beispiel im Schulunterricht stattfindende Auseinandersetzung mit der bedenklichen Anschauung, die den Werken von Lindgren weiterhin innewohnt. Somit komme ich auf den Kern meiner Rassismuskritik zurück.

Zweifelsohne war Astrid Lindgren eine erfolgreiche, einflussreiche Frau. Aber sie war weder die Schwarze Heldin Harriet Tubman (ca. 1820 – 1913) noch die weiße Dichterin und Autorin des Antisklavereiromans Onkel Toms Hütte Harriet Beecher Stowe (1811 – 1896). Letztere schrieb übrigens: „Die bittersten an Gräbern vergossenen Tränen sind die über ungesagte Worte und versäumte Taten.“ Das, was Astrid Lindgren in ihrem sehr produktiven Leben geleistet hat, kann nicht geleugnet werden. Das, was sie jedoch versäumt hat, darf nicht mehr ignoriert werden. „Es ist gefährlich, zu lange zu schweigen. Die Zunge verwelkt, wenn man sie nicht gebraucht“, so schrieb Lindgren selbst.

Zu zuckersüß, um rassistisch zu sein?

Die Abenteuer über Pippi Langstrumpf – ob als Romane oder Filme – strotzen nur so vor weißer Dominanz und kolonialistischem Gedankengut. „Ich mach‘ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.“ Dieser Ohrwurm mag harmlos klingen. Wie wäre es mit: „Ich werde einen eigenen Diener haben, der mir jeden Morgen den ganzen Körper mit Schuhcreme putzt. Damit ich genauso schwarz werde wie die anderen.“ (“Pippi Langstrumpf geht an Bord”, 1950) Niedlich, oder?

Schwarze erscheinen in Pippis Augen wie niedlich, zu beherrschende Diener*innen. Lindgren klärt diesbezüglich nicht auf. Nein, die Schöpferin von Pippi lässt sie völlig unreflektiert gewähren. Es erinnert an die White Suffragettes, die darauf bestanden, dass die mitmarschierenden Schwarzen Frauenrechtler*innen sich wortwörtlich hinten anstellen.

Das, was wir als „selbstverständlich“ ansehen, ist genau diese Doppelmoral. Lindgren und ihre Generation regten Fantasien an, an der Schwarze nur als dankbar dienende Statist*innen teilnehmen dürften. Was ist das denn, wenn nicht rassistisch? Die Doppelmoral wurde dabei nicht nur übersehen, sondern sehenden Auges begrüßt!

Gerade mittels der Figur Pippi verkörperte Lindgren die ach so putzige weiße Erretterin, die darauf bedacht war, die ihr auch weitgehend eigentlich noch fremden Welt so zu gestalten, wie es ihr gefällt. Lindgrens Literatur bereitete weiße Kinder somit hervorragend auf das Leben von damals vor, das Leben in der Vergangenheit. In einer Vergangenheit, in der Begriffe wie „Diversity“ und „demografischer Wandel“ in sämtlichen Sprachen de facto Fremdwörter waren. Mit Zukunftsvisionen hat sie sich freilich nicht sonderlich befasst. Lindgren schrieb zweifelsohne aus einer privilegierten Position: Tochter eines Pfarrhofpächters in einem Patriarchat. Ihre Kindheit beschrieb sie schwärmerisch als „glücklich“ und von „Geborgenheit und Freiheit“ geprägt. Währenddessen wurde der afrikanische Kontinent wie ein leckerer Kuchen aufgeteilt, und die Opfer, die von Weißen überfallenen und überfremdet wurden, dürften sich bestenfalls mit den Krümelchen des Kuchens begnügen. Was konnte Lindgren dafür? Eine faire Frage. Die entscheidende Frage lautet aber eher: „Was tat Lindgren dagegen?“

Im Jahr 1950, eine halbe Dekade nach der Erscheinung von Pippi Langstrumpf, erschien ebenfalls von Astrid Lindgren die Erzählung Kati in Amerika. Darin schildert sie ihre Eigenerfahrung mit einem rassistischen Taxifahrer in New Orleans, USA. Dieser befürwortete ausdrücklich das Lynchen Schwarzer Opfer. Sie war, und das nehme ich ihr sofort ab, entsetzt über die Begegnung. Aber das Entsetzen entschuldigte nicht die fehlende Sensibilisierung, wodurch der Rassismus gegebenenfalls ungewollt beziehungsweise unbewusst in ihren anderen Werken reproduziert wird. Es ist, als würde man beteuern: „Pippi ist zu zuckersüß, um Rassistin zu sein. Und ich könnte nicht rassistisch sein, denn ich bin gegen Lynchings.“

Die Frage ist, wessen Fantasien genau werden beispielsweise in Pippi Langstrumpf gefeiert? Es sind die Ich-Botschaften eines privilegierten Mädchens, das es sich erlauben kann, sich mit den alten Zöpfen der Gesellschaft gewissermaßen in die Haare zu kriegen. Wenn es eng wird, kann sich Pippi mit einem bezaubernden Lächeln wieder retten. Schlimmstenfalls würden White Tears reichen. Eine aufsässige Schwarze Dienstmagd dahingegen könnte keine weißen Tränen vergießen und wäre nicht mit einem blauen Auge davongekommen. Die Rebellin Pippi ist also leider in eine Erzählungsreihe eingebettet, die selbst rassistische Denkweisen unreflektiert reproduziert. Viele von uns in der BIPoC-Community hegen den fantasievollen Wunsch, vor solchen White Saviors wie Langstrumpf und Lindgren gefeit zu werden und eben nicht von ihnen „befreit“ zu werden.

Dieser Text entstand in Kooperation mit dem Projekt „Get The Trolls Out“

Die Berliner Kabarettistin Michaela Dudley, eine trans* Frau und Queerfeministin mit afroamerikanischen Wurzeln, verkörpert die Vielfalt am eigenen Leibe.
Die Berliner Kabarettistin Michaela Dudley, eine trans* Frau und Queerfeministin mit afroamerikanischen Wurzeln, verkörpert die Vielfalt am eigenen Leibe.

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