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Rezension „Mein Vaterland“ von Christian Weißgerber

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In seinem Buch „Mein Vaterland!“ beschreibt Weißgerber eindrücklich seine Zeit in der Neonazi-Szene bis hin zu seinem Ausstieg. Er inszeniert sich indes nicht als Opfer ungünstiger Lebensumstände und beschreibt sich auch nicht als von Kadern verführt.  Seine Entscheidung, Nazi zu werden,  verschleiert oder relativiert er nicht. Weißgerber suchte selbst Kontakt zur Szene: „Ich hatte unzählige andere Möglichkeiten, aber ich wollte Nazi werden.“ 2006 bis 2010 war er vor allem in Thüringen bei den Autonomen Nationalist*innen, aktiv. Seinen Ausstieg beschreibt er als schleichenden Prozess. Ein eindeutig auszumachendes Ereignis habe es dafür nicht gegeben, ausschlaggebend scheint allerdings seine Zeit in Jena, in der er größeren Repressionen und Anfeindungen ausgesetzt war. Auch (online) Kontakte in die linke Szene im Zuge seiner Querfront-Bestrebungen, sowie der Kontakt zu Kommiliton*innen ließen ihn an seiner Ideologie zweifeln.

Weißgerber geht auf verschiedene Eckpunkte seiner Biografie ein, die ihn auf seinem Weg begleiteten. Zunächst berichtet er dabei von seiner schwierigen Kindheit in einer zerrissenen Familie unter der Herrschaft seines gewalttätigen und autoritären Vaters. Als Jugendlicher hat er erste Kontakten zur rechtsextremen Szene, und versucht die eigene  „soldatische“ Männlichkeit zu entwickeln, dabei grenzt er sich zunhemend von seiner Famile ab.

Musik war ein wichtiges Element seiner Radikalisierung. Selbst war er Teil von Bands oder trat solo als Liedermacher auf.. Auch der Dienst bei der Bundeswehr gehört für Weißgerber zur prägenden Zeit. Er beschreibt, inwieweit rechtsextreme Ansichten innerhalb der Strukturen akzeptiert sind und wie wenig Konsequenzen auf sein Gebaren folgte. Zu siebt war Weißgerber auf einer Stube. Davon waren drei Kameraden „neutral“, der Rest rechts oder zumindest antisemitisch eingestellt. Nach seiner Zeit bei der Armee begab er sich in eine von ihm als „freies nationales Jahr“ betitelte Auszeit, in der er sich auf Aktionismus konzentrierte, bevor er dann sein Studium der Philosophie sowie der Sprechwissenschaften und Phonetik in Jena aufnahm. In dieser Zeit begann er zu zweifeln und leitete seinen Ausstieg ein. Dabei beschreibt er den ersten Schritt zunächst als Rückzug, um sich vor staatlichen Repressionen zu schützen. Erst im Laufe der Zeit distanzierte er sich inhaltlich und brach persönliche Verbindungen ab.

Weißgerber beschreibt präzise und in eindrücklicher Sprache Demonstrationen, Aktionen und Konzerte. Dabei bekommt die Leser*innenschaft den Eindruck eines reflektierten jungen Mannes, welcher geradezu unpassend in der Rolle eines Nazis wirkt. Die Gewichtung der inhaltlichen Schwerpunkte ist allerdings unausgeglichen. Während einige ausschweifende Partys detailliert beschrieben werden, bleibenbei anderen Passagen viele Fragen offen. Dennoch ist ein roter Faden gespannt, der bis zum heutigen politischen Rechtsruck verläuft. Weißgerber warnt in einem Abschlusskapitel eindringlich vor der sogenannten „neuen“ Rechten und dem Aufkommen rechtspopulistischer Kräfte. Er plädiert für Gegenstrategien, um dem erstarkenden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus entgegenzutreten. Dabei kritisiert er sowohl den Rechtsruck als auch die schleichende Diskursverschiebung durch rechte Gruppierungen. Als Aussteiger warnt er vor der Szene und versucht die Leser*innenschaft als Verbündete im Kampf gegen rechte Kräfte zu gewinnen.

Auffällig ist, dass trotz Weißgerbers reflektierten Darstellung keine dezidierte Auseinandersetzung mit rechtsextremer Ideologie stattfindet. Die Auseinandersetzung mit seinem rechten Gedankengut ist dabei in einen allgemeineren Rahmen gefasst und verrät kaum etwas über seine persönlichen Überzeugungen. Auch der Wendepunkt hin zum Ausstieg bleibt relativ unerklärt und nimmt geringen Raum ein. Als Grund wird Enttäuschung angeführt und ein schleichender Rückzug beschrieben. Eine Einsicht, dass seine vorherigen Ideen falsch waren, findet in diesem Zusammenhang nicht statt, lässt sich jedoch in zahlreichen Interviews nachlesen.

Liest man das Werk aus einer geschlechtersensiblen Perspektive, findet diese Kategorie immerhin Erwähnung: keine Selbstverständlichkeit. Dennoch bleibt der Aspekt unterbeleuchtet und wird nur in wenigen Nebensätzen abgehandelt. Kritisch sieht Weißgerber beispielsweise das Ideal der körperlichen Stählung sowie das traditionelle Rollenbild innerhalb der Szene. Er beschreibt den Konflikt, seine Partnerin solle unbefleckte Jungfrau und Bezugspunkt seiner sexuellen Wünsche zugleich sein. Frauen gehörten in der Szene nicht an die Front, sondern sollen vor allem häusliche Aufgaben erfüllen oder als Werbung oder Verharmlosung dienen. Weißgerber beschreibt die Verbreitung toxischer Männlichkeit in der extremen Rechten und kritisiert den fehlenden Fokus auf Geschlecht von Ausstiegsorganisationen. Weißgerber legt offen, dass ihm eine Auseinandersetzung mit hegemonialer Männlichkeit geholfen habe, Machtstrukturen zu reflektieren und die eigene autoritäre Persönlichkeit zu hinterfragen.

Insgesamt ist das Buch eine lesenswerte und reflektierte Autobiografie. Der Autor ordnet sein Handeln und seine Ansichten in einen größeren Kontext ein und bietet einen guten und kenntnisreichen Einblick in die Szene und deren Inhalte. Jedoch findet die Reflektion nur manchmal und an einigen Stellen intensiv statt.

Mein Vaterland! ist im Orell-Füssli-Verlag erschienen (ISBN: 978-3-280-05696-7) und kostet 18 Euro.

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