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Rezension „Mein Name ist Ausländer“

Semra Ertan hat im Laufe ihres jungen Lebens über 350 Gedichte geschrieben. Sie wollte eines Tages einen eigenen Gedichtband veröffentlichen. Aber im Mai 1982, im Alter von 25 Jahren, konnte sie den wachsenden Rassismus in Deutschland nicht mehr ertragen. Nun, fast 40 Jahre nach ihrem Tod, ist ein bewegender Gedichtband erschienen.

 

Seelenruhe,
Ist das, wenn das Herz ruht?
Unruhe,
Ist das, wenn das Herz rebelliert?
(S. 172)

Das sind wenige Worte eines Gedichts, eines Gedichts aus über 350 Gedichten, die Semra Ertan im Laufe ihres Lebens schrieb. Das Schreiben, das sie schon mit 15 Jahren begann, war ihre Leidenschaft. Ihre Gedichte zeichnen sich durch ihre thematische Vielfalt aus: Sie schrieb über Arbeit und Armut, Ein- und Zweisamkeit, Familie und Familiengeschichte, Identität und innere Zerrissenheit, Selbstbestimmung und Widerständigkeit. Mehr noch: über Emotionen und Gefühle und über ihren Wunsch nach einer besseren und menschlicheren Gesellschaft. Sie war, dies zeigen die Gedichte eindrücklich, ein nachdenklicher Mensch, der lange und viel über die Blüte des Lebens und über die Licht- und Schattenseiten des Lebens sinnierte. Was macht das Leben aus? Warum leben wir?

Semra Ertan wurde 1957 in Mersin (Türkei) geboren und zog Anfang der 1970er-Jahre zu ihren Eltern nach Deutschland, die als Arbeitsmigrant*innen in Kiel lebten. Sie, eine arabischsprachige Alevitin, wurde sowohl in Deutschland als auch in der Türkei diskriminiert. Aus Protest gegen den zunehmenden Rassismus in Deutschland hat sie sich in den frühen Morgenstunden des 24. Mai 1982 an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße, Detlef-Bremer-Straße im Hamburger Stadtteil St. Pauli öffentlich verbrannt. Die Erklärung, die Ertan zuvor abgegeben hatte, schloss mit ihrem Gedicht „Mein Name ist Ausländer“. Es beginnt mit den Worten:

Mein Name ist Ausländer,
Ich arbeite hier,
Ich weiß, wie ich arbeite,
Ob die Deutschen es auch wissen?
Meine Arbeit ist schwer,
Meine Arbeit ist schmutzig.
Das gefällt mir nicht, sage ich.
„Wenn dir die Arbeit nicht gefällt
Geh in deine Heimat“, sagen sie.
(S. 176)

Semra Ertan hatte den Traum, eines Tages einen eigenen Gedichtband zu veröffentlichen. Ihre Gedichte sind ein Lebenswerk, das die Widerständigkeit von Arbeitsmigrant*innen in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren dokumentiert. Nun haben ihre Schwester Zühal Bilir-Meier und ihre Nichte Cana Bilir-Meier einen bewegenden Gedichtband veröffentlicht. Die beiden Herausgeberinnen machen die Gedichte sowie einzelne Briefe und Fotografien zugänglich, die, wie sie im Vorwort schreiben, „seit fast vier Jahrzehnten in einer Kiste verschlossen waren“ (S. 6). Der Band ist zweisprachig, da die Gedichte teils in deutscher, teils in türkischer Sprache verfasst wurden. Die ausgewählten Materialien machen den Band zum authentischen Gesamtwerk.

Cana und Zühal Bilir-Meier, die 2018 gemeinsam mit Verwandten und Freund*innen eine Gedenkinitiative gründeten, um an den Tod Semra Ertans zu erinnern, fordern eine Gedenktafel und die Umbenennung der Straße bzw. eines Platzes nach der Schriftstellerin. Es bleibt zu hoffen, dass die Forderungen erfüllt werden – und dass ein besonderer Wunsch in Erfüllung geht: Die Gedichte sollen in Schulen gelesen werden.

Wofür leben die Menschen?
Für die Arbeit,
Die Liebe,
Die Bildung?
Wofür lebst du?
Etwa, um zu leben
Oder um gelebt zu haben?
(S. 182)

 

Der Gedichtband „Mein Name ist Ausländer“ von Semra Ertan, herausgegeben von Cana und Zühal Bilir-Meier, ist Ende 2020 in der edition assemblage erschienen und kostet 18 Euro.

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